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Die Ich-Erzählerin macht sich mit ihrem Vater auf den Weg, um ihre Halbschwester aufzusuchen. Sie finden Marie in einem abseits gelegenen Haus, irgendwo im Süden. Außer ihr befinden sich ihr jüngerer Bruder Fabian, eine Frau namens Lo und eine zwielichtige Figur namens Jakob dort. Nur bruchstückhaft enthüllen sich die Konstellationen. Demnach scheint Lo die frühere Geliebte des Vaters und Maries Mutter, Jakob dessen Nachfolger und Fabians Vater zu sein. An die Stelle traditioneller Familienstrukturen ist ein Beziehungsgeflecht getreten, dessen Hauptmerkmal inzestuöse Vater-Tochter-Beziehungen sind.
Der Verschwommenheit aller Beziehungen entspricht der schwebende Wirklichkeitscharakter des Erzählten. Traumartig entwickelt sich ein Netz aus seltsamen Begebenheiten und Eindrücken, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Lähmende Hitze wölbt sich wie eine Dunstglocke über die Umgebung, die Müdigkeit wird zur vorherrschenden Empfindung der Erzählerin, allenthalben wird sie mit Bildern von Verwesung und Tod konfrontiert. Die Seltsamkeiten steigern sich, als nacheinander Lo, der Vater und Marie verschwinden und sie fürchten muß, das nächste Opfer zu sein.
Mit großer Suggestivität gelingt es Nora Bossong in ihrem literarischen Debüt, eine düster-bedrückende Atmosphäre zu erzeugen und Albträume ins Leben zu spinnen, deren Realitätsgehalt undeutlich bleibt. "Gegend" ist der richtige Titel für ihre Konzentration auf ein eng begrenztes, ödes Grundstück, dessen wenige Gegebenheiten sie variations- und anspielungsreich durchdekliniert und das zunehmend zur unentrinnbaren Falle wird. "Gegend" steht in seiner Schlichtheit aber auch für ihren unpathetischen, leisen Erzählton ein, der Wert auf genaue Beobachtungen und atmosphärische Details statt auf dramatische Höhepunkte und effektvolle Inszenierungen legt. Hier meldet sich eine Erzählerin zu Wort, die über eine betörend stimmungsvolle, verstörende Prosa verfügt, die an traumartig-preziöse Texte des Fin de siècle ebenso gemahnt wie an manches Kunstmärchen der Romantik. Ob sich das aber auch zu einem stimmigen Gesamtbild fügt, bleibt zweifelhaft.
Zwei Spuren zu ihrer Romanwelt hat Bossong selbst gelegt. Die eine führt ins Alte Testament, zu Abrahams Neffen Lot, die andere zu Poe. Der Vernichtung Sodoms und Gomorrhas entgangen, zieht sich Lot mit seinen beiden Töchtern in eine Höhle zurück. Ohne Mutter, die als Strafe für ihre Neugier zu einer Salzsäule erstarrt ist, ohne Aussicht auf einen Freier in dieser Einsamkeit, machen Lots Töchter ihren Vater betrunken und schlafen mit ihm. Steht diese Geschichte für die inzestuösen Phantasien und Verwicklungen ein, so Poes "Bericht des Arthur Gordon Pym" für die albtraumhaften Züge, die Motive von Wildheit, Bedrohung und Tod. Beiden Subtexten erweist Bossong bis in Details Reverenz. So wird ein toter Vogel wie jene Stadt, in die Lot zunächst geflohen war, Zoar benannt; Jakob singt wie die Wilden in Poes Roman die Laute "Tekelili" vor sich hin.
Dies mag mit all den anderen Symbolen, Chiffren und Anspielungen, den zahllosen Masken, Spiegeln und Träumen einerseits ein dichtes, reizvolles Motivnetz ergeben, wirkt andererseits aber auch überladen, übercodiert. Vor allem will sich das doch recht banale Substrat nicht ganz zu dieser Rätselhaftigkeit fügen, trägt der Inhalt nicht den Erzählton. Gegen Ende gibt es eine in ihrer allegorischen Aufdringlichkeit verräterische Szene: Die Erzählerin blickt hier in einen von ihr bislang unbeachteten Wohnwagen auf dem Grundstück und sieht den Vater und Lo in Eintracht nebeneinandersitzen: "Das Paradies aus einer Kinderzeichnung." Was bleibt, ist die Flucht aus dieser Welt, in die es scheinbar kein Zurück gibt. Ein Schritt in die Selbständigkeit.
THOMAS MEISSNER
Nora Bossong: "Gegend". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 128 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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