Das vielzitierte Musikalische in Jean Pauls Dichtung - seit 200 Jahren einer der wichtigsten Rezeptionstopoi in der Jean-Paul-Forschung, aber niemals überzeugend rekonstruiert - wird in dieser Arbeit in den Landschaften identifiziert und erstmals systematisch dargestellt.
Im ersten Teil ordnet Julia Cloot zunächst Jean Paul in die Kunstästhetik des späten 18. Jahrhunderts genauer ein, während sie im zweiten Teil die als musikalisch empfundenen Erscheinungen im Erzähltext aufspürt und deutet. Dabei geht sie von zwei Thesen aus: zum einen erweisen sich die musikästhetischen Diskurse der Zeit um 1800 als Prätexte für Jean Pauls Romanschaffen, d. h. als geheime Texte, die den Suggestionen erklingender Musik zu unterlegen sind; zum anderen macht Musik in den Romanen Jean Pauls nicht nur die erzählte Zeit als solche erfahrbar, sondern spannt auch imaginäre Räume zwischen den Polen von Nähe und Ferne auf.
Damit beschränkt sich Julia Cloot nicht nur auf die Analyse der Erzähltechnik, sondern sie untersucht die Wechselwirkung zwischen Musik und Sprache im Werk Jean Pauls.
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Mit hundert Argus-Ohren: Jean Paul und die Musik
"Geistes-Konzerte" hat 1797 ein anonymer Rezensent Jean Pauls Romane genannt. Und Wilhelm Dilthey urteilt aus der Rückschau: "Er ist der musikalische Dichter dieses Zeitalters." Kein Wunder, daß die Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts von Schumann über Wagner bis Mahler von seinen Romanen in besonderem Maße fasziniert waren. Wagnerianer sehen in ihm gern den Propheten ihres Meisters, hatte er doch in seinem Vorwort zu E. T. A. Hoffmanns "Phantasiestücken in Callots Manier" - ausgerechnet in Wagners Geburtsjahr 1813 und zu allem Überfluß auch noch in Bayreuth - geschrieben, "daß wir noch bis auf diese Stunde des Mannes harren, der eine echte Oper zugleich dichtete und setzte". Wagner kannte diese Prophezeiung und hat seines Bayreuther Vorläufers dankbar gedacht, während der Wagner-Hasser Alfred Kerr 1911 ins Gästebuch von Jean Pauls Rollwenzelei zu Bayreuth schrieb: "Vergessen dich die Deutschen heut: / du bist der Meister von Bayreuth."
Der Topos des "musikalischen Dichters" hat in der Jean-Paul-Literatur zu so manchen schöngeistig-paraphrasierenden Interpretationen seines Stils geführt. Davon unterscheidet sich die neue Untersuchung von Julia Cloot wohltuend. Zu den erfreulichsten Erscheinungen der sich mehr und mehr interdisziplinär ausdehnenden Germanistik gehört die wachsende Zahl von Büchern und Aufsätzen zur Wechselwirkung von Dichtung und Musik, die von hoher Professionalität in beiden Disziplinen zeugen. Zu ihnen gesellt sich auch die vorliegende Monographie.
Carl Dahlhaus und Norbert Miller haben Jean Paul mit der Idee der absoluten Musik in Verbindung gebracht, die in der romantischen Musikästhetik gründet und den epochalen Paradigmawechsel von der bis dahin den Primat behauptenden Vokal- zur Instrumentalmusik zur Folge hat. Die "Metaphysik der Instrumentalmusik" (Dahlhaus) führt zu Transzendenzerlebnissen, die Struktur und Gehalt des spätempfindsam-frühromantischen Romans eingeschrieben sind. Musikästhetik ereignet sich bei Jean Paul im und als Roman. Der Sprache der Töne - und zwar gerade nicht der wortgezeugten der Vokalmusik, sondern der textlosen der reinen Instrumentalmusik - kommt nun ein höherer Ausdruckswert zu als der Wortsprache. Man darf von einer Geburt der Ästhetik der absoluten Musik aus dem Geiste des literarischen Unsagbarkeitstopos reden. Zugleich löst die Musik die Malerei als Vorbild der Dichtung ab: statt der von Lessing in seinem "Laokoon" für obsolet erklärten Maxime "ut pictura poesis" heißt es nun mit größerem Recht: "ut musica poesis".
Als musikalischer Dichter wurde Jean Paul von jeher dem Plastiker Goethe gegenübergestellt, nicht zuletzt inspiriert durch seine eigene typologische Unterscheidung beider Dichtungsweisen. Obwohl er mit der Musiktheorie seiner Zeit bestens vertraut war, hat er selber eine Musikästhetik nur in aphoristischen Ansätzen entwickelt. Seine Begründung: "Ich habe mehr Ohr, ja mehr nur Herz als Zunge für die Musik; und in die theoretische Kirchenversammlung einer h. Cäcilia könnt' ich mich nur als Zuhörer, nicht als Mitsprecher wagen."
Freilich, was sein Klavierspiel betrifft, befleißigte er sich solcher Bescheidenheit durchaus nicht, sondern trat gerne als Improvisator im Freundeskreise, sogar bei Hofe auf - und wurde von den Zeitgenossen wiederholt mit dem am Klavier phantasierenden Beethoven verglichen. "Sein Spiel machte den tiefsten Eindruck", berichtet August Lewald, auch wenn seine Hörer manchmal befürchteten, er könnte mit seinem musikalischen Donnerwetter das zu dieser Zeit noch so zierliche Klavier zertrümmern. "Man hat schon oftmals auf die Ähnlichkeit Beethovens und Jean Pauls hingewiesen; ich habe sie beide gekannt und gefunden, daß sie selbst bis auf ihr Äußeres sich erstreckte. In Jean Pauls musikalischen Phantasien wurde seine Verwandtschaft mit Beethoven aber erst recht deutlich." Adam Oehlenschläger nennt den improvisierenden Beethoven gar einen "musikalischen Jean Paul". Wagner hat den Stil von Beethovens Spätwerken aus dem Geiste seiner Klavierphantasien gedeutet und sie als fixierte Improvisationen bezeichnet. Jean Pauls Romane ließen sich ähnlich charakterisieren.
Der Autor war ein ausgeprägter Ohrenmensch. "Der Tonkunst war meine Seele immer aufgetan, und sie hatte für sie hundert Argus-Ohren." Das zeigt sich besonders in seinen Landschaftsschilderungen, die gleichsam in Naturbildern erlebte Musik sind. Sie entfalten sich weniger gegenständlich im Raum als seelenzuständlich in der Zeit, sind im wörtlichen Sinne durch einen "Ton", eine "Stimmung" zur Einheit gebildet. Naturgegenstände offenbaren sich als zeichenhafte Manifestationen von Seelenregungen, Außenwelt als Innenwelt. In der Poesie soll dergestalt nach Jean Pauls Worten "das Reich des Unendlichen über der Brandstätte des Endlichen" aufblühen - auf den Spuren der Musik.
Die Musikalisierung der Bildlichkeit in Jean Pauls Romanen erklärt vielfach ihre semantische Unentschlüsselbarkeit. "Sie bedeutet nur sich und verkörpert damit den Mythos einer Instrumentalmusik, die auch nur auf sich selbst verweist." So Julia Cloot, deren detaillierte Ausführungen über das "Dreiecksverhältnis zwischen Landschaft, Seele und Musik" zum Aufschlußreichsten in der neueren Literatur zu diesem Autor gehören. Recht jean-paulisch gliedert sie ihr Buch in zwei Vorkapitel und zwei Hauptteile, deren erster den theoretischen Aspekten ihres Themas gewidmet ist und deren zweiter subtile Modellinterpretationen der "Unsichtbaren Loge", des "Hesperus", des "Titan" und der "Flegeljahre" enthält.
Die Kunst der Philologie feiert da ein wahres Fest; schade, daß angesichts des prohibitiven Ladenpreises nur wenige an diesem Fest teilnehmen können. Die Kapitelüberschrift "Musik als dichterische Vision" ließe sich über die ganze Monographie setzen. Und was Thomas Mann von seinen Romanen gesagt hat, könnte mit beinahe größerem Recht Jean Paul geschrieben haben: "Ja, meine Kunstarbeiten, urteilt darüber, wie ihr wollt und müßt, aber gute Partituren waren sie immer."
DIETER BORCHMEYER
Julia Cloot: "Geheime Texte". Jean Paul und die Musik. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2001. 346 S., geb., 168,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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