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Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.

Produktbeschreibung
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind.

Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.

Autorenporträt
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u. a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2015

Wir werden sichtbar

Jenny Erpenbeck hat einen brandaktuellen Tatsachenroman zur Lage der afrikanischen Flüchtlinge in Berlin geschrieben. Dabei ist "Gehen, ging, gegangen" kein Aufruf zur Weltverbesserung.

Der Berliner Senat bezahlt den Deutschunterricht auch für die Flüchtlinge, die nur geduldet sind und bald abgeschoben werden sollen, ja sogar für die, die nicht einmal geduldet sind, also rechtlich eigentlich gar nicht vorhanden. Da lernen sie dann das unregelmäßige Verb "gehen", Grimms Wörterbuch zufolge "ein nach Form und Gehalt überaus reich entwickeltes Wort, dessen erschöpfende Behandlung ein Werk für sich wäre". Die Konjugation enthält das ganze raumzeitliche Vorstellungsvermögen, und so erkennen auch die afrikanischen Flüchtlinge im Verb der Bewegung bald ihr eigenes Schicksal wieder. Durch die Wüste sind sie gegangen, einen langen Weg über viele Grenzen von einem vorläufigen Ort zum anderen, und nun werden sie bald wieder gehen.

Richard, kürzlich pensionierter Professor für alte Sprachen, hadert mit der Zeit. "Vergehen soll sie, aber auch nicht vergehen." Seine Frau ist gestorben, seine Geliebte hat ihn verlassen. Kinder hat er nicht, so lebt er allein in seinem Haus vor den Toren Berlins, das ihm mit viel Glück aus DDR-Zeiten verblieben ist. Denen trauert er nicht nach, er hatte sich zwar arrangiert, galt aber ausweislich seiner Stasi-Akte als politisch unzuverlässig und untauglich für eine inoffizielle Mitarbeit. Für Politik hat er sich auch als Bürger der Bundesrepublik nicht sonderlich interessiert, er ist auch kein besonders moralischer Mensch, doch denkt er in der Tradition der Philosophen der Antike darüber nach, wie es denn mit "dem wirklich Richtigen" bestellt sei.

Unterwegs zum Einkaufen in Berlin kommt er an einer Demonstration auf dem Oranienplatz vorbei, mit der afrikanische Flüchtlinge, die sich weigern, ihre Identität preiszugeben, bei ihrem Hungerstreik unterstützt werden sollen. "We become visible" lautet das Motto. Die Bilder sieht er beim Abendbrot im Fernsehen und wundert sich, dass er nichts gesehen hat, als er am Schauplatz vorbeiging. Doch scheinen ihm solche Bilder beliebig, die Erzählung dahinter kann er nicht erkennen. Die Beendigung des Streiks bedauert er aber, denn die "Idee, sichtbar zu werden, indem man öffentlich nicht sagt, wer man ist, hatte ihm gefallen". Es erinnerte ihn an Odysseus, der dem Zyklopen entrann, weil er sich als "Niemand" ausgab.

Langsam erwacht ein Interesse, so geht er zum Oranienplatz und schaut sich ein Protestcamp der Flüchtlinge an, das aufgrund einer windigen Vereinbarung mit dem Senat gerade abgebaut wird. Unversehens wird ein Projekt aus seinem undefinierten Interesse, doch wird ihm schnell klar, wie wenig er weiß. Nicht einmal die Hauptstädte der afrikanischen Staaten weiß er zu benennen. Er möchte erforschen, was die Flüchtlinge denken, zugleich aber, was ihn selbst beschäftigt, was Zeit bedeutet, die er nun im Überfluss hat. Daher verfällt er auf die Idee, dass man dazu am besten mit denen spricht, "die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will." So stellt er sich einen Fragenkatalog zusammen, wie es empirische Forschung erfordert, und sucht die Afrikaner vom Oranienplatz in ihrer Notunterkunft auf.

Die Flüchtlinge antworten erstaunlich bereitwillig auf seine Fragen. Wenn jemand irgendwo ankommen wolle, dürfe er nichts verbergen, sagt Awad. Er wurde in Ghana geboren, seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Seine Großmutter hat ihn aufgezogen. Mit seinem Vater ist er dann nach Libyen gegangen. Beide hatten Arbeit in Tripolis. "Es war ein gutes Leben." Dann wurde der Vater erschossen, die Wohnung verwüstet. Während Awad noch hilflos auf der Straße stand, kam eine Militärstreife, die ihn und andere Schwarzafrikaner aufgriff und ihnen alles wegnahm. Wie um ihr Gedächtnis zu vernichten, wurden die Sim-Karten ihrer Telefone vor ihren Augen zerbrochen. Während noch die europäischen Bomben fielen, wurden sie auf ein Boot getrieben. Auf der Überfahrt nach Sizilien starben viele. Mit dem in einer Küche verdienten Geld buchte Awad einen Flug nach Berlin. Vom Flughafen aus leiteten ihn andere Flüchtlinge direkt auf den Oranienplatz. Als er die Zelte sieht, fängt er an zu weinen, er hat noch nie in einem Zelt übernachtet. Doch bekommt er einen Platz zum Schlafen und zu essen. Wenn man ein Fremder geworden ist, sagt er, hat man keine Wahl. Den Oranienplatz will er gleichwohl in Ehren halten als einen Ort, an dem man ihn aufgenommen hat.

Aus den Geschichten, die Richard hört und abends aufschreibt, ergeben sich weitere Fragen. Diese Männer wollen alle arbeiten, warum dürfen sie es nicht? Und warum werden sie nicht nach ihren Geschichten gefragt und entsprechend als Kriegsopfer behandelt? Nach der Lektüre der europäischen Verordnung "Dublin II" versteht er, dass diese Geschichten hier gar nicht gefragt sind. Zuständig ist das europäische Land, das die Flüchtlinge zum ersten Mal betreten haben. In Awads Fall Italien. Alle Länder, die keine Mittelmeerküste haben, sind also für diese Geschichten nicht zuständig. Italien lässt die Flüchtlinge gern gehen, aber ankommen dürfen sie nirgends, denkt Richard. Er versucht, sich vorzustellen, wie sich das anhört, wenn man solche Gesetze auf Arabisch erklärt. Nicht nur Richard denkt, auch die Flüchtlinge. "Wir denken und denken, weil wir nicht wissen, was wird."

Vieles in den Geschichten versteht Richard nicht auf Anhieb, aber immer erneutes Fragen hilft. Zunehmend aber sind es Richards neue Freunde, die Fragen stellen. Warum hat er sich denn entschieden, keine Kinder zu haben? Das können die Afrikaner nicht verstehen. Das trifft einen wunden Punkt, und beinahe kann Richard es im Rückblick auch nicht mehr verstehen. Dass man Menschen mit einer Mauer gehindert hat zu gehen, findet Rufu kurios. Ebenso, dass man einen Pass bekam, wenn man es dennoch geschafft hatte. "Es waren alles Brüder und Schwestern?", fragt Rufu.

Ein Freund von ihm hatte den Zaun von Melilla überwunden, wurde aber gleich wieder nach Marokko zurückgeschickt. Da weiß Richard nicht mehr weiter. In deutsch-deutschen Fragen scheitert also die Kommunikation. Besser funktioniert deutscher Gesang. In seinem Auto stimmt Richard die Weise an: "Hab' mein Wagen voll geladen, voll mit Afrikanern!" Da johlen und klatschen alle. Eigentlich ist ja in dem Lied von jungen Weibern die Rede, "aber was die Silbenzahl angeht, sind die Afrikaner perfekt", findet der Altphilologe.

Wie Verständnis und Unverständnis ineinanderpassen, zeigt sich in einer beinahe komödiantischen Szene von Jenny Erpenbecks Roman, in der Richard den langen Ithemba zu seinem Anwalt begleitet, um die Abschiebung zu verhindern. Ithemba ist durch die Hölle gegangen, aber angesichts der vielen Akten ergreift ihn Furcht. "Papier kann man nicht essen", sagt er. Der Anwalt mit klassischer Bildung, der einem Uhu ähnelt, aber scherzt, man esse Papier in Deutschland, womit er unter anderem meint, "dass die Ausländerbehörde die italienischen Papiere der afrikanischen Flüchtlinge einbehält, um sie zur Ausreise zu zwingen". Das dürfen die gar nicht, ruft der Uhu aus. Illegal sind die Flüchtlinge hier, aber die Behörden und die europäischen Staaten handeln noch großzügiger wider Recht und Vereinbarung. Die die Überquerung des Mittelmeers überlebt haben, müssen nun "in Meeren aus Akten ertrinken", denkt Richard.

Er lernt die wenig feinen Unterschiede in der Verwaltung von Flüchtlingen kennen. Seine Freunde vom Oranienplatz, erfährt Richard beim Anwalt, haben nicht einmal eine Duldung, "und selbst wenn sie eine hätten: So eine Duldung ist kein Aufenthaltsstatus." Sondern lediglich "eine Aussetzung der Abschiebung". Die Anwesenheit der Afrikaner ist also dadurch definiert, dass sie gehen müssen. Der junge Tuareg, den Richard zuerst befragt, interpretiert das stolz als Freiheit: "wenn ich gehen muss, kann ich gehen".

"Wir haben nichts zu verschenken", sagt das Gesetz und sagen die Leute, "die afrikanischen Probleme müssen in Afrika gelöst werden." Bei den Germanen war das anders, sagt der Anwalt und rezitiert Tacitus: "Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein." Das hatte der Altphilologe früher nur gelesen, nun deutet er es praktisch. Er quartiert einige der Männer bei sich ein und veranlasst seine Freunde, ein Gleiches zu tun. Aus seiner Perspektive ist das weniger ein Werk der Barmherzigkeit, vielmehr ein Versuch, an der Stelle, an der man ist, das Rechte zu tun, anstatt die Verbesserung der Welt nur zu fordern.

Jenny Erpenbecks gründlich recherchierter Tatsachenroman erscheint an der Schwelle einer dramatischen Ausweitung des Flüchtlingsproblems wie der politischen Auseinandersetzung damit. Das könnte Missverständnisse erzeugen. Es handelt sich nämlich nicht um einen flammenden Aufruf zur Weltverbesserung, sondern um eine Geschichte aus individuellen Geschichten, eine erzählerische Konstruktion symbolischer Zuständigkeit für das Erleben und Erleiden der Flüchtlinge, die in der Wirklichkeit der Flüchtlingsverwaltung nicht gegeben ist.

Obwohl diese Geschichten sehr bewegend sind, appelliert "Gehen, ging, gegangen" nicht vordergründig an das Mitleid des Lesers. Vielmehr bringt dieser Roman sehr reflektiert und durchaus unterhaltsam die Literatur als Medium des Verstehens zur Geltung, in dem sich das Fremde und das Eigene als zwei Seiten eines Zusammenhangs erweisen. Oder wie der Anwalt die alten Römer zu zitieren pflegt: "Wenn das Haus deines Nachbarn brennt, geht es auch dich an."

FRIEDMAR APEL

Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen". Roman.

Knaus Verlag, München 2015. 352 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2015

Ein Stückchen Acker in Ghana
Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis gebracht –
mit einer literarischen Rettung des abgeräumten Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg
VON JÖRG MAGENAU
Brave Literatur macht genau das, was die Kritik von ihr verlangt. Sie packt aktuelle Themen an, die sogenannten heißen Eisen, um damit gewissermaßen aufs saisonale Debattenkarussell aufzuspringen. Das Thema der Saison ist sicherlich die Flüchtlingsproblematik, und wenn dazu nun auch schon die zugehörigen Romane in die Buchhandlungen gelangen, ist ein gewisses Misstrauen angebracht. Jenny Erpenbeck hat mit „Gehen, ging, gegangen“, den Roman der Saison geschrieben, auch wenn Merle Kröger mit dem Mittelmeer-Flüchtlings-Thriller „Havarie“ noch ein bisschen schneller gewesen ist. Erpenbeck ist dafür näher dran an der deutschen Wirklichkeit, an den Flüchtlingsheimen, dem Misstrauen, das den Flüchtlingen entgegenschlägt und all den Auseinandersetzungen um Bleiberecht und Arbeitsmöglichkeiten. Und wer wissen will, wie es Flüchtlingen hierzulande ergehen kann, dem sei dieses Buch als Sachkunde durchaus empfohlen.
  Nur: Wie macht man daraus einen Roman? Erpenbeck erfindet sich eine Figur, die als Stellvertreter funktioniert und ihre eigenen Recherchen „erlebt“. Dieser Richard ist emeritierter Altphilologe mit DDR-Biografie, seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben, die langjährige Geliebte hat ihn betrogen und verlassen, im See vor seinem Haus ist ein Mann ertrunken, dessen Leiche unentdeckt blieb, so dass Richard sich in diesem Sommer scheut, schwimmen zu gehen. Bleiben also viel freie Zeit und das Bedürfnis, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben.
  Aus dieser Gefühlslage entsteht seine Neugierde gegenüber den Flüchtlingen, die in Berlin-Kreuzberg auf dem Oranienplatz campieren und für ihr Bleiben demonstrieren. Er beobachtet, wie das Camp nach einem Jahr und endlosem politischen Hin und Her geräumt wird und besucht die Männer – ja, alles Männer – dann in dem Heim am Ostrand der Stadt, in dem sie vorübergehend untergebracht werden. Er gibt ihnen Deutschunterricht, freundet sich mit einzelnen an, lädt einen jungen Mann zu sich nach Hause ein, um ihm das Klavierspielen zu ermöglichen, kauft einem anderen für seine Familie in Ghana ein Stückchen Acker, erlebt, wie sie alle weiter verschoben werden, erst nach Spandau und dann zurück nach Italien oder an die Orte, an denen sie sich jeweils zuerst gemeldet hatten.
  Eingestreut sind die Geschichten, die er sich erzählen lässt und mit dem Tonband aufzeichnet, Geschichten von Massakern und Kriegen in den Heimatländern, vom Verlust der Familien, von Toten und von Armut, Geschichten auch vom Sterben und Kämpfen auf den Booten im Mittelmeer. Es handelt sich um eine Art Umkehrung der „Flüchtlingsgespräche“ von Bertolt Brecht, bei dem es ja die aus Deutschland Vertriebenen waren, die sich im Exil begegneten. Hier sind es die, die nach Deutschland geflohen sind, die aber keine Gegenwart und keine Zukunft finden können.
  Richard – oder vielmehr Jenny Erpenbeck auf dem Umweg über ihre Figur – macht aus den Flüchtlingen geradezu mythische Figuren, die „Olympier“ oder „Blitzeschleuderer“ oder „Tristan“ genannt werden. Richard nimmt auch die mythische Vorgeschichte Nordafrikas als Geburtsort der griechischen Götter in den Blick, rückt das aktuelle Geschehen in einen großen historischen Horizont und fragt: „In welchen Zeiträumen muss man denken, wenn man wissen will, was Fortschritt genannt werden kann?“ Überhöhung und eine gewisse Verklärung der Flüchtlinge dienen als literarische Strategie, die der politischen Ignoranz und dem vorherrschenden Chauvinismus hierzulande entgegengehalten werden.
  Das ist in jedem einzelnen der berichteten Fälle durchaus erschütternd, hat aber romantechnisch den Nachteil, dass die Geschichten sich bald vermischen und man bei all den Figuren den Überblick verliert und vergisst, wer denn nun was erlebt hat. Das liegt daran, dass sie jenseits ihrer Fluchtgeschichten keine tiefere Individualität gewinnen. Es entsteht zwar ein großes Schreckenspanorama, doch die konkreten politischen Hintergründe in den jeweiligen Heimatländern bleiben diffus. Die didaktische Absicht aber ist klar: der anonymen Menge der Flüchtlinge persönliche Gesichter und Geschichten zu verleihen, um so die Empathie zu steigern. Das mag auch gelingen; doch der Roman ächzt und stöhnt unter so viel gutem Willen und Vorsätzlichkeit.
  „Gehen, ging, gegangen“ – der Titel zitiert das mühsame Einüben unregelmäßiger Verben – krankt auch daran, dass der harte gesellschaftliche Konflikt um die Flüchtlinge ausgeblendet bleibt. Die politische Frage, wie Zuwanderung denn nun zu regeln wäre und was das in der Praxis bedeutet, gerät gar nicht erst nicht in den Blick. Wären denn grenzenlose Offenheit und Bleiberecht für alle tatsächlich eine realistische Option? Gesehen wird nur die „bürokratische Geometrie“ in all ihrer Gefühllosigkeit. Auf der anderen Seite gibt es die armen Asylbewerber als deren Opfer.
  Und neben den wenigen guten Deutschen, die sich kümmern, bleibt der große Rest derer, die das nicht tun, und die aus dieser Perspektive heraus nur dumpf oder rassistisch sein können. Das ist relativ schlicht, auch wenn Richard die Sympathisanten am Oranienplatz durchaus skeptisch sieht, wenn sie sich beispielsweise für die gleichgeschlechtliche Ehe in den afrikanischen Herkunftsländern einsetzen und damit doch vor allem ihren eigenen Interessen folgen.
  Tatsächlich fragt man sich, ob nicht eine Reportage sehr viel mehr leisten könnte, ohne ein fiktives Mäntelchen um die realen Ereignisse zu legen und ohne die nicht wirklich überzeugenden Rahmengeschichten: der Tote im See (der dann irgendwann auch keine Rolle mehr spielt), der alte Mann in seinem Haus, die Ost-Vergangenheit. Die Sprachsensibilität, die Richard als Altphilologe auszeichnet, hätte man auch in einer Reportage retten können, Empfindlichkeiten gegenüber Worten wie „Fiktionsbescheinigung“ oder „Ostzeiten“ als merkwürdige Zusammensetzung von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen. Überhaupt interessiert Richard sich sehr dafür, was Zeit eigentlich ist – denn seine eigene Lebenszeit wird knapp, und die Flüchtlinge empfindet er als natürliche Leidensgenossen, weil sie wie er selbst „aus der Zeit herausgefallen“ sind.
  Das Beste an diesem Buch sind die beiläufigen Erkenntnisse und Sentenzen, Sätze, die über ihr eigentliches Thema hinausführen, sich mit Alter, Zeit und Vergänglichkeit beschäftigen, und wo man zu ahnen beginnt, wie der Roman sein könnte, wenn er nicht an der kurzen Leine des guten Willens gehalten werden müsste. Wenn Richard in der Schlussszene von einer Abtreibung seiner Frau berichtet und dazu sagt: „Damals ist mir klar geworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte“, ahnt man, was der gute Wille an Konflikten und Schmerzen verbirgt. Doch davon lässt Erpenbeck zu wenig sehen in diesem sehr rechtschaffenen, braven Roman.
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus Verlag, München 2015. 350 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Richard scheut sich, schwimmen
zu gehen: Im See vor seinem Haus
ist ein Mann ertrunken
Hätte nicht eine Reportage
ohne ein fiktives Mäntelchen
mehr erreichen können?
„Am Nachmittag harkt Richard zum ersten Mal Laub. Am Abend heißt es in den Nachrichten, es sei nur noch ein Frage der Zeit, bis für die unhaltbare Lage der Flüchtlinge am Oranienplatz eine Lösung gefunden sei.“ Flüchtlinge aus Afrika in Berlin-Kreuzberg, Januar 2014.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Im Mittelpunkt von Jenny Erpenbecks Roman steht ein emeritierter Professor, für Judith von Sternburg ist die Wahl dieser Figur "auf den ersten Blick verfehlt, auf den zweiten genial". Dieser Richard sei ein lebensferner Akademiker, der sich den Flüchtlingen in seiner Stadt annähert - ohne spezielle Vorurteile, aber auch ohne große Ahnung. Erpenbeck nutze diese Ausgangslage geschickt für eine "höfliche Bloßstellung" ihres Protagonisten, wie Sternburg es formuliert. Die Autorin entwerfe keine Utopie, sondern erzähle vielmehr von der Kläglichkeit des Provisorischen, dem guten Willen. Dabei gestalte Erpenbeck ihre Geschichte subtil und erzähle virtuos, so Sternburg, mit einem schonungslosen Realismus, der im besten Fall "eindringliche Momente" schaffe. Die Kritikerin hätte gern mehr davon gehabt, in diesem von ihr immerhin als "Roman der Stunde" geadelten Werk.

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"(...) dieser Roman ist realistisch: Nicht weil er Verhältnisse real darstellt, sondern weil er eine literarische Wirklichkeit aufbaut, die die Weltrealität reflektiert." NZZ am Sonntag, Stefana Sabin
»Jenny Erpenbeck hat das Buch der Stunde geschrieben.« Der Spiegel