Für den Autor ergänzen sich die drei Sichtweisen "Gehirn, Psyche und Gesellschaft", sodass der Mensch und sein Handeln nicht bloß als die Summe seiner neuronalen Schaltkreise verstanden werden kann. Das Buch schlägt damit auch eine Brücke zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, die einander befruchten. Anhand von philosophischen Problemen und Alltagserfahrung wird deutlich, wie diese Perspektiven zusammengehören.
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Stephan Schleim sieht sich in Medizin und Hirnforschung um
Haben Sie je darüber nachgedacht, welcher der vielen Faktoren, die derzeit diskutiert werden, den größten Einfluss auf Ihre Gesundheit hat? Bewegung? Gesundes Essen? Vorsorgeuntersuchungen? Nicht so viel Stress? Ziemlich sicher haben Sie den wichtigsten Punkt nicht auf der Liste, vermutet der Kognitionswissenschaftler Stephan Schleim: die soziale Eingebundenheit. Einer Übersichtsstudie zufolge, die Schleim zitiert, rangiert sie noch über dem Nichtrauchen, dem nur mäßigen Alkoholkonsum, der Grippeschutzimpfung und den anderen üblichen Verdächtigen.
Das passt gut in die Zeit, doch die Pandemie mit ihren Einschränkungen musste den Autor nicht erst von der Bedeutung des Sozialen überzeugen. Schleim pflegt seit vielen Jahren einen kritischen Blick auf Psychologie, Psychiatrie und vor allem die Neurowissenschaften. Sein Buch hat er aus Beiträgen zusammengestellt, die er seit 2007 für den Blog "Menschen-Bilder" des Spektrum-Verlags verfasst hat, genauer: aus jenen Beiträgen, die am häufigsten von den Lesern kommentiert wurden.
Die kurzen und gut verständlichen Texte behandeln ganz verschiedene Themen aus dem Großraum "Gehirn, Psyche und Gesellschaft", vom Neurodeterminismus - "du bist dein Gehirn" - über Versuche, religiöse Erfahrungen mit dem Hirnscanner dingfest zu machen, bis zu Burnout, Depression, Schönheitswahn. Mehrere Texte zu einem Thema werden dabei jeweils von einer kurzen Einleitung und einem Ausblick gerahmt, samt Literaturtipps zum Weiterlesen.
Der Mensch, konstatiert der Autor, lasse sich nicht reduktionistisch verstehen. Seiner Komplexität und vor allem seiner Eingebundenheit in kulturelle und soziale Bezüge könne man nicht gerecht werden, wenn man die Gehirne von Individuen betrachtet. Zudem, so Schleim, würden immer wieder Forschungsergebnisse von begrenzter Aussagekraft in den Medien, aber auch in den wissenschaftlichen Journalen selbst aufgeblasen, überhöht und verabsolutiert, längst Bekanntes wieder aufgekocht und als spektakulär und neu verkauft.
Da scheint dann das Gen für Homosexualität oder Intelligenz oder abweichendes Sozialverhalten gefunden, die Existenz der Willensfreiheit mal bewiesen, mal widerlegt oder herausgefunden, dass Berührung intelligent und glücklich macht. Dahinter stehen bei genauerem Hinsehen oft Studien, die Aussagen über Labormäuse machen oder nur sehr wenige Versuchspersonen umfassen oder grob vereinfachende Annahmen zugrunde legen.
Diese kritische Perspektive zieht sich als roter Faden durch das Buch. Die Themen selbst sind allerdings nicht alle gleich gut gealtert. So ist das Leib-Seele-Problem inzwischen reichlich abgefrühstückt, der Hinweis auf die sprachlichen Verabsolutierungen, die ihm zugrunde liegen und die das Problem so unbehandelbar machen - der Geist, die Materie, das Ich -, hingegen nach wie vor wichtig. Ähnlich bei der Frage, was Mensch und Tier denn nun unterscheide. Interessanter als der Hinweis auf diese Eigenschaft oder jene Fähigkeit ist die Einsicht, dass die Forschung sich mal auf die Unterschiede und mal auf die Gemeinsamkeiten kapriziert und - wen wundert's - diese dann auch findet.
Schleim wendet sich dagegen, körperliche Ursachen für Erkrankungen einseitig in den Vordergrund zur rücken, mahnt etwa, Burnout nicht als Modekrankheit abzutun und die biologischen Ursachen von Depressionen nicht zu überschätzen. Wer psychische Störungen zu Gehirnstörungen umdeutet, suggeriere, dass man beides unabhängig voneinander betrachten könne, den Organismus und die Welt, in welcher der Mensch lebt. Doch dass der Hirnstoffwechsel bei Depressionen verändert ist, bedeutet nicht, dass belastende Erlebnisse keine Rolle spielen. Auch wenn die Vorstellung, man könne eine Erkrankung heilen, indem man ein paar Medikamente verschreibt, attraktiver sein mag als festzustellen, dass ein psychisches und sozioökonomisches Gefüge dazu führt, dass eine Person in ihrem Leben nicht mehr zurechtkommt. Wer sich einen Überblick über die wichtigsten Debatten verschaffen möchte, die zwischen Neurowissenschaften und Philosophie in den vergangenen Jahren geführt wurden, kann sich mit Schleims Sammlung schnell orientieren.
MANUELA LENZEN
Stephan Schleim: "Gehirn, Psyche und Gesellschaft". Schlaglichter aus den Wissenschaften vom Menschen. Springer Verlag, Berlin 2021. 338 S., geb., 17,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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