nôthi seautón, "Erkenne dich selbst!", ist der wohl berühmteste Satz der Philosophiegeschichte. Er zierte die Vorhalle des Apollontempels beim griechischen Delphi am Fuß des Bergs Parnass. Hier befand sich ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. eine Orakelstätte, in der die Priesterin Pythia Besuchern die Zukunft weissagte. Wie unsere Expertin Bettina Fröhlich von der Berliner Humboldt- Universität ab S. 22 schildert, zielte der Appell "Erkenne dich selbst!" einst allerdings weniger auf das Ausloten persönlicher Eigenarten. Vielmehr sollte der Ratsuchende beim Betreten des Heiligtums die eigene Sterblichkeit und die Hinfälligkeit des Menschen bedenken. Dies galt in der Antike als wirksames Gegengift zu der damals schon weit verbreiteten Hybris, dem Hochmut. Und heute? In unserer Zeit erheben viele die Optimierung und Verwirklichung des Ichs zu ihrer obersten Maxime. Genau zu wissen, wer man sei und welches Potenzial in einem stecke, helfe bei allen wichtigen Fragen weiter – von der Berufs- bis zur Partnerwahl. Die Selbsterkenntnis soll uns als Kompass dienen, um sicher durch die unruhigen Gewässer des Alltags zu navigieren. Ja, für manche stellt sie sogar den eigentlichen Sinn des Lebens dar. Doch sich selbst zu verstehen, die eigenen Talente, Bedürfnisse und Möglichkeiten zu entdecken und auszubauen, das ist leichter gesagt als getan. Denn anders als viele Gurus und Ratgeber erklären, ist unser Selbstbild systematisch verzerrt und lückenhaft – und zwar aus guten Gründen, wie die psychologische Forschung zeigt. Unbewusste Voreinstellungen des Denkens führen dazu, dass wir uns oft für kompetenter, moralischer und gefestigter halten, als wir sind. Woran das liegt und wie man sich selbst dennoch ein Stück näher kommen kann, erläutert das Titelthema dieses Hefts.