Denis ging schon in die 1. Klasse, ich war im letzten Kindergartenjahr. Eines Nachmittags saßen wir in seinem Zimmer und malten. Zwei Nachbarsjungen, ein Schreibtisch, zwei Blatt Papier, ein Haufen Stifte. Die fertigen Werke präsentierten wir stolz unseren Müttern, verbunden mit der brennenden Frage: Welches Piratenschiff ist das schönere? Ich erinnere mich genau, wie offenkundig sich mir die Lage darstellte. Hier meine sorgfältige Schöpfung mit sauber gezogenen Linien, satt aufgetragenen Farben und einer prima Seeräuberflagge vor blauem Himmel mit gelber Sonne. Dort ein Krickelkrakel von einem Segelboot inmitten eines Meers, das noch zahlreiche weiße Stellen preisgab. Wie perplex war ich da, als die zwei Jurorinnen unisono das Urteil fällten, beide Bilder seien zwar verschieden, aber gleich gut. Abends zu Hause musste ich noch einmal nachhaken. "Es stimmt schon", gestand meine Mutter dann ein, "dein Bild war schöner." Woraufhin die Welt wieder in den Fugen war. Im Bewusstsein, ein toller Zeichner zu sein, der es sogar mit Älteren aufnehmen kann, dürfte ich selig eingeschlafen sein. Natürlich weiß ich nicht, ob Denis' Mutter ihm ebenfalls versichert hat, dass seine Kreation die brillantere sei. Was ich aber weiß, ist, dass er wie ich felsenfest davon überzeugt war, die monumentalere Leistung vollbracht zu haben. Denn so ticken Menschen. Wir halten uns im Schnitt für fähiger, intelligenter oder auch humorvoller, als wir tatsächlich sind. Das gilt besonders für Eigenschaften, die uns wichtig erscheinen. Inzwischen wissen Psychologen viel über die verbreitete Asymmetrie zwischen Fremd- und Selbstbild, wie unser Redakteur Steve Ayan ab S. 12 berichtet. Ein gesundes Maß an Selbsttäuschung ist demnach sogar sinnvoll. Es hilft uns, Probleme zu meistern und in Krisen nach vorn zu schauen. Für einen überdurchschnittlichen Künstler halte ich mich übrigens nicht mehr. Meine Selbstüberhöhung habe ich auf andere Felder verlagert. Herzliche Grüße Ihr Carsten Koenneker, Chefredakteur.