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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Existenz im Was-wäre-wenn: Niclas Seydack porträtiert die Millennials und deren Weg ins Erwachsenenleben
Aus der Perspektive eines westdeutschen Teenagers war die Welt nach dem Fall der Mauer in schönster Ordnung. Hatte man nicht gerade erlebt, wie das bessere politische System das duale Weltbild beendet hatte? Fortan musste man nur noch zwischen Coca-Cola und Pepsi entscheiden, aber nicht mehr zwischen Ideologien. Und sollten nicht bald alle Europäer die Vorzüge der freien Welt und der sich öffnenden Räume und Märkte erleben?
Eine Jugend in der ostdeutschen Provinz mag damals schon anders ausgesehen und sich vor allem anders angefühlt haben. Heute sprechen wir mit nachholender Einsicht von den Baseballschlägerjahren, von verantwortungslos abgewickelten Industrien, Ideologien und Biographien. Im Westen gab es ebenfalls eine Verödung der Provinz. Außerdem alte und neue Rechte. Das war zu beklagen. Man würde es aber in den Griff kriegen - vor den Republikanern, die 1989 mit 7,5 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus zogen und Deutschland in die Grenzen von 1937 phantasierten, hatte man keine Angst. So narkotisch war der Geist einer Zeit, die nur wenige Jahre später schon als kolossaler Schluckauf der Geschichte wahrgenommen werden würde.
Der 1990 in der schleswig-holsteinischen Marmeladenstadt Bad Schwartau geborene Journalist Niclas Seydack hat ein Buch über das Erwachsenwerden einer Generation geschrieben, die langsam aus der Narkose erwacht. Über die Kohorte der Millennials wissen vor allem die Boomer, also ihre potentiellen Eltern, wenig Gutes zu berichten: larmoyant und zimperlich sei sie, leicht überfordert, dabei dauernd fordernd, moralisierend und selbstgerecht. Wie es innerhalb nur weniger Jahre zu solch gravierenden Verwerfungen zwischen Kohorten kommen konnte, kann man in "Geile Zeit. Autobiographie einer Generation" erfahren. Denn man wird nicht als "Snowflake" geboren, man wird zu einer gemacht. Und zwar mit dem Schockfroster.
Zwei Großereignisse bringen überfrierende Kälte in die Jugendzimmer der Nullerjahre. Zum einen beginnt das Internet erst zaghaft, dann immer rasanter das Sozialverhalten der Teenager und späteren "young professionals" zu konfektionieren und nicht selten zu demolieren: Ungefilterte Bilder von Kriegsgewalt, brutalen Pornos oder menschenverachtendem Trash regieren die Freizeitgestaltung von immer mehr Jugendlichen.
Zum anderen werden die Anschläge auf die Zwillingstürme sowie die nachfolgende Kultur des Verdachts prägend für das allgemeine Unsicherheitsgefühl. Seydacks Vater hat mit elf Jahren im Fernsehen verfolgt, wie Neil Armstrong auf dem Mond landete; als der Autor dann selbst elf war, hat er "live dabei zugesehen, wie Menschen aus brennenden Hochhäusern sprangen, und wenig später erklärte mir ein Polizist, wie ich mich zu verstecken habe, wenn ein Mitschüler mich erschießen will".
Gedenkminuten für den Amoklauf in Erfurt oder eben die Opfer islamistischer Anschläge gehören in den Nullerjahren zur Morgenroutine eines Bad Schwartauer Gymnasiasten: "Es passierte immer wieder. Der Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Die Anschläge von Brüssel und Nizza. Je näher es kam, desto weniger wehrte ich mich mit dummen Witzen dagegen, dass es mich erreichte. Wieder erstarrte ich nicht, ich schrie nicht oder weinte. Ich ergab mich aus Angst." Auch vor den Deutschen konnte man Angst bekommen. Die NSU-Morde und der Anschlag von Hanau schäften den Blick für die neuen politischen und nie für möglich gehaltenen Zustände im Land. "Wenn es stimmte, dass Angst entweder müde oder wütend macht, lebten wir mittlerweile im Wachkoma."
Im Wachkoma erlebt der angehende Journalist nun unverstehbare Ereignisse wie einen wütenden Mob, der die Redaktion seiner Tageszeitung in Dresden stürmt und dabei "Lügenpresse" brüllt. Im Wachkoma machen Phänomene wie die AfD, Donald Trump, die sogenannte Flüchtlingskrise, der Brexit, die MeToo-Bewegung und der alles verbindende Klimawandel als "life changing subjects" ihre Aufwartung. "Es gärte und brodelte und schimmelte. In Deutschland. Auf der ganzen Welt. Und in uns."
Als Seydacks Vater ungefähr dreißig war, fiel die Mauer, und der damalige Kanzler versprach blühende Landschaften. Als Seydack junior ungefähr dreißig war, sperrte die Pandemie Jung und Alt in ihre Wohnungen ein, sie beförderte die Kultur des Homeoffice und spaltete die Gesellschaft. Sodann folgte eine erhitzte Diskussion darüber, ob die Spaltung nur ein Konstrukt der Medien sei. Als die international vereinte Wissenschaft in Rekordzeit einen Corona-Impfstoff präsentierte, der viele Menschen vor einem schweren Krankheitsverlauf schützte und gleichzeitig überall in der freien westlichen Welt Menschen auf die Straßen trieb, um genau dagegen zu demonstrieren, fällt es Seydack wie Schuppen von den Augen: Es war und ist keine "geile Zeit", auch wenn man das lange glaubte - mit Stefan Raab als dem Zeremonienmeister einer würdelosen Unterhaltungsindustrie.
Streckenweise gelingt es Seydack, seine persönlichen Lebenserfahrungen kohortenanalytisch wirksam werden zu lassen. In anderen Momenten schreibt er ganz als Kind seiner Zeit: "Und als ich endlich in den Beruf startete, bekam ich gesagt: Es ist nicht wichtig, was du tust. Du bist nicht systemrelevant. Wir machten nicht die ersten Schritte in unseren Karrieren. Wir gingen erst mal in Kurzarbeit."
Hier scheint sich ein Pessimismuskreis um eine fremdverschuldete Unmündigkeit zu schließen: eine Generation, die von einer Extremlage in die nächste befördert wird und dabei immer noch bequem auf dem Sofa sitzen kann. Das ist nicht nur beängstigend, sondern auch entmutigend. "Lieber führten wir ein Leben im Als-ob, im Was-wäre-wenn", schreibt der Autor. "Sogar wenn wir verliebt waren. Wäre ich sehr kitschig, würde ich sagen, dass ich dich echt mag. So eine ironische Liebeserklärung konnte niemand zurückweisen."
Bei allem sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Pandemie von jeder Generation ihren Tribut zollte, wie auch die Zeitgeschichte nicht an den anderen vorbeigegangen ist. Wer schonmal handysüchtige Rentner auf Smartphones herumhacken sah, weiß, dass die digitale Selbstverdopplung nicht den Millennials vorbehalten ist. Dennoch liest man als "Analog Native" dieses Buch mit Gewinn. Denn es zeigt, dass es eben doch einen Unterschied macht, mit welchen Medien man aufgewachsen ist und an welche man sich bloß gewöhnt hat. KATHARINA TEUTSCH
Niclas Seydack: "Geile Zeit". Autobiographie einer Generation.
Tropen Verlag, Berlin 2024. 224 S., geb., 22,- Euro.
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