Der Ausdruck »Geisteswissenschaftler« evoziert das Bild von einsamen Menschen am Schreibtisch, deren ganze Aufmerksamkeit der versunkenen Auseinandersetzung mit komplizierten Texten gilt. Aber stimmt dieses Bild? Nein, sagen Steffen Martus und Carlos Spoerhase, die in ihrem Buch im Rückgriff auf zahlreiche unpublizierte Quellen die Praxis der Geistesarbeit am Beispiel Peter Szondis und Friedrich Sengles untersuchen. Sie zeigen, was Forschen, Lehren und Verwalten im akademischen Alltag tatsächlich bedeuten, vor welchen Herausforderungen die Geistesarbeit jeden Tag steht und was sie leistet. Gegen die abstrakte Rede von der »Krise der Geisteswissenschaften« plädieren sie für eine Neujustierung des Blicks, und zwar darauf, was an einem geisteswissenschaftlichen Arbeitsplatz wirklich geschieht.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine Art Soziologie der Praxis der gegenwärtigen Geisteswissenschaften haben die beiden Literaturwissenschaftler Steffen Martus und Carlos Spoerhase vorgelegt, meint Kritiker Thomas Steinfeld. Er begreift den "Geist" der Geisteswissenschaft bei der Lektüre der 35 Kapitel als etwas Fluides, das am besten durch die mit ihm verknüpften Praktiken erfahrbar wird, sei es Kaffee kochen oder Konferenzen durchführen. Die beiden nähmen dafür das Leben zweier Wissenschaftler in den Blick, Peter Szondi und Friedrich Sengle, die allerdings schon vor fünfzig Jahren gelehrt haben - dass aus ihrer Arbeit Schlussfolgerungen für die heutige Situation gezogen werden, missfällt Steinfeld. Auch die Meinung, die Geisteswissenschaften nur erhalten zu müssen, statt von einer nötigen Reform auszugehen, ist ihm zu pauschal. Ansonsten aber anregend und informativ, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2023Arbeit am Genius
Eine Praxeologie der deutschen Universität
In letzter Zeit sind Formen und Praktiken literarischen und geisteswissenschaftlichen Arbeitens vermehrt in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die Baseler Literatursoziologin Carolin Amlinger hat mit "Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit" (F.A.Z. vom 16. Oktober 2021) ein viel gelobtes Buch über die politische und kulturelle Ökonomie der schriftstellerischen Arbeit geschrieben. Den konkreten Formen der Arbeit an Nipperdeys "Deutsche Geschichte 1800 - 1918" (F.A.Z. vom 25. April 2018) hat Paul Nolte ein ebenfalls viel gelobtes und viel gelesenes Buch gewidmet. Die breitere Öffentlichkeit erfährt in diesen Büchern viel über etwas, was, der Legende nach, eigentlich nur in Isolation stattfindet: die literarische und die forscherische Tätigkeit. Beides sind Tätigkeiten in konkreten Praxiszusammenhängen, die jeweils das Werk prägen. Das einsame forscherische Genie scheint hier in Formen der Kollaboration zu verschwinden.
Die Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase und Steffen Martus setzten mit ihrem Buch "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2022) diesen Forschungstrend im vergangenen Jahr fort (F.A.Z. vom 23. September). Sie erzählen ein Gegenprogramm: Die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde lange entweder als Geschichte der Ideen und Programme oder als Geschichte der Professionen und Institutionen geschrieben. Die programmatische Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag, wie Publizieren, Redigieren, Lesen (ob digital oder analog), Surfen oder Googeln, Lesen lassen, Korrigieren und Überarbeiten, Vortragen, Kollaborieren und Interpretieren, Telefonieren, Exzerpieren, Notieren, Annotieren und andere mehr treten an die Stelle der großen Ideen einer Wissenschaft vom Geist, den bekanntlich Friedrich Kittler schon 1980 diesen ausgetrieben hatte.
Zunächst einmal ist das Schreiben eines Buches im strengen Sinne keine einsame Tätigkeit, sondern eine in Netzwerken. Dem Schreiben geht idealerweise ein Lesen voraus. Das Literaturverzeichnis, das auch Schriften der beiden Autoren enthält, informiert über die Kon-Texte, in denen sich der Text bewegt. Die Danksagung informiert darüber, mit wem die beiden gesprochen haben, wer ihnen wertvolle Tipps gegeben hat, wer korrigiert, wer das Buch gesetzt, wer es lektoriert hat. Angesichts dieser Fülle von Tätigkeiten verblasst das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild des einsamen Forschers.
Das Buch von Martus und Spoerhase ist nicht nur eine packende Schilderung dessen, was Geisteswissenschaftler tun, sondern auch Aufklärung über die Mythen der Geisteswissenschaften und der Universität. Zu den großen Mythen der Universität gehört die Vorstellung vom forschenden (Professor) und lernenden Genie (Student). Es ist ja ohne Zweifel aufschlussreich, dass in Deutschland um 1800 alle Ideen zur Universitätsreform von Schriftstellern oder Philosophen kamen, die ganz wesentlich die Idee der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert geprägt haben. Daher ist das "Genie", das dann aus der universitären Bildung hervorgehen, aber idealerweise als solches eintreten soll, von Anfang an das schöpferische Genie, das schon Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" im Unterschied zum Gelehrten alter Schule gesehen hat. Das Genie, so Kant, bestehe nicht aus einer "Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse". Schelling sprach dann 1803 in seinen "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums dementsprechend davon, dass der Student ein "Künstler im Lernen" sei.
Das Forscher- und Studentengenie in seiner geheimnisvollen, nicht planbaren Produktivität ist eine sehr deutsche Leidenschaft. Diese Leidenschaft könnte man im Anschluss an Spoerhase und Martus als Konstruktionsfehler der Universität und ihres geisteswissenschaftlichen Betriebs analysieren, der sich, als Idee und als Institution, um 1800 tatsächlich dieser "Konstellation" von Dichtern und Philosophen verdankt. Das Betriebsgeheimnis der deutschen Universität besteht vielleicht aus einer Form der Enttäuschung über die Unrealisierbarkeit des Geniegedankens in Forschung und Lehre. Dass man aus dieser Enttäuschung lernen kann, zeigt die Praxeologie sehr eindrucksvoll. MARKUS STEINMAYR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Praxeologie der deutschen Universität
In letzter Zeit sind Formen und Praktiken literarischen und geisteswissenschaftlichen Arbeitens vermehrt in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die Baseler Literatursoziologin Carolin Amlinger hat mit "Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit" (F.A.Z. vom 16. Oktober 2021) ein viel gelobtes Buch über die politische und kulturelle Ökonomie der schriftstellerischen Arbeit geschrieben. Den konkreten Formen der Arbeit an Nipperdeys "Deutsche Geschichte 1800 - 1918" (F.A.Z. vom 25. April 2018) hat Paul Nolte ein ebenfalls viel gelobtes und viel gelesenes Buch gewidmet. Die breitere Öffentlichkeit erfährt in diesen Büchern viel über etwas, was, der Legende nach, eigentlich nur in Isolation stattfindet: die literarische und die forscherische Tätigkeit. Beides sind Tätigkeiten in konkreten Praxiszusammenhängen, die jeweils das Werk prägen. Das einsame forscherische Genie scheint hier in Formen der Kollaboration zu verschwinden.
Die Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase und Steffen Martus setzten mit ihrem Buch "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2022) diesen Forschungstrend im vergangenen Jahr fort (F.A.Z. vom 23. September). Sie erzählen ein Gegenprogramm: Die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde lange entweder als Geschichte der Ideen und Programme oder als Geschichte der Professionen und Institutionen geschrieben. Die programmatische Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag, wie Publizieren, Redigieren, Lesen (ob digital oder analog), Surfen oder Googeln, Lesen lassen, Korrigieren und Überarbeiten, Vortragen, Kollaborieren und Interpretieren, Telefonieren, Exzerpieren, Notieren, Annotieren und andere mehr treten an die Stelle der großen Ideen einer Wissenschaft vom Geist, den bekanntlich Friedrich Kittler schon 1980 diesen ausgetrieben hatte.
Zunächst einmal ist das Schreiben eines Buches im strengen Sinne keine einsame Tätigkeit, sondern eine in Netzwerken. Dem Schreiben geht idealerweise ein Lesen voraus. Das Literaturverzeichnis, das auch Schriften der beiden Autoren enthält, informiert über die Kon-Texte, in denen sich der Text bewegt. Die Danksagung informiert darüber, mit wem die beiden gesprochen haben, wer ihnen wertvolle Tipps gegeben hat, wer korrigiert, wer das Buch gesetzt, wer es lektoriert hat. Angesichts dieser Fülle von Tätigkeiten verblasst das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild des einsamen Forschers.
Das Buch von Martus und Spoerhase ist nicht nur eine packende Schilderung dessen, was Geisteswissenschaftler tun, sondern auch Aufklärung über die Mythen der Geisteswissenschaften und der Universität. Zu den großen Mythen der Universität gehört die Vorstellung vom forschenden (Professor) und lernenden Genie (Student). Es ist ja ohne Zweifel aufschlussreich, dass in Deutschland um 1800 alle Ideen zur Universitätsreform von Schriftstellern oder Philosophen kamen, die ganz wesentlich die Idee der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert geprägt haben. Daher ist das "Genie", das dann aus der universitären Bildung hervorgehen, aber idealerweise als solches eintreten soll, von Anfang an das schöpferische Genie, das schon Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" im Unterschied zum Gelehrten alter Schule gesehen hat. Das Genie, so Kant, bestehe nicht aus einer "Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse". Schelling sprach dann 1803 in seinen "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums dementsprechend davon, dass der Student ein "Künstler im Lernen" sei.
Das Forscher- und Studentengenie in seiner geheimnisvollen, nicht planbaren Produktivität ist eine sehr deutsche Leidenschaft. Diese Leidenschaft könnte man im Anschluss an Spoerhase und Martus als Konstruktionsfehler der Universität und ihres geisteswissenschaftlichen Betriebs analysieren, der sich, als Idee und als Institution, um 1800 tatsächlich dieser "Konstellation" von Dichtern und Philosophen verdankt. Das Betriebsgeheimnis der deutschen Universität besteht vielleicht aus einer Form der Enttäuschung über die Unrealisierbarkeit des Geniegedankens in Forschung und Lehre. Dass man aus dieser Enttäuschung lernen kann, zeigt die Praxeologie sehr eindrucksvoll. MARKUS STEINMAYR
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2023Delegieren, zuarbeiten, Steckdosen reparieren
Steffen Martus und Carlos Spoerhase gehen auf 600 Seiten der Frage nach, was Geisteswissenschaftler eigentlich genau machen
Der Geist ist, seinem scheinbar kontinuierlichen Auftreten in den Geisteswissenschaften zum Trotz, ein flüchtiges Gebilde. Kaum findet er sich ein, ist er oft schon wieder fort, und dumm schaut aus der Wäsche, wer sich gerade noch in seinem Besitz wähnte. Hat man fest mit seiner Ankunft gerechnet, kommt er nicht, und wer auf das Eintreffen des Geistes hofft, weil er ihn dringend braucht, kann zuweilen lange warten: „Manchmal kratzt sich die am Arbeitstisch sitzende Person am Kopf, legt das Kinn in die Hand, rückt den Stuhl, greift nach einem Buch oder einer Kopie“, berichten Steffen Martus und Carlos Spoerhase, beide Professoren für Neuere deutsche Literatur und mithin Fachkräfte für den Umgang mit dem Geist. „Wenn es schlecht läuft“, heißt es über die Person, die vergeblich der Inspiration harrt, „steht sie kurz auf, geht aus dem Zimmer, kehrt mit eine Tasse Kaffee zurück.“
„Geistesarbeit“ nennen die beiden Lehrstuhlinhaber ihr mehr als 600 Seiten starkes Buch, das den Geist allenfalls als eine Art Schemen voraussetzt und sich seinen dinglichen, institutionellen, psychologischen und auch sozialen Begleiterscheinungen widmet, dort also, wo er sich niederlassen muss, wenn man ihn anders nicht zu fassen bekommt. „Praxeologie“ soll die neue Wissenschaft heißen, die sich auf das Material im Umgang mit dem Geist konzentriert und mit dem Kaffeeholen beginnt. Sie macht sich Gedanken über Seminararbeiten und Telefonanschlüsse, und bei Sonderdrucken und Habilitationsvorträgen ist noch lange nicht Schluss, weil es dann um das Verhältnis des Professors zu seinen Assistenten und um den Umgang der Kollegen miteinander geht. Jeder, der beruflich oder auch nur als ambitionierter Student in einem humanistischen Fach mit dem akademischen Betrieb zu tun hatte, wird dessen Alltag wiedererkennen, oft mit Genugtuung, gelegentlich mit Schadenfreude. Doch ist der Geist eigentlich nur an den Universitäten zu Hause? Martus und Spoerhase unterstellen, dass der Geist stets einen Arbeitsvertrag im öffentlichen Dienst besitzt. Diese Annahme trifft aber nicht zu.
„Geistesarbeit“ ist ein Ausdruck wie „Trauerarbeit“, und in beiden Wörtern steckt ein Element von Ideologie: Sie setzen als Sache voraus, was sich womöglich gar nicht als Ding, sondern allenfalls ein Ensemble von intellektuellen Bewegungen fassen lässt. Entsprechend häufig ist bei Martus und Spoerhase davon die Rede, die „Welt der Geisteswissenschaften“ sei „nichts bereits Feststehendes, sondern das Ergebnis immer wieder erneuerter alltäglicher Anstrengungen“ und in seiner Vielfalt kaum zu fassen. Doch besitzen sie ein Mittel, ihren Gegenstand festzuhalten, bevor sich dieser in alle Richtungen auflöst: die in archivarischer Arbeit erschlossenen beruflichen Nachlässe der Literaturwissenschaftler Peter Szondi und Friedrich Sengle. Der eine, von 1965 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1971, lehrte an der Freien Universität Berlin, schrieb schmale, theoretisch ambitionierte Werke und war einer der Protagonisten der in jenen Jahren einsetzenden Internationalisierung des gelehrten Umgangs mit Dichtung. Der andere, bis 1978 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrend, war ein prominenter Vertreter einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Germanistik und Autor eines Mammutwerks zur Literatur des Biedermeier, das er über Jahrzehnte hinweg und mit Unterstützung ganzer Generationen von Assistenten und Hilfskräften verfasste.
Die beiden Professoren, der eine ein trauriger Zugvogel, der andere ein robuster, freundlicher Herrscher, waren prominente Meister ihres Fachs, als dieses weder Projektanträge noch Cluster kannte. Sie stehen für entgegengesetzte Pole innerhalb der Literaturwissenschaft. Doch war ihnen das Wissen um Notwendigkeit und Charakter einer betrieblichen Ausstattung gemein. In dieser Hinsicht agierten sie beide als akademische Unternehmer, mit einem klaren Sinn für die Einrichtung einer Seminarbibliothek oder die angemessene Verwendung von Doktoranden. Was „Geistesarbeit“ sein soll, ist an diesen beiden Ordinarien greifbar. Entsprechend liefern sie einen großen Teil der 35 Stichworte, nach denen das Buch gegliedert ist: Sie handeln vom Einrichten eines wissenschaftlichen Textes und von den Techniken der Selbstdarstellung, vom Delegieren und Zuarbeiten, vom „Lehrstuhl als Praxiszusammenhang“ und von den Konferenzen, die in den späten Sechzigern noch seltene Höhepunkte im Leben der Gelehrten waren. Die Absicht des Buches, erklären die Autoren, bestehe darin, „besser zu verstehen, was in den Geisteswissenschaften alltäglich gemacht und geleistet wird“. Die Wissenschaften, wie sie heute betrieben werden, mit ihren Sonderforschungsbereichen, Drittmittelquoten, Evaluationen und Juniorprofessuren, gestalten sich indessen anders als ihre Vorgängerinnen zu Zeiten, als man das Herumschicken von Sonderdrucken noch als eine Form des akademischen Kompliments verstand. Im Konzept „Geistesarbeit“ werden diese Unterschiede nivelliert: Ein historischer Zustand der Geisteswissenschaften gilt Martus und Spoerhase als hinreichender Beleg für ihre grundlegende These, dass diese Disziplinen ein „unebenes Gefüge von Praktiken“ darstellen, „die erst in ihrem wechselseitigen Bezug sinnvoll erscheinen“.
Das Buch ist über lange Strecken eine nicht nur anregende, sondern auch unterhaltsame Lektüre, weil es offenbart, wie eng in den Geisteswissenschaften gewisse Arbeitsbedingungen mit bestimmten Ergebnissen verbunden sind, wobei die Verbindungen umkehrbar zu sein scheinen, damals wie heute. Und doch würde man am Ende gern wissen, warum etwa die Epochenbegriffe, die Sengle seinem Riesenprojekt zugrunde legte, so obsolet wurden. Offenbar gibt es Wandlungen im „Gefüge der Praktiken“, von denen man annehmen kann, dass sie nicht von selbst entstehen, sondern von außen induziert sind.
Als Wissenschaft ist die „Praxeologie“ etwas Neues, als Gegenstand ist sie es nicht. Das Gespräch in der Cafeteria, der Klatsch auf dem Flur, der abendliche Umtrunk im Kreis der Kommilitonen oder Kollegen: Was die neue Disziplin weiß und noch in Erfahrung bringen möchte, besitzt einen langen Vorlauf in einem unordentlichen Wissen am informellen Rand des beruflichen Treibens. Auch der mittlerweile aus der Mode geratene Campusroman – die Bücher von David Lodge oder Dietrich Schwanitz vor allem – lebte von Erhebung des Tratsches zu einem eigenständigen literarischen Genre.
Martus und Spoerhase verweisen darüber hinaus auf die im Sommer 2021 begonnene, aber kurzlebige Netflix-Serie „Die Professorin“, die eine „Praxeologie“ der Geisteswissenschaften zur Unterhaltung eines großen Publikums anbot. Gemeinsam ist all diesen Formen des mehr oder minder gehobenen Gossip, dass sie eine geschlossene Welt voraussetzen. Sie lassen zur Einheit verschmelzen, was aus eigener Kraft womöglich keinen inneren Zusammenhalt bilden kann. Insofern erscheint es tatsächlich als sinnvoll, eine aktuelle „Praxeologie“ mit historischen Beispielen zu begründen. Die „Praxeologie“ wäre, so gesehen, nicht nur eine Lehre vom praktischen Umgang innerhalb einer akademischen Disziplin, sondern auch ein Programm zu deren Erhaltung.
Martus und Spoerhase sind am Ende so frei, die erwünschten praktischen Implikationen ihrer Lehre von der Praxis zu benennen. Offenbar fehlt es, ihrer Ansicht nach, in den entscheidenden Gremien der Politik oder der akademischen Verwaltung an Einsicht in das komplizierte innere Gefüge der Geisteswissenschaften, sodass man auf deren Notstände mit stets zu groß geratenden Ideen zur deren Reform reagiert. Jede „einheitliche Lösung“, die eine Krise der Geisteswissenschaften zu beseitigen verspreche, warnen die Autoren, werde eine solche Krise erst recht schaffen. „Pauschale“ Ideen könnten, wie sie meinen, die „Spezifik der praktizierten Geistesarbeit nur verfehlen“. Damit werden sie recht haben, wenn man einmal davon absieht, dass im „Gefüge der Praktiken“, das man nur zu respektieren hat, ein verallgemeinernder Konservativismus steckt, der dem Geist der „Lösungen“ entspricht, dem er zu widersprechen meint.
THOMAS STEINFELD
Ist der Geist
eigentlich nur an den
Universitäten zu Hause?
Der Klatsch auf dem Flur,
der abendliche Umtrunk,
das hat schon lang Tradition
Steffen Martus, Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der
Geisteswissenschaften. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 658 Seiten, 30 Euro.
War früher das Herumschicken von Sonderdrucken noch ein akademisches Kompliment, kommt es heute auf andere Dinge an. Studentin in der Bibliothek des Historicums der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
Foto: Robert Haas
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Steffen Martus und Carlos Spoerhase gehen auf 600 Seiten der Frage nach, was Geisteswissenschaftler eigentlich genau machen
Der Geist ist, seinem scheinbar kontinuierlichen Auftreten in den Geisteswissenschaften zum Trotz, ein flüchtiges Gebilde. Kaum findet er sich ein, ist er oft schon wieder fort, und dumm schaut aus der Wäsche, wer sich gerade noch in seinem Besitz wähnte. Hat man fest mit seiner Ankunft gerechnet, kommt er nicht, und wer auf das Eintreffen des Geistes hofft, weil er ihn dringend braucht, kann zuweilen lange warten: „Manchmal kratzt sich die am Arbeitstisch sitzende Person am Kopf, legt das Kinn in die Hand, rückt den Stuhl, greift nach einem Buch oder einer Kopie“, berichten Steffen Martus und Carlos Spoerhase, beide Professoren für Neuere deutsche Literatur und mithin Fachkräfte für den Umgang mit dem Geist. „Wenn es schlecht läuft“, heißt es über die Person, die vergeblich der Inspiration harrt, „steht sie kurz auf, geht aus dem Zimmer, kehrt mit eine Tasse Kaffee zurück.“
„Geistesarbeit“ nennen die beiden Lehrstuhlinhaber ihr mehr als 600 Seiten starkes Buch, das den Geist allenfalls als eine Art Schemen voraussetzt und sich seinen dinglichen, institutionellen, psychologischen und auch sozialen Begleiterscheinungen widmet, dort also, wo er sich niederlassen muss, wenn man ihn anders nicht zu fassen bekommt. „Praxeologie“ soll die neue Wissenschaft heißen, die sich auf das Material im Umgang mit dem Geist konzentriert und mit dem Kaffeeholen beginnt. Sie macht sich Gedanken über Seminararbeiten und Telefonanschlüsse, und bei Sonderdrucken und Habilitationsvorträgen ist noch lange nicht Schluss, weil es dann um das Verhältnis des Professors zu seinen Assistenten und um den Umgang der Kollegen miteinander geht. Jeder, der beruflich oder auch nur als ambitionierter Student in einem humanistischen Fach mit dem akademischen Betrieb zu tun hatte, wird dessen Alltag wiedererkennen, oft mit Genugtuung, gelegentlich mit Schadenfreude. Doch ist der Geist eigentlich nur an den Universitäten zu Hause? Martus und Spoerhase unterstellen, dass der Geist stets einen Arbeitsvertrag im öffentlichen Dienst besitzt. Diese Annahme trifft aber nicht zu.
„Geistesarbeit“ ist ein Ausdruck wie „Trauerarbeit“, und in beiden Wörtern steckt ein Element von Ideologie: Sie setzen als Sache voraus, was sich womöglich gar nicht als Ding, sondern allenfalls ein Ensemble von intellektuellen Bewegungen fassen lässt. Entsprechend häufig ist bei Martus und Spoerhase davon die Rede, die „Welt der Geisteswissenschaften“ sei „nichts bereits Feststehendes, sondern das Ergebnis immer wieder erneuerter alltäglicher Anstrengungen“ und in seiner Vielfalt kaum zu fassen. Doch besitzen sie ein Mittel, ihren Gegenstand festzuhalten, bevor sich dieser in alle Richtungen auflöst: die in archivarischer Arbeit erschlossenen beruflichen Nachlässe der Literaturwissenschaftler Peter Szondi und Friedrich Sengle. Der eine, von 1965 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1971, lehrte an der Freien Universität Berlin, schrieb schmale, theoretisch ambitionierte Werke und war einer der Protagonisten der in jenen Jahren einsetzenden Internationalisierung des gelehrten Umgangs mit Dichtung. Der andere, bis 1978 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrend, war ein prominenter Vertreter einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Germanistik und Autor eines Mammutwerks zur Literatur des Biedermeier, das er über Jahrzehnte hinweg und mit Unterstützung ganzer Generationen von Assistenten und Hilfskräften verfasste.
Die beiden Professoren, der eine ein trauriger Zugvogel, der andere ein robuster, freundlicher Herrscher, waren prominente Meister ihres Fachs, als dieses weder Projektanträge noch Cluster kannte. Sie stehen für entgegengesetzte Pole innerhalb der Literaturwissenschaft. Doch war ihnen das Wissen um Notwendigkeit und Charakter einer betrieblichen Ausstattung gemein. In dieser Hinsicht agierten sie beide als akademische Unternehmer, mit einem klaren Sinn für die Einrichtung einer Seminarbibliothek oder die angemessene Verwendung von Doktoranden. Was „Geistesarbeit“ sein soll, ist an diesen beiden Ordinarien greifbar. Entsprechend liefern sie einen großen Teil der 35 Stichworte, nach denen das Buch gegliedert ist: Sie handeln vom Einrichten eines wissenschaftlichen Textes und von den Techniken der Selbstdarstellung, vom Delegieren und Zuarbeiten, vom „Lehrstuhl als Praxiszusammenhang“ und von den Konferenzen, die in den späten Sechzigern noch seltene Höhepunkte im Leben der Gelehrten waren. Die Absicht des Buches, erklären die Autoren, bestehe darin, „besser zu verstehen, was in den Geisteswissenschaften alltäglich gemacht und geleistet wird“. Die Wissenschaften, wie sie heute betrieben werden, mit ihren Sonderforschungsbereichen, Drittmittelquoten, Evaluationen und Juniorprofessuren, gestalten sich indessen anders als ihre Vorgängerinnen zu Zeiten, als man das Herumschicken von Sonderdrucken noch als eine Form des akademischen Kompliments verstand. Im Konzept „Geistesarbeit“ werden diese Unterschiede nivelliert: Ein historischer Zustand der Geisteswissenschaften gilt Martus und Spoerhase als hinreichender Beleg für ihre grundlegende These, dass diese Disziplinen ein „unebenes Gefüge von Praktiken“ darstellen, „die erst in ihrem wechselseitigen Bezug sinnvoll erscheinen“.
Das Buch ist über lange Strecken eine nicht nur anregende, sondern auch unterhaltsame Lektüre, weil es offenbart, wie eng in den Geisteswissenschaften gewisse Arbeitsbedingungen mit bestimmten Ergebnissen verbunden sind, wobei die Verbindungen umkehrbar zu sein scheinen, damals wie heute. Und doch würde man am Ende gern wissen, warum etwa die Epochenbegriffe, die Sengle seinem Riesenprojekt zugrunde legte, so obsolet wurden. Offenbar gibt es Wandlungen im „Gefüge der Praktiken“, von denen man annehmen kann, dass sie nicht von selbst entstehen, sondern von außen induziert sind.
Als Wissenschaft ist die „Praxeologie“ etwas Neues, als Gegenstand ist sie es nicht. Das Gespräch in der Cafeteria, der Klatsch auf dem Flur, der abendliche Umtrunk im Kreis der Kommilitonen oder Kollegen: Was die neue Disziplin weiß und noch in Erfahrung bringen möchte, besitzt einen langen Vorlauf in einem unordentlichen Wissen am informellen Rand des beruflichen Treibens. Auch der mittlerweile aus der Mode geratene Campusroman – die Bücher von David Lodge oder Dietrich Schwanitz vor allem – lebte von Erhebung des Tratsches zu einem eigenständigen literarischen Genre.
Martus und Spoerhase verweisen darüber hinaus auf die im Sommer 2021 begonnene, aber kurzlebige Netflix-Serie „Die Professorin“, die eine „Praxeologie“ der Geisteswissenschaften zur Unterhaltung eines großen Publikums anbot. Gemeinsam ist all diesen Formen des mehr oder minder gehobenen Gossip, dass sie eine geschlossene Welt voraussetzen. Sie lassen zur Einheit verschmelzen, was aus eigener Kraft womöglich keinen inneren Zusammenhalt bilden kann. Insofern erscheint es tatsächlich als sinnvoll, eine aktuelle „Praxeologie“ mit historischen Beispielen zu begründen. Die „Praxeologie“ wäre, so gesehen, nicht nur eine Lehre vom praktischen Umgang innerhalb einer akademischen Disziplin, sondern auch ein Programm zu deren Erhaltung.
Martus und Spoerhase sind am Ende so frei, die erwünschten praktischen Implikationen ihrer Lehre von der Praxis zu benennen. Offenbar fehlt es, ihrer Ansicht nach, in den entscheidenden Gremien der Politik oder der akademischen Verwaltung an Einsicht in das komplizierte innere Gefüge der Geisteswissenschaften, sodass man auf deren Notstände mit stets zu groß geratenden Ideen zur deren Reform reagiert. Jede „einheitliche Lösung“, die eine Krise der Geisteswissenschaften zu beseitigen verspreche, warnen die Autoren, werde eine solche Krise erst recht schaffen. „Pauschale“ Ideen könnten, wie sie meinen, die „Spezifik der praktizierten Geistesarbeit nur verfehlen“. Damit werden sie recht haben, wenn man einmal davon absieht, dass im „Gefüge der Praktiken“, das man nur zu respektieren hat, ein verallgemeinernder Konservativismus steckt, der dem Geist der „Lösungen“ entspricht, dem er zu widersprechen meint.
THOMAS STEINFELD
Ist der Geist
eigentlich nur an den
Universitäten zu Hause?
Der Klatsch auf dem Flur,
der abendliche Umtrunk,
das hat schon lang Tradition
Steffen Martus, Carlos Spoerhase: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der
Geisteswissenschaften. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 658 Seiten, 30 Euro.
War früher das Herumschicken von Sonderdrucken noch ein akademisches Kompliment, kommt es heute auf andere Dinge an. Studentin in der Bibliothek des Historicums der Ludwig-Maximilian-Universität in München.
Foto: Robert Haas
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»Das Buch ist über lange Strecken eine nicht nur anregende, sondern auch unterhaltsame Lektüre, weil es offenbart, wie eng in den Geisteswissenschaften gewisse Arbeitsbedingungen mit bestimmten Ergebnissen verbunden sind.« Thomas Steinfeld Süddeutsche Zeitung 20230318