Der Ausdruck »Geisteswissenschaftler« evoziert das Bild von einsamen Menschen am Schreibtisch, deren ganze Aufmerksamkeit der versunkenen Auseinandersetzung mit komplizierten Texten gilt. Aber stimmt dieses Bild? Nein, sagen Steffen Martus und Carlos Spoerhase, die in ihrem Buch im Rückgriff auf zahlreiche unpublizierte Quellen die Praxis der Geistesarbeit am Beispiel Peter Szondis und Friedrich Sengles untersuchen. Sie zeigen, was Forschen, Lehren und Verwalten im akademischen Alltag tatsächlich bedeuten, vor welchen Herausforderungen die Geistesarbeit jeden Tag steht und was sie leistet. Gegen die abstrakte Rede von der »Krise der Geisteswissenschaften« plädieren sie für eine Neujustierung des Blicks, und zwar darauf, was an einem geisteswissenschaftlichen Arbeitsplatz wirklich geschieht.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine Art Soziologie der Praxis der gegenwärtigen Geisteswissenschaften haben die beiden Literaturwissenschaftler Steffen Martus und Carlos Spoerhase vorgelegt, meint Kritiker Thomas Steinfeld. Er begreift den "Geist" der Geisteswissenschaft bei der Lektüre der 35 Kapitel als etwas Fluides, das am besten durch die mit ihm verknüpften Praktiken erfahrbar wird, sei es Kaffee kochen oder Konferenzen durchführen. Die beiden nähmen dafür das Leben zweier Wissenschaftler in den Blick, Peter Szondi und Friedrich Sengle, die allerdings schon vor fünfzig Jahren gelehrt haben - dass aus ihrer Arbeit Schlussfolgerungen für die heutige Situation gezogen werden, missfällt Steinfeld. Auch die Meinung, die Geisteswissenschaften nur erhalten zu müssen, statt von einer nötigen Reform auszugehen, ist ihm zu pauschal. Ansonsten aber anregend und informativ, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2023Arbeit am Genius
Eine Praxeologie der deutschen Universität
In letzter Zeit sind Formen und Praktiken literarischen und geisteswissenschaftlichen Arbeitens vermehrt in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die Baseler Literatursoziologin Carolin Amlinger hat mit "Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit" (F.A.Z. vom 16. Oktober 2021) ein viel gelobtes Buch über die politische und kulturelle Ökonomie der schriftstellerischen Arbeit geschrieben. Den konkreten Formen der Arbeit an Nipperdeys "Deutsche Geschichte 1800 - 1918" (F.A.Z. vom 25. April 2018) hat Paul Nolte ein ebenfalls viel gelobtes und viel gelesenes Buch gewidmet. Die breitere Öffentlichkeit erfährt in diesen Büchern viel über etwas, was, der Legende nach, eigentlich nur in Isolation stattfindet: die literarische und die forscherische Tätigkeit. Beides sind Tätigkeiten in konkreten Praxiszusammenhängen, die jeweils das Werk prägen. Das einsame forscherische Genie scheint hier in Formen der Kollaboration zu verschwinden.
Die Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase und Steffen Martus setzten mit ihrem Buch "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2022) diesen Forschungstrend im vergangenen Jahr fort (F.A.Z. vom 23. September). Sie erzählen ein Gegenprogramm: Die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde lange entweder als Geschichte der Ideen und Programme oder als Geschichte der Professionen und Institutionen geschrieben. Die programmatische Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag, wie Publizieren, Redigieren, Lesen (ob digital oder analog), Surfen oder Googeln, Lesen lassen, Korrigieren und Überarbeiten, Vortragen, Kollaborieren und Interpretieren, Telefonieren, Exzerpieren, Notieren, Annotieren und andere mehr treten an die Stelle der großen Ideen einer Wissenschaft vom Geist, den bekanntlich Friedrich Kittler schon 1980 diesen ausgetrieben hatte.
Zunächst einmal ist das Schreiben eines Buches im strengen Sinne keine einsame Tätigkeit, sondern eine in Netzwerken. Dem Schreiben geht idealerweise ein Lesen voraus. Das Literaturverzeichnis, das auch Schriften der beiden Autoren enthält, informiert über die Kon-Texte, in denen sich der Text bewegt. Die Danksagung informiert darüber, mit wem die beiden gesprochen haben, wer ihnen wertvolle Tipps gegeben hat, wer korrigiert, wer das Buch gesetzt, wer es lektoriert hat. Angesichts dieser Fülle von Tätigkeiten verblasst das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild des einsamen Forschers.
Das Buch von Martus und Spoerhase ist nicht nur eine packende Schilderung dessen, was Geisteswissenschaftler tun, sondern auch Aufklärung über die Mythen der Geisteswissenschaften und der Universität. Zu den großen Mythen der Universität gehört die Vorstellung vom forschenden (Professor) und lernenden Genie (Student). Es ist ja ohne Zweifel aufschlussreich, dass in Deutschland um 1800 alle Ideen zur Universitätsreform von Schriftstellern oder Philosophen kamen, die ganz wesentlich die Idee der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert geprägt haben. Daher ist das "Genie", das dann aus der universitären Bildung hervorgehen, aber idealerweise als solches eintreten soll, von Anfang an das schöpferische Genie, das schon Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" im Unterschied zum Gelehrten alter Schule gesehen hat. Das Genie, so Kant, bestehe nicht aus einer "Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse". Schelling sprach dann 1803 in seinen "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums dementsprechend davon, dass der Student ein "Künstler im Lernen" sei.
Das Forscher- und Studentengenie in seiner geheimnisvollen, nicht planbaren Produktivität ist eine sehr deutsche Leidenschaft. Diese Leidenschaft könnte man im Anschluss an Spoerhase und Martus als Konstruktionsfehler der Universität und ihres geisteswissenschaftlichen Betriebs analysieren, der sich, als Idee und als Institution, um 1800 tatsächlich dieser "Konstellation" von Dichtern und Philosophen verdankt. Das Betriebsgeheimnis der deutschen Universität besteht vielleicht aus einer Form der Enttäuschung über die Unrealisierbarkeit des Geniegedankens in Forschung und Lehre. Dass man aus dieser Enttäuschung lernen kann, zeigt die Praxeologie sehr eindrucksvoll. MARKUS STEINMAYR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Praxeologie der deutschen Universität
In letzter Zeit sind Formen und Praktiken literarischen und geisteswissenschaftlichen Arbeitens vermehrt in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die Baseler Literatursoziologin Carolin Amlinger hat mit "Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit" (F.A.Z. vom 16. Oktober 2021) ein viel gelobtes Buch über die politische und kulturelle Ökonomie der schriftstellerischen Arbeit geschrieben. Den konkreten Formen der Arbeit an Nipperdeys "Deutsche Geschichte 1800 - 1918" (F.A.Z. vom 25. April 2018) hat Paul Nolte ein ebenfalls viel gelobtes und viel gelesenes Buch gewidmet. Die breitere Öffentlichkeit erfährt in diesen Büchern viel über etwas, was, der Legende nach, eigentlich nur in Isolation stattfindet: die literarische und die forscherische Tätigkeit. Beides sind Tätigkeiten in konkreten Praxiszusammenhängen, die jeweils das Werk prägen. Das einsame forscherische Genie scheint hier in Formen der Kollaboration zu verschwinden.
Die Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase und Steffen Martus setzten mit ihrem Buch "Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2022) diesen Forschungstrend im vergangenen Jahr fort (F.A.Z. vom 23. September). Sie erzählen ein Gegenprogramm: Die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde lange entweder als Geschichte der Ideen und Programme oder als Geschichte der Professionen und Institutionen geschrieben. Die programmatische Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag, wie Publizieren, Redigieren, Lesen (ob digital oder analog), Surfen oder Googeln, Lesen lassen, Korrigieren und Überarbeiten, Vortragen, Kollaborieren und Interpretieren, Telefonieren, Exzerpieren, Notieren, Annotieren und andere mehr treten an die Stelle der großen Ideen einer Wissenschaft vom Geist, den bekanntlich Friedrich Kittler schon 1980 diesen ausgetrieben hatte.
Zunächst einmal ist das Schreiben eines Buches im strengen Sinne keine einsame Tätigkeit, sondern eine in Netzwerken. Dem Schreiben geht idealerweise ein Lesen voraus. Das Literaturverzeichnis, das auch Schriften der beiden Autoren enthält, informiert über die Kon-Texte, in denen sich der Text bewegt. Die Danksagung informiert darüber, mit wem die beiden gesprochen haben, wer ihnen wertvolle Tipps gegeben hat, wer korrigiert, wer das Buch gesetzt, wer es lektoriert hat. Angesichts dieser Fülle von Tätigkeiten verblasst das in der Öffentlichkeit weit verbreitete Bild des einsamen Forschers.
Das Buch von Martus und Spoerhase ist nicht nur eine packende Schilderung dessen, was Geisteswissenschaftler tun, sondern auch Aufklärung über die Mythen der Geisteswissenschaften und der Universität. Zu den großen Mythen der Universität gehört die Vorstellung vom forschenden (Professor) und lernenden Genie (Student). Es ist ja ohne Zweifel aufschlussreich, dass in Deutschland um 1800 alle Ideen zur Universitätsreform von Schriftstellern oder Philosophen kamen, die ganz wesentlich die Idee der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert geprägt haben. Daher ist das "Genie", das dann aus der universitären Bildung hervorgehen, aber idealerweise als solches eintreten soll, von Anfang an das schöpferische Genie, das schon Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" im Unterschied zum Gelehrten alter Schule gesehen hat. Das Genie, so Kant, bestehe nicht aus einer "Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse". Schelling sprach dann 1803 in seinen "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums dementsprechend davon, dass der Student ein "Künstler im Lernen" sei.
Das Forscher- und Studentengenie in seiner geheimnisvollen, nicht planbaren Produktivität ist eine sehr deutsche Leidenschaft. Diese Leidenschaft könnte man im Anschluss an Spoerhase und Martus als Konstruktionsfehler der Universität und ihres geisteswissenschaftlichen Betriebs analysieren, der sich, als Idee und als Institution, um 1800 tatsächlich dieser "Konstellation" von Dichtern und Philosophen verdankt. Das Betriebsgeheimnis der deutschen Universität besteht vielleicht aus einer Form der Enttäuschung über die Unrealisierbarkeit des Geniegedankens in Forschung und Lehre. Dass man aus dieser Enttäuschung lernen kann, zeigt die Praxeologie sehr eindrucksvoll. MARKUS STEINMAYR
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Buch ist über lange Strecken eine nicht nur anregende, sondern auch unterhaltsame Lektüre, weil es offenbart, wie eng in den Geisteswissenschaften gewisse Arbeitsbedingungen mit bestimmten Ergebnissen verbunden sind.« Thomas Steinfeld Süddeutsche Zeitung 20230318