Claudio Magris’ neue Erzählungen – Gedanken über das Altern und eine Hommage an seine Heimatstadt Triest
Die Protagonisten von Magris’ Geschichten haben es alle mit einer Zeit zu tun, die ohne Anfang und Ende zu sein scheint. Der reiche, alte Industrielle, der einen Schein-Rückzug aus dem Leben inszeniert; der Reisende, der im verschlafenen Donaustädtchen Krems, berührt von einem scheinbar unbedeutenden Zufall, die Zeitlosigkeit des Lebens und der Liebe entdeckt; der Musiklehrer, der seinen Schüler nach vielen Jahren in einer Begegnung zweideutiger Grausamkeit wiedersieht. Ironisch und schonungslos, melancholisch und nüchtern lassen Magris‘ Charaktere ihr Leben abklingen. Fünf Meistererzählungen über das Altern vom bedeutenden Triester Claudio Magris. Eines seiner besten Bücher.
Die Protagonisten von Magris’ Geschichten haben es alle mit einer Zeit zu tun, die ohne Anfang und Ende zu sein scheint. Der reiche, alte Industrielle, der einen Schein-Rückzug aus dem Leben inszeniert; der Reisende, der im verschlafenen Donaustädtchen Krems, berührt von einem scheinbar unbedeutenden Zufall, die Zeitlosigkeit des Lebens und der Liebe entdeckt; der Musiklehrer, der seinen Schüler nach vielen Jahren in einer Begegnung zweideutiger Grausamkeit wiedersieht. Ironisch und schonungslos, melancholisch und nüchtern lassen Magris‘ Charaktere ihr Leben abklingen. Fünf Meistererzählungen über das Altern vom bedeutenden Triester Claudio Magris. Eines seiner besten Bücher.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kristina Maidt-Zinke lernt mit Claudio Magris und seinen kleinen, weisen Erzählungen, dass der Autor im Alter nicht zum Schwatzen neigt und seine Helden - ein Schriftsteller, ein Industrieller im Ruhestand oder ein pensionierter Musiklehrer - gegen Ende des Lebens zu einer Leichtigkeit und Reflexion gelangen, die neidisch macht. Der Band ist gelungen, findet sie, sogar einmal der deutsche Titel. Der Leser kann laut Rezensentin erfahren, wie man würdevoll, wenngleich unter Kraftaufwand den Rückzug aus dem Leben antreten kann. Für Maidt-Zinke keine Kleinigkeit. Tipp von ihr: Mehrmals lesen, so offenbart sich die feine Ironie der Texte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2022Samtene Melancholie
Die Alterserzählungen von Claudio Magris
verbinden Momente persönlicher und kollektiver Geschichte - in dem von ihm geliebten Triest, aber auch auf einem Kafka-Kongress in Krems.
Was für ein Wesen ist ein alter Mensch? "Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte." Da er sich auf seine Motorik nicht mehr sicher verlassen kann, werden wenige Schritte zu Expeditionen. Auch sein Sehen verändert sich: "Seit einiger Zeit kam ihm vor, er könne den Blick nicht auf einen einzelnen Gegenstand richten, sondern sehe über die Dinge hinweg, als wären sie durchsichtig, und verliere sich mit seinen kurzsichtigen Augen in einer farblosen Ferne." Aber vor allem ist dieses Wesen sozial auf der Hut. Denn das, was es mit den anderen teilt, wird immer weniger wichtig. Das Jetzt ist nicht seine Zeit.
Oder besser: Das Jetzt ist nicht seine alleinige Zeit. Es ist nur eine Schicht, neben und über anderen Sedimenten von einst erlebter Gegenwart. Erinnerungswogen kommen, die den akuten Augenblick überspülen. Das führt manchmal zu Unterlassungen, Abschweifungen, Eskapaden, die dieses Wesen mit Welterfahrung vielleicht besser nicht kommuniziert, sondern eher diskret behandelt. "Im Übrigen war das Alter insgesamt ein Voranschreiten, um sich dann zurückzuziehen: Man wagte sich auf unbekanntes Terrain, um der Wirklichkeit zu entkommen, die einen von allen Seiten her bedrängte, schonungslos und aufdringlich."
Claudio Magris ist 83 Jahre alt, und etwa in diesem Alter sind die Helden seiner fünf Erzählungen. Sie mischen Momente des Alltags mit der Allgegenwart persönlicher und kollektiver Geschichte. Als Brennpunkt leuchtet Triest, die einstige Hafenstadt Österreich-Ungarns, in der Magris geboren wurde und in der er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Germanistik an der Universität unterrichtete. Das Caffè San Marco war sein Büro. Hier las er, schrieb, übersetzte, empfing. Und noch heute kann man ihn im Wiener Jugendstilambiente antreffen und darf ihn vielleicht bitten, sein großes Buch "Danube" zu signieren, in dem er der Donau von der Quelle im Schwarzwald bis ans Schwarze Meer folgt. Entlang des Flusslaufs entdeckte Claudio Magris ein aufregendes Mitteleuropa und schuf mit "Donau - Biographie eines Flusses" eine Sehnsuchtsregion.
In seinen neuen Erzählungen liegt die Vergangenheit, die seine Helden prägt, zwischen dem Ersten Weltkrieg, dem zerbrechenden Habsburgerreich also, und dem Holocaust, der jüdischem Leben in Europa ein Ende setzte. In diesem historischen Echoraum begegnen wir Lebensläufen aus verschiedenen Milieus.
Da ist der einstige Tagelöhner aus Mähren, Sohn eines Hufschmieds, der in Triest an der Börse spekulierte, nach und nach Unternehmen gründete und der, nach einem braven Leben ("Vorsitz über zwei, drei Gesellschaften und natürlich die Ehe samt dazugehörenden Kindern und Enkeln") im Alter seine Firmen so gut wie alle verkauft hat. Das Befehlen, das er um des Erfolges willen hatte lernen müssen, durfte er aufgeben, und auch der obligatorische gesellschaftliche Umgang mit den langweiligen Leuten ist ihm zunehmend fremd geworden. Stattdessen geht er jeden Morgen (inkognito) in die Portiersloge eines fünfstöckigen Appartementhauses, das ihm vermutlich noch gehört, um dort seine Ruhe zu haben. In seinem Kabuff beobachtet er, wie die Sonne über die Geranien wandert, freut sich am rituellen Grüßen der Bewohner, beim Plaudern mit dem Briefträger. Er kann in Zeitungen schauen, die er nicht mehr liest, oder auf Fotografien, die er aus der Schublade zieht und auf denen manchmal Mähren zurückkommt.
Oder der jüdische Geigenlehrer Salman Meierstein, geboren in Bilgoraj, Polen. Nach der Familie, die er vorschickte, hatte auch der Vater Bilgoraj verlassen, denn in der neuen polnischen Republik wurde das Leben für Juden noch schwieriger "als im wenige Jahre zuvor untergegangenen Habsburgerreich". Dieser Mann mit "Schläfenlocken, der nur Jiddisch sprach", kommt nach Triest und liebäugelt mit den zunächst nicht antisemitischen italienischen Faschisten ("'Dieser Mojschele' - so nannte er Mussolini - 'tut alles für uns'"). Salman wird Mitglied der faschistischen Jungorganisation Balilla. Als alter Mann nun besucht er seinen einstigen Schüler in dessen Familienvilla. Das soziale Gefälle ist geblieben, ja, es hat sich verstärkt. Seinem Schüler gelang im Unterschied zu ihm der Sprung zu einer internationalen Konzertkarriere. Und nun zeigt er ihm, dem alten Lehrer, ebenso lobgierig wie verlegen eine Eigenkomposition, die der Alte demütig entgegennimmt. Er würde etwas finden, sie zu loben, "und sie würde ihm auch gefallen, vielleicht ihm sogar noch mehr als dem anderen".
So durchzieht samtene Melancholie die Texte wie ein Innenfutter. Ein Schriftsteller, Ehrengast an einer Speisetafel, sieht auf den abgegessenen Teller seines Tischnachbarn, auf dessen Grund sich das Fett gesammelt hat, und fragt: "Diese Soße war noch vor Kurzem gut und appetitlich gewesen. Wer weiß, wo und wann es zu dem ersten Riss gekommen war, ob an einem bestimmten Punkt, wann es den Übergang vom gestärkten zum verschwitzten Kragen gegeben hatte."
Wehmut, Melancholie ist eine Antwort auf das Erleben der Zeit. Und was ist die Zeit? In der titelgebenden Geschichte nähert sich auf einem Kafka-Kongress in Krems dem gefeierten Professor eine Triestiner Dame "auf penetrante Weise diskret" und spricht ihn auf eine gemeinsame Jugendfreundin aus Schultagen an. Der Held aber ist sich sicher, dass diese, von ihm zwar angehimmelte, Nori S. ihn, den Jüngeren, niemals bemerkt hat. Schulerinnerungen steigen auf. Tage in Miramar, wo die Gymnasiasten ein berühmtes Zentrum für Physik besuchen sollten. Noris Haar mischt sich mit dem Licht vom Meer. Sätze über die Krümmung der Raumzeit kehren wieder und stellen das lineare Vorbei in Frage. Was, wenn alles nur ein Kreis wäre, und ich "bin schon an der Mündung der Donau, während ich noch ihren Wassern folge, um an die Mündung zu gelangen". Als ein Jahr später in Rom ein Freund wieder auf Nori zu sprechen kommt und ebenfalls sagt, dass sie viel von ihm erzähle, greift der alte Mann zum Telefon.
Was die Erzählungen verbindet, ist das Meer. Es erscheint als dauernde Ankunft, drohend, lockend, als Spiegel der Seele in all ihren Wettern und ist wohl auch ein Zeichen für die elementare Kraft einer alten utopischen Poesie, die in Habsburg ihre Heimat hat. ANGELIKA OVERATH
Claudio Magris: "Gekrümmte Zeit in Krems". Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Anna Leube. Carl Hanser
Verlag, München 2022.
94 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Alterserzählungen von Claudio Magris
verbinden Momente persönlicher und kollektiver Geschichte - in dem von ihm geliebten Triest, aber auch auf einem Kafka-Kongress in Krems.
Was für ein Wesen ist ein alter Mensch? "Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte." Da er sich auf seine Motorik nicht mehr sicher verlassen kann, werden wenige Schritte zu Expeditionen. Auch sein Sehen verändert sich: "Seit einiger Zeit kam ihm vor, er könne den Blick nicht auf einen einzelnen Gegenstand richten, sondern sehe über die Dinge hinweg, als wären sie durchsichtig, und verliere sich mit seinen kurzsichtigen Augen in einer farblosen Ferne." Aber vor allem ist dieses Wesen sozial auf der Hut. Denn das, was es mit den anderen teilt, wird immer weniger wichtig. Das Jetzt ist nicht seine Zeit.
Oder besser: Das Jetzt ist nicht seine alleinige Zeit. Es ist nur eine Schicht, neben und über anderen Sedimenten von einst erlebter Gegenwart. Erinnerungswogen kommen, die den akuten Augenblick überspülen. Das führt manchmal zu Unterlassungen, Abschweifungen, Eskapaden, die dieses Wesen mit Welterfahrung vielleicht besser nicht kommuniziert, sondern eher diskret behandelt. "Im Übrigen war das Alter insgesamt ein Voranschreiten, um sich dann zurückzuziehen: Man wagte sich auf unbekanntes Terrain, um der Wirklichkeit zu entkommen, die einen von allen Seiten her bedrängte, schonungslos und aufdringlich."
Claudio Magris ist 83 Jahre alt, und etwa in diesem Alter sind die Helden seiner fünf Erzählungen. Sie mischen Momente des Alltags mit der Allgegenwart persönlicher und kollektiver Geschichte. Als Brennpunkt leuchtet Triest, die einstige Hafenstadt Österreich-Ungarns, in der Magris geboren wurde und in der er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Germanistik an der Universität unterrichtete. Das Caffè San Marco war sein Büro. Hier las er, schrieb, übersetzte, empfing. Und noch heute kann man ihn im Wiener Jugendstilambiente antreffen und darf ihn vielleicht bitten, sein großes Buch "Danube" zu signieren, in dem er der Donau von der Quelle im Schwarzwald bis ans Schwarze Meer folgt. Entlang des Flusslaufs entdeckte Claudio Magris ein aufregendes Mitteleuropa und schuf mit "Donau - Biographie eines Flusses" eine Sehnsuchtsregion.
In seinen neuen Erzählungen liegt die Vergangenheit, die seine Helden prägt, zwischen dem Ersten Weltkrieg, dem zerbrechenden Habsburgerreich also, und dem Holocaust, der jüdischem Leben in Europa ein Ende setzte. In diesem historischen Echoraum begegnen wir Lebensläufen aus verschiedenen Milieus.
Da ist der einstige Tagelöhner aus Mähren, Sohn eines Hufschmieds, der in Triest an der Börse spekulierte, nach und nach Unternehmen gründete und der, nach einem braven Leben ("Vorsitz über zwei, drei Gesellschaften und natürlich die Ehe samt dazugehörenden Kindern und Enkeln") im Alter seine Firmen so gut wie alle verkauft hat. Das Befehlen, das er um des Erfolges willen hatte lernen müssen, durfte er aufgeben, und auch der obligatorische gesellschaftliche Umgang mit den langweiligen Leuten ist ihm zunehmend fremd geworden. Stattdessen geht er jeden Morgen (inkognito) in die Portiersloge eines fünfstöckigen Appartementhauses, das ihm vermutlich noch gehört, um dort seine Ruhe zu haben. In seinem Kabuff beobachtet er, wie die Sonne über die Geranien wandert, freut sich am rituellen Grüßen der Bewohner, beim Plaudern mit dem Briefträger. Er kann in Zeitungen schauen, die er nicht mehr liest, oder auf Fotografien, die er aus der Schublade zieht und auf denen manchmal Mähren zurückkommt.
Oder der jüdische Geigenlehrer Salman Meierstein, geboren in Bilgoraj, Polen. Nach der Familie, die er vorschickte, hatte auch der Vater Bilgoraj verlassen, denn in der neuen polnischen Republik wurde das Leben für Juden noch schwieriger "als im wenige Jahre zuvor untergegangenen Habsburgerreich". Dieser Mann mit "Schläfenlocken, der nur Jiddisch sprach", kommt nach Triest und liebäugelt mit den zunächst nicht antisemitischen italienischen Faschisten ("'Dieser Mojschele' - so nannte er Mussolini - 'tut alles für uns'"). Salman wird Mitglied der faschistischen Jungorganisation Balilla. Als alter Mann nun besucht er seinen einstigen Schüler in dessen Familienvilla. Das soziale Gefälle ist geblieben, ja, es hat sich verstärkt. Seinem Schüler gelang im Unterschied zu ihm der Sprung zu einer internationalen Konzertkarriere. Und nun zeigt er ihm, dem alten Lehrer, ebenso lobgierig wie verlegen eine Eigenkomposition, die der Alte demütig entgegennimmt. Er würde etwas finden, sie zu loben, "und sie würde ihm auch gefallen, vielleicht ihm sogar noch mehr als dem anderen".
So durchzieht samtene Melancholie die Texte wie ein Innenfutter. Ein Schriftsteller, Ehrengast an einer Speisetafel, sieht auf den abgegessenen Teller seines Tischnachbarn, auf dessen Grund sich das Fett gesammelt hat, und fragt: "Diese Soße war noch vor Kurzem gut und appetitlich gewesen. Wer weiß, wo und wann es zu dem ersten Riss gekommen war, ob an einem bestimmten Punkt, wann es den Übergang vom gestärkten zum verschwitzten Kragen gegeben hatte."
Wehmut, Melancholie ist eine Antwort auf das Erleben der Zeit. Und was ist die Zeit? In der titelgebenden Geschichte nähert sich auf einem Kafka-Kongress in Krems dem gefeierten Professor eine Triestiner Dame "auf penetrante Weise diskret" und spricht ihn auf eine gemeinsame Jugendfreundin aus Schultagen an. Der Held aber ist sich sicher, dass diese, von ihm zwar angehimmelte, Nori S. ihn, den Jüngeren, niemals bemerkt hat. Schulerinnerungen steigen auf. Tage in Miramar, wo die Gymnasiasten ein berühmtes Zentrum für Physik besuchen sollten. Noris Haar mischt sich mit dem Licht vom Meer. Sätze über die Krümmung der Raumzeit kehren wieder und stellen das lineare Vorbei in Frage. Was, wenn alles nur ein Kreis wäre, und ich "bin schon an der Mündung der Donau, während ich noch ihren Wassern folge, um an die Mündung zu gelangen". Als ein Jahr später in Rom ein Freund wieder auf Nori zu sprechen kommt und ebenfalls sagt, dass sie viel von ihm erzähle, greift der alte Mann zum Telefon.
Was die Erzählungen verbindet, ist das Meer. Es erscheint als dauernde Ankunft, drohend, lockend, als Spiegel der Seele in all ihren Wettern und ist wohl auch ein Zeichen für die elementare Kraft einer alten utopischen Poesie, die in Habsburg ihre Heimat hat. ANGELIKA OVERATH
Claudio Magris: "Gekrümmte Zeit in Krems". Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Anna Leube. Carl Hanser
Verlag, München 2022.
94 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2022Späte Leichtigkeit
des Seins
Einer, der auf die Zumutungen des Alters
nicht mit Geschwätzigkeit reagiert: Claudio Magris’
Erzählungsband „Gekrümmte Zeit in Krems“ ist
ein schmales Spätwerk von ungeheurer Weite
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Hier ist der deutsche Titel ausnahmsweise mal ein Glücksfall. „Gekrümmte Zeit in Krems“ wurde schlicht aus dem Italienischen übersetzt und wirkt doch viel kraftvoller als das Original, „Tempo curvo a Krems“: Durch Alliteration und Konsonanz scheinen der Name des Donaustädchens und der Begriff aus der Relativitätstheorie wie füreinander geschaffen. Mitteleuropa, das große Thema des Triestiners Claudio Magris, trifft die Raumzeitkrümmung, jene Entdeckung Einsteins, die bei aller Kompliziertheit umso interessanter wird, je mehr das Ende des eigenen Lebens ins Blickfeld rückt. Vermag sie doch die abenteuerliche Fantasie zu nähren, dass wir womöglich nicht unentrinnbar an die lineare Zeitachse gekettet sind, dass Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung nur in unserer begrenzten Sicht der Dinge gnadenlos aufeinander folgen, kurzum: dass die Gesetze des Universums uns mehr Spielraum lassen könnten, als wir uns vorzustellen wagen.
Um dieses Thema kreist die Titelgeschichte in Magris’ Erzählungsband, bei dem schon das schmale Format wie ein Statement anmutet: Der 1939 geborene Schriftsteller und Literaturwissenschaftler gehört nicht zu jenen, die im Alter immer mitteilsamer werden. Als Melancholiker reagiert er auf die Zumutungen der letzten Lebensphase mit Wortkargheit und Verknappung, führt geradezu ostentativ vor, dass das Interesse an ausgreifenden Fiktionen dem Streben nach Vervollkommnung der gedanklichen und sprachlichen Contenance gewichen ist. Und dass, wer dem Erzähler Magris begegnen will, auch in der kurzen Form den Essayisten mit in Kauf nehmen muss, weil keine Zeit mehr darauf verschwendet werden kann, die beiden voneinander zu trennen.
Die Protagonisten der fünf Geschichten sind alte Männer, Italiener mit bürgerlichen oder intellektuellen Biografien, geprägt durch die Verwerfungen des frühen 20. Jahrhunderts, durch Kriege, Rassenverfolgung, Flucht und Migration. Vier von ihnen leben in Triest, der fünfte hat im Piemont sein letztes Domizil gefunden. Sie sind keine Altersgenossen von Magris, denn ihre Jugend fand zum Teil noch in der Habsburgerzeit statt. Es ist, als habe der Autor sie vorausgeschickt, um sie erkunden zu lassen, was ihn selbst mit zunehmender Dringlichkeit beschäftigt: der schrittweise, möglichst würdevolle Rückzug, der auf die „große Verabschiedung von der Wirklichkeit“ hinausläuft.
Die Erzählungen verdichten dieses Lebensgefühl in Momentaufnahmen, in Szenen, die den Hauptfiguren einen Anlass zur Retrospektive geben, ihnen vor Augen führen, was ihnen widerfahren ist, was sie erreicht oder versäumt, erlitten oder zu spät erkannt haben. So unterschiedlich wie die Bilanzen ist das Ausmaß an Kraft, die das Individuum jeweils aufwenden muss, um sich von Vergangenem zu lösen.
Am besten gelingt das dem reichen, einst aus Mähren eingewanderten Industriellen, der sich nach dem Verkauf seiner Firmen das Vergnügen gönnt, in einer seiner Immobilien inkognito als Portier zu arbeiten. Er, der ehemalige Despot und Stratege, muss nun keine Befehle mehr erteilen und fühlt sich plötzlich frei, „nur noch neugierig und nicht mehr von den Dingen bedrängt“. In der stillen Portiersloge eines Gebäudes aus den Vierzigerjahren entzieht er sich auch den Ansprüchen seiner Familie, genießt die unverbindlichen Begegnungen mit den Hausbewohnern oder dem Briefträger und verrichtet kleine Handwerksarbeiten. „Nun war die Welt“, heißt es, „ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte.“ Und Claudio Magris schildert diese späte Leichtigkeit des Seins vor dem Hintergrund der alten Stadt am Meer so anziehend, dass man bald so etwas wie Sehnsucht nach einem solchen Lebensabend zu spüren glaubt.
Schwieriger ist die Situation des greisen jüdischen Schriftstellers, der im piemontesischen Lu Ferrato in einer ärmlichen Pension lebt und bei Literaturpreis-Events als Ehrengast und „genius loci“ auftreten darf. Oder die des pensionierten Musiklehrers, der vor dem Zweiten Weltkrieg als Sohn polnischer Juden nach Triest gekommen und später, nach einer Odyssee über Palästina und Amerika, dorthin zurückgekehrt war: Die Wiederbegegnung mit seinem Geigenschüler, einem zu Virtuosenruhm gelangten Spross der reichen Triestiner Gesellschaft, der eine „Hommage an die jüdische Tragödie“ komponiert hat, weckt peinvolle Erinnerungen. Ein Literaturwissenschaftler, Überlebender des Ersten Weltkriegs, wird bei den Dreharbeiten für die Verfilmung eines Romans, den sein Jugendfreund schrieb, mit schmerzlichen Reminiszenzen konfrontiert. Und der Kafka-Experte, dem auf einer Konferenz in Krems zugetragen wird, dass die von fern angebetete Geliebte seiner Schülerjahre eine reale Beziehung zu ihm gehabt haben soll, gerät durch Spekulationen über gekrümmte Zeit, Simultaneität und ewige Wiederkehr in „große Verwirrung“.
Die Geschichten sind kurz, aber ihre Atmosphären und ihre subtile Ironie offenbaren sich immer stärker bei mehrmaligem Lesen, sodass man mit diesem Büchlein mehr Zeit verbringen könnte als mit manch einem Roman. Auch der Übersetzung hätte an manchen Stellen etwas mehr Zeit gutgetan. Doch wer noch nicht im Rückzug aus der Welt begriffen ist, erlebt Zeit vornehmlich als Beschleunigung, der man sich zu unterwerfen hat. Zur Relativitätstheorie gehört auch die Beobachtung, dass eine Uhr am Rand einer stark rotierenden Scheibe langsamer geht als eine, die sich nahe dem Zentrum befindet. Das lässt sich auf Magris’ Figuren übertragen: Erst ganz am Rand, kurz vor dem Hinausgeschleudertwerden, stellt sich die Ruhe zur Reflexion ein. Diese eigenartige Spannung trägt das kleine Spätwerk, das überraschend weite Räume eröffnet.
Mit zunehmender Dringlichkeit
beschäftigt ihn der schrittweise,
möglichst würdevolle Rückzug
Ein Industrieller arbeitet
in einer seiner Immobilien
inkognito als Portier
Claudio Magris wurde 1939 in Triest geboren und war dort bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 Professor für moderne deutschsprachige Literatur. Foto: picture alliance/dpa
„Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte." – Triest ist der Schauplatz von Magris' neuen Geschichten.
Foto: imago
Claudio Magris: Gekrümmte Zeit in Krems. Roman. Aus dem Italienischen von Anna Leube. Hanser, München 2022. 96 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Seins
Einer, der auf die Zumutungen des Alters
nicht mit Geschwätzigkeit reagiert: Claudio Magris’
Erzählungsband „Gekrümmte Zeit in Krems“ ist
ein schmales Spätwerk von ungeheurer Weite
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Hier ist der deutsche Titel ausnahmsweise mal ein Glücksfall. „Gekrümmte Zeit in Krems“ wurde schlicht aus dem Italienischen übersetzt und wirkt doch viel kraftvoller als das Original, „Tempo curvo a Krems“: Durch Alliteration und Konsonanz scheinen der Name des Donaustädchens und der Begriff aus der Relativitätstheorie wie füreinander geschaffen. Mitteleuropa, das große Thema des Triestiners Claudio Magris, trifft die Raumzeitkrümmung, jene Entdeckung Einsteins, die bei aller Kompliziertheit umso interessanter wird, je mehr das Ende des eigenen Lebens ins Blickfeld rückt. Vermag sie doch die abenteuerliche Fantasie zu nähren, dass wir womöglich nicht unentrinnbar an die lineare Zeitachse gekettet sind, dass Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung nur in unserer begrenzten Sicht der Dinge gnadenlos aufeinander folgen, kurzum: dass die Gesetze des Universums uns mehr Spielraum lassen könnten, als wir uns vorzustellen wagen.
Um dieses Thema kreist die Titelgeschichte in Magris’ Erzählungsband, bei dem schon das schmale Format wie ein Statement anmutet: Der 1939 geborene Schriftsteller und Literaturwissenschaftler gehört nicht zu jenen, die im Alter immer mitteilsamer werden. Als Melancholiker reagiert er auf die Zumutungen der letzten Lebensphase mit Wortkargheit und Verknappung, führt geradezu ostentativ vor, dass das Interesse an ausgreifenden Fiktionen dem Streben nach Vervollkommnung der gedanklichen und sprachlichen Contenance gewichen ist. Und dass, wer dem Erzähler Magris begegnen will, auch in der kurzen Form den Essayisten mit in Kauf nehmen muss, weil keine Zeit mehr darauf verschwendet werden kann, die beiden voneinander zu trennen.
Die Protagonisten der fünf Geschichten sind alte Männer, Italiener mit bürgerlichen oder intellektuellen Biografien, geprägt durch die Verwerfungen des frühen 20. Jahrhunderts, durch Kriege, Rassenverfolgung, Flucht und Migration. Vier von ihnen leben in Triest, der fünfte hat im Piemont sein letztes Domizil gefunden. Sie sind keine Altersgenossen von Magris, denn ihre Jugend fand zum Teil noch in der Habsburgerzeit statt. Es ist, als habe der Autor sie vorausgeschickt, um sie erkunden zu lassen, was ihn selbst mit zunehmender Dringlichkeit beschäftigt: der schrittweise, möglichst würdevolle Rückzug, der auf die „große Verabschiedung von der Wirklichkeit“ hinausläuft.
Die Erzählungen verdichten dieses Lebensgefühl in Momentaufnahmen, in Szenen, die den Hauptfiguren einen Anlass zur Retrospektive geben, ihnen vor Augen führen, was ihnen widerfahren ist, was sie erreicht oder versäumt, erlitten oder zu spät erkannt haben. So unterschiedlich wie die Bilanzen ist das Ausmaß an Kraft, die das Individuum jeweils aufwenden muss, um sich von Vergangenem zu lösen.
Am besten gelingt das dem reichen, einst aus Mähren eingewanderten Industriellen, der sich nach dem Verkauf seiner Firmen das Vergnügen gönnt, in einer seiner Immobilien inkognito als Portier zu arbeiten. Er, der ehemalige Despot und Stratege, muss nun keine Befehle mehr erteilen und fühlt sich plötzlich frei, „nur noch neugierig und nicht mehr von den Dingen bedrängt“. In der stillen Portiersloge eines Gebäudes aus den Vierzigerjahren entzieht er sich auch den Ansprüchen seiner Familie, genießt die unverbindlichen Begegnungen mit den Hausbewohnern oder dem Briefträger und verrichtet kleine Handwerksarbeiten. „Nun war die Welt“, heißt es, „ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte.“ Und Claudio Magris schildert diese späte Leichtigkeit des Seins vor dem Hintergrund der alten Stadt am Meer so anziehend, dass man bald so etwas wie Sehnsucht nach einem solchen Lebensabend zu spüren glaubt.
Schwieriger ist die Situation des greisen jüdischen Schriftstellers, der im piemontesischen Lu Ferrato in einer ärmlichen Pension lebt und bei Literaturpreis-Events als Ehrengast und „genius loci“ auftreten darf. Oder die des pensionierten Musiklehrers, der vor dem Zweiten Weltkrieg als Sohn polnischer Juden nach Triest gekommen und später, nach einer Odyssee über Palästina und Amerika, dorthin zurückgekehrt war: Die Wiederbegegnung mit seinem Geigenschüler, einem zu Virtuosenruhm gelangten Spross der reichen Triestiner Gesellschaft, der eine „Hommage an die jüdische Tragödie“ komponiert hat, weckt peinvolle Erinnerungen. Ein Literaturwissenschaftler, Überlebender des Ersten Weltkriegs, wird bei den Dreharbeiten für die Verfilmung eines Romans, den sein Jugendfreund schrieb, mit schmerzlichen Reminiszenzen konfrontiert. Und der Kafka-Experte, dem auf einer Konferenz in Krems zugetragen wird, dass die von fern angebetete Geliebte seiner Schülerjahre eine reale Beziehung zu ihm gehabt haben soll, gerät durch Spekulationen über gekrümmte Zeit, Simultaneität und ewige Wiederkehr in „große Verwirrung“.
Die Geschichten sind kurz, aber ihre Atmosphären und ihre subtile Ironie offenbaren sich immer stärker bei mehrmaligem Lesen, sodass man mit diesem Büchlein mehr Zeit verbringen könnte als mit manch einem Roman. Auch der Übersetzung hätte an manchen Stellen etwas mehr Zeit gutgetan. Doch wer noch nicht im Rückzug aus der Welt begriffen ist, erlebt Zeit vornehmlich als Beschleunigung, der man sich zu unterwerfen hat. Zur Relativitätstheorie gehört auch die Beobachtung, dass eine Uhr am Rand einer stark rotierenden Scheibe langsamer geht als eine, die sich nahe dem Zentrum befindet. Das lässt sich auf Magris’ Figuren übertragen: Erst ganz am Rand, kurz vor dem Hinausgeschleudertwerden, stellt sich die Ruhe zur Reflexion ein. Diese eigenartige Spannung trägt das kleine Spätwerk, das überraschend weite Räume eröffnet.
Mit zunehmender Dringlichkeit
beschäftigt ihn der schrittweise,
möglichst würdevolle Rückzug
Ein Industrieller arbeitet
in einer seiner Immobilien
inkognito als Portier
Claudio Magris wurde 1939 in Triest geboren und war dort bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 Professor für moderne deutschsprachige Literatur. Foto: picture alliance/dpa
„Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht mehr beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte." – Triest ist der Schauplatz von Magris' neuen Geschichten.
Foto: imago
Claudio Magris: Gekrümmte Zeit in Krems. Roman. Aus dem Italienischen von Anna Leube. Hanser, München 2022. 96 Seiten, 20 Euro.
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"Die Alterserzählungen von Claudio Magris verbinden Momente persönlicher und kollektiver Geschichte. [...] samtene Melancholie [durchzieht] die Texte wie ein Innenfutter." Angelika Overath, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.06.22
"Manches bei Magris liest sich gewiss aus der Zeit gefallen. Trotzdem ist diese stillschöne Prosa bedrängend aktuell. Zeigt sie doch, wie schnell der Sturm hartherziger Weltereignisse ein sicher geglaubtes Glück davonwehen kann." Georg Leisten, Südwest Presse, 04.06.22
"Der schmale Band dürfte sehr bald zum Besten gezählt werden, was der Triestiner Autor geschrieben hat." Alexander Kluy, Wiener Zeitung, 30.04.22
"Manches bei Magris liest sich gewiss aus der Zeit gefallen. Trotzdem ist diese stillschöne Prosa bedrängend aktuell. Zeigt sie doch, wie schnell der Sturm hartherziger Weltereignisse ein sicher geglaubtes Glück davonwehen kann." Georg Leisten, Südwest Presse, 04.06.22
"Der schmale Band dürfte sehr bald zum Besten gezählt werden, was der Triestiner Autor geschrieben hat." Alexander Kluy, Wiener Zeitung, 30.04.22