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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Alterserzählungen von Claudio Magris
verbinden Momente persönlicher und kollektiver Geschichte - in dem von ihm geliebten Triest, aber auch auf einem Kafka-Kongress in Krems.
Was für ein Wesen ist ein alter Mensch? "Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte." Da er sich auf seine Motorik nicht mehr sicher verlassen kann, werden wenige Schritte zu Expeditionen. Auch sein Sehen verändert sich: "Seit einiger Zeit kam ihm vor, er könne den Blick nicht auf einen einzelnen Gegenstand richten, sondern sehe über die Dinge hinweg, als wären sie durchsichtig, und verliere sich mit seinen kurzsichtigen Augen in einer farblosen Ferne." Aber vor allem ist dieses Wesen sozial auf der Hut. Denn das, was es mit den anderen teilt, wird immer weniger wichtig. Das Jetzt ist nicht seine Zeit.
Oder besser: Das Jetzt ist nicht seine alleinige Zeit. Es ist nur eine Schicht, neben und über anderen Sedimenten von einst erlebter Gegenwart. Erinnerungswogen kommen, die den akuten Augenblick überspülen. Das führt manchmal zu Unterlassungen, Abschweifungen, Eskapaden, die dieses Wesen mit Welterfahrung vielleicht besser nicht kommuniziert, sondern eher diskret behandelt. "Im Übrigen war das Alter insgesamt ein Voranschreiten, um sich dann zurückzuziehen: Man wagte sich auf unbekanntes Terrain, um der Wirklichkeit zu entkommen, die einen von allen Seiten her bedrängte, schonungslos und aufdringlich."
Claudio Magris ist 83 Jahre alt, und etwa in diesem Alter sind die Helden seiner fünf Erzählungen. Sie mischen Momente des Alltags mit der Allgegenwart persönlicher und kollektiver Geschichte. Als Brennpunkt leuchtet Triest, die einstige Hafenstadt Österreich-Ungarns, in der Magris geboren wurde und in der er bis zu seiner Emeritierung als Professor für Germanistik an der Universität unterrichtete. Das Caffè San Marco war sein Büro. Hier las er, schrieb, übersetzte, empfing. Und noch heute kann man ihn im Wiener Jugendstilambiente antreffen und darf ihn vielleicht bitten, sein großes Buch "Danube" zu signieren, in dem er der Donau von der Quelle im Schwarzwald bis ans Schwarze Meer folgt. Entlang des Flusslaufs entdeckte Claudio Magris ein aufregendes Mitteleuropa und schuf mit "Donau - Biographie eines Flusses" eine Sehnsuchtsregion.
In seinen neuen Erzählungen liegt die Vergangenheit, die seine Helden prägt, zwischen dem Ersten Weltkrieg, dem zerbrechenden Habsburgerreich also, und dem Holocaust, der jüdischem Leben in Europa ein Ende setzte. In diesem historischen Echoraum begegnen wir Lebensläufen aus verschiedenen Milieus.
Da ist der einstige Tagelöhner aus Mähren, Sohn eines Hufschmieds, der in Triest an der Börse spekulierte, nach und nach Unternehmen gründete und der, nach einem braven Leben ("Vorsitz über zwei, drei Gesellschaften und natürlich die Ehe samt dazugehörenden Kindern und Enkeln") im Alter seine Firmen so gut wie alle verkauft hat. Das Befehlen, das er um des Erfolges willen hatte lernen müssen, durfte er aufgeben, und auch der obligatorische gesellschaftliche Umgang mit den langweiligen Leuten ist ihm zunehmend fremd geworden. Stattdessen geht er jeden Morgen (inkognito) in die Portiersloge eines fünfstöckigen Appartementhauses, das ihm vermutlich noch gehört, um dort seine Ruhe zu haben. In seinem Kabuff beobachtet er, wie die Sonne über die Geranien wandert, freut sich am rituellen Grüßen der Bewohner, beim Plaudern mit dem Briefträger. Er kann in Zeitungen schauen, die er nicht mehr liest, oder auf Fotografien, die er aus der Schublade zieht und auf denen manchmal Mähren zurückkommt.
Oder der jüdische Geigenlehrer Salman Meierstein, geboren in Bilgoraj, Polen. Nach der Familie, die er vorschickte, hatte auch der Vater Bilgoraj verlassen, denn in der neuen polnischen Republik wurde das Leben für Juden noch schwieriger "als im wenige Jahre zuvor untergegangenen Habsburgerreich". Dieser Mann mit "Schläfenlocken, der nur Jiddisch sprach", kommt nach Triest und liebäugelt mit den zunächst nicht antisemitischen italienischen Faschisten ("'Dieser Mojschele' - so nannte er Mussolini - 'tut alles für uns'"). Salman wird Mitglied der faschistischen Jungorganisation Balilla. Als alter Mann nun besucht er seinen einstigen Schüler in dessen Familienvilla. Das soziale Gefälle ist geblieben, ja, es hat sich verstärkt. Seinem Schüler gelang im Unterschied zu ihm der Sprung zu einer internationalen Konzertkarriere. Und nun zeigt er ihm, dem alten Lehrer, ebenso lobgierig wie verlegen eine Eigenkomposition, die der Alte demütig entgegennimmt. Er würde etwas finden, sie zu loben, "und sie würde ihm auch gefallen, vielleicht ihm sogar noch mehr als dem anderen".
So durchzieht samtene Melancholie die Texte wie ein Innenfutter. Ein Schriftsteller, Ehrengast an einer Speisetafel, sieht auf den abgegessenen Teller seines Tischnachbarn, auf dessen Grund sich das Fett gesammelt hat, und fragt: "Diese Soße war noch vor Kurzem gut und appetitlich gewesen. Wer weiß, wo und wann es zu dem ersten Riss gekommen war, ob an einem bestimmten Punkt, wann es den Übergang vom gestärkten zum verschwitzten Kragen gegeben hatte."
Wehmut, Melancholie ist eine Antwort auf das Erleben der Zeit. Und was ist die Zeit? In der titelgebenden Geschichte nähert sich auf einem Kafka-Kongress in Krems dem gefeierten Professor eine Triestiner Dame "auf penetrante Weise diskret" und spricht ihn auf eine gemeinsame Jugendfreundin aus Schultagen an. Der Held aber ist sich sicher, dass diese, von ihm zwar angehimmelte, Nori S. ihn, den Jüngeren, niemals bemerkt hat. Schulerinnerungen steigen auf. Tage in Miramar, wo die Gymnasiasten ein berühmtes Zentrum für Physik besuchen sollten. Noris Haar mischt sich mit dem Licht vom Meer. Sätze über die Krümmung der Raumzeit kehren wieder und stellen das lineare Vorbei in Frage. Was, wenn alles nur ein Kreis wäre, und ich "bin schon an der Mündung der Donau, während ich noch ihren Wassern folge, um an die Mündung zu gelangen". Als ein Jahr später in Rom ein Freund wieder auf Nori zu sprechen kommt und ebenfalls sagt, dass sie viel von ihm erzähle, greift der alte Mann zum Telefon.
Was die Erzählungen verbindet, ist das Meer. Es erscheint als dauernde Ankunft, drohend, lockend, als Spiegel der Seele in all ihren Wettern und ist wohl auch ein Zeichen für die elementare Kraft einer alten utopischen Poesie, die in Habsburg ihre Heimat hat. ANGELIKA OVERATH
Claudio Magris: "Gekrümmte Zeit in Krems". Erzählungen.
Aus dem Italienischen von Anna Leube. Carl Hanser
Verlag, München 2022.
94 S., geb., 20,- Euro.
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"Manches bei Magris liest sich gewiss aus der Zeit gefallen. Trotzdem ist diese stillschöne Prosa bedrängend aktuell. Zeigt sie doch, wie schnell der Sturm hartherziger Weltereignisse ein sicher geglaubtes Glück davonwehen kann." Georg Leisten, Südwest Presse, 04.06.22
"Der schmale Band dürfte sehr bald zum Besten gezählt werden, was der Triestiner Autor geschrieben hat." Alexander Kluy, Wiener Zeitung, 30.04.22