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Steht es dem Schriftsteller frei, einen historischen Stoff in einem literarischen Text nach eigenen Maßgaben zu verändern? Von Platon bis Philip Roth reicht das Spektrum der Texte, anhand derer Ruth Klüger dieser Fragestellung nachgeht. Was ist wahr? - Wie steht es um das Verhältnis des geschichtlichen Faktums zum Erzählen davon? - Ruth Klüger beschäftigen seit vielen Jahren die philosophischen, moralischen und nicht zuletzt ästhetischen Dimensionen dieses Problems. Warum hat der Dramatiker Schiller Jeanne d'Arc auf dem Schlachtfeld sterben lassen, wiewohl er es als Historiker besser wußte?…mehr

Produktbeschreibung
Steht es dem Schriftsteller frei, einen historischen Stoff in einem literarischen Text nach eigenen Maßgaben zu verändern? Von Platon bis Philip Roth reicht das Spektrum der Texte, anhand derer Ruth Klüger dieser Fragestellung nachgeht. Was ist wahr? - Wie steht es um das Verhältnis des geschichtlichen Faktums zum Erzählen davon? - Ruth Klüger beschäftigen seit vielen Jahren die philosophischen, moralischen und nicht zuletzt ästhetischen Dimensionen dieses Problems. Warum hat der Dramatiker Schiller Jeanne d'Arc auf dem Schlachtfeld sterben lassen, wiewohl er es als Historiker besser wußte? Wieso können wir es leicht hinnehmen, daß er Maria Stuart so deutlich "verjüngt", fänden es aber unverzeihlich, hätte Tolstoi Napoleons Niederlage im Rußlandfeldzug unterschlagen? Warum wird ein und derselbe Text ganz neu gelesen, wenn man erfährt, daß sein Verfasser nicht eigene Erinnerungen aufgeschrieben hat, etwa als ein Überlebender der Lager, sondern eine Romanhandlung in Ich-Form erfunden hat? Warum findet man unter Umständen kitschig, wovon man vorher ergriffen war? "Die Autobiographie ist ein Werk, in dem Erzähler und Autor zusammenfallen, eins sind." Und so gewiß Ruth Klüger das Schreiben über die eigenen Erfahrungen in einem Grenzdorf zwischen Geschichte und Belletristik angesiedelt sieht, so sicher hält sie fest an der Identität eines Ich, das Zeugnis ablegen kann.
Autorenporträt
Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Groß Rosen; sie emigrierte 1947 in die USA und studierte in New York und Berkeley. Als Professorin für Germanistik lehrte sie an der University of Virginia, an der Princeton University sowie an der University of California in Irvine und war lange Herausgeberin des "German Quarterly". Sie lebt heute in Irvine und Göttingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2006

Der zerbrochene Kamm
Zurück zur Wirklichkeit: Ruth Klügers Aufsätze zur Literatur

Die Abkehr vom Nachahmungsprinzip war im achtzehnten Jahrhundert ein Akt der Selbstbehauptung der Kunst gegen die Zudringlichkeit einer instrumentalisierten Vernunft, der nicht wenig zur beispiellosen Blüte der deutschen Literatur beigetragen hat. Die Widersprüche des Autonomiepostulats aber traten erst in der Moderne hervor. Das literarische Feld konstituierte sich als symbolische Sphäre der Unabhängigkeit vom Gesellschaftlichen, zugleich wurde die Wirklichkeit zur bloßen Außenseite einer Unendlichkeit des Möglichen herabgewürdigt. Der ästhetische Absolutismus hoher Literatur verabschiedete sich im Namen einer überlegenen Wahrheit von der Auseinandersetzung mit den real handelnden und leidenden Menschen und ihrer Geschichte.

Nach den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dieser Abschied noch einmal akademisch bekräftigt. Die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger, bei der nach ihrer bewegenden Biographie beinahe in den Hintergrund gerückt scheint, daß sie eine bedeutende Literaturwissenschaftlerin ist, hält das im Rückblick für eine Fehlentwicklung: "Es ist bezeichnend, daß gerade eine Generation wie die meine, die gebeutelt von Krieg und Holocaust zum Studium kam, belehrt wurde, daß selbst beim Lesen von Kriegsromanen politische und historische Fragen nichts zu suchen hätten. Und wir waren doch junge Menschen, die gern Erklärungen gehabt hätten für den Erdrutsch, den wir gerade mit knapper Not überlebt hatten. Aber das war in Amerika nicht zu haben, genausowenig wie in Deutschland. Alles war festgelegt, die Fakten waren die Fakten, und die Dichtung war beschränkt aufs rein Menschliche und etwas später, mit dem Dekonstruktivismus, aufs rein Sprachliche."

Daher fragt sich Ruth Klüger in der vorliegenden Sammlung ihrer jüngsten Aufsätze und Reden, ob die Literaturwissenschaft nicht die Flucht vor einer geschichtlichen Wirklichkeit befördert hat, "die man am eigenen fast verbrannten Fleisch erlebt hatte". Dabei scheint es ihr so absurd wie bezeichnend, daß der belgische Literaturwissenschaftler, der seine antisemitischen Schriften verschwieg, nämlich jener Paul de Man, der den Dekonstruktivismus erfolgreich nach Amerika exportierte, "besonders viele jüdische Studenten zu seinen Jüngern zählte". Es könne sein, daß sie sich derart der Erniedrigung durch den Holocaust hätten entziehen wollen oder müssen.

Die anschwellende Diskussion über den Holocaust aber hat die Frage nach dem Verhältnis von Literatur, Wirklichkeit und Geschichte gegenläufig zum Erfolg dekonstruktivistischer Thesen wieder auf die Tagesordnung gesetzt. "Bei der Holocaust-Literatur werden oft auch nur geringe Abweichungen von der historischen Wirklichkeit vom Leser als Beleidigung empfunden. Der Einwand: so war es nicht, so stimmt es nicht, der leicht naiv erscheint, wiegt hier schwerer als bei anderen historischen Fiktionen." Gleichzeitig aber werde Fiktionen Geltung eingeräumt, "die unserem Bedürfnis entgegenkommen, das Grauen auch richtig auszuschöpfen und auszukosten". So sei in der Verwischung der Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit "eine schizophrene Bewußtseinslage" entstanden, die es erfordere, die abgetan scheinende Frage nach Wahrheit und Lüge der Literatur neu zu stellen.

Ein so exemplarischer wie irritierender Fall ist für Ruth Klüger das Buch "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch", das 1948 unter dem Namen des jüdischen Überlebenden erschienen war, 1992 aber noch einmal unter dem des Romanciers Wolfgang Koeppen herausgegeben wurde.

"Der Unterschied ist ein Buch von einem Juden oder ein Buch über die Juden von einem Nichtjuden. Das Buch ist voller Meinungsäußerungen, über Strafe und Gerechtigkeit, auch über das Mitwirken der Judenräte an den Verbrechen, und endet mit einem weinerlichen Versöhnungspathos. Wenn das nun die Meinungsäußerungen des jüdischen Überlebenden sein sollen, in Wirklichkeit aber die Parolen eines deutschen Nichtjuden sind, so handelt es sich schlicht um Lüge, nicht um Fiktion." So ist der Text von 1948 verlogener als der von 1992, obwohl sie identisch sind. Aber auch die Edition unter Koeppens Namen ist von Lügen umgeben. In dem beigegebenen Vorwort leugnet Koeppen, Littner persönlich gekannt zu haben und von einem damals vorliegenden Manuskript zu wissen. In Wahrheit habe Koeppen fast alles nur leicht verändert abgeschrieben. Ruth Klüger will Koeppen und dem Suhrkamp Verlag die Redlichkeit nicht völlig absprechen, gleichwohl laufe die Edition faktisch auf "eine letzte Enteignung und Erniedrigung" der Erinnerungen Littners, gleichsam auf eine "Arisierung" jüdischen Erlebens hinaus.

Mit Erinnerungen wahrhaftig und ohne falsche Sentimentalität umzugehen ist um so notwendiger, als die Holocaust-Darstellung zu einem florierenden Geschäftszweig geworden ist. Erinnerung ist für Ruth Klüger "ein Graus, eine Zumutung, eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit", zugleich aber ist die "Erinnerung an das Leiden auch eine Art Schatz, ein Besitz, und wer ihn uns entreißen will, macht uns ärmer". Die Sammelwut der "Shoa-Beflissenen" der oral history ist der Überlebenden freilich verdächtig. "Man wird nicht zum Zeugen, sondern zum Rohmaterial." Aber der Holocaust eignet sich eben "hervorragend für Kitsch und Pornographie", wie sich nicht nur an dem Film "Schindlers Liste" von Spielberg zeigen läßt. In die leidenschaftliche Entrüstung Claude Lanzmanns aber will Ruth Klüger nicht einstimmen. Die Unterscheidung zwischen Kitsch und Kunst sei zwar bei diesem heiklen Thema durchaus dienlich, sie dürfe aber nicht auf die Restitution eines Bilderverbots hinauslaufen.

Die Frage nach dem Zusammenhang von Literatur und Geschichte führt die Autorin auch zurück zur Autonomieästhetik der deutschen Klassik, in der sie die Anfänge der Flucht vor der Wirklichkeit kenntlich macht. Am Beispiel der "Jungfrau von Orleans" wirft sie ausgerechnet dem Historiker Schiller Mißachtung der Geschichte vor. "Schiller strebte eine höhere Wahrheit an und begrub dabei die historische Aktualität so gründlich, daß sie nicht umhin konnte, aus ihrem seichten Grab aufzustehen und uns Heutigen den Spaß an diesem Trauerspiel zu verderben." Das Besondere und Einmalige des Lebens der Jeanne d'Arc sei hier dem abstrakten Ideal des Kampfs um das Vaterland zum Opfer gefallen. Nicht zufällig zitiert Ruth Klüger Büchners Überzeugung, daß der ästhetische Idealismus "die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur" sei. Jedoch hält sich die Autorin von dogmatischer Verurteilung fern. In "Don Carlos" seien die Geschichtsklitterungen zu ertragen oder sogar heute noch interessant: Es sei "die Dialektik von Fortschritt und Reaktion, die dieses Drama so unverwüstlich macht".

Kleists Geschichtsbewußtsein steht ihr freilich näher, er bringe Geschichte in Bewegung, gerade wenn er anachronistisch verfahre, wie in dem Gespräch des Michael Kohlhaas mit Luther. Ideen, die in der Geschichte eine bewegende Rolle gespielt haben, soll die Literatur darstellen, nicht deren Kostüm. Wenn die Fiktion sich der Geschichte bedient, muß sie einen Weg finden, mit den Fakten umzugehen, denn diese hemmen die Phantasie keineswegs.

Das schließt aber die Möglichkeit ein, "sich die Geschichte anders vorzustellen, als es die Fakten erlauben, also eine alternative Geschichte zu erfinden, von der die Leser wohl wissen, daß sie nicht stattgefunden hat". Bei der Gelegenheit verrät Ruth Klüger, daß ihr zwei Novellenprojekte durch den Kopf gehen, deren Ausführung sie dem Leser leider vorenthalten will. Die eine Erzählung würde "Lessing verkauft seine Bücher" heißen und sich eher faktengetreu mit der Kehrseite der Aufklärung befassen. Der Held würde darin als ein periodisch verzweifelnder Glücksspieler auftreten. Die andere Novelle würde ein Beispiel für alternative Geschichtsbildung abgeben. Sie würde erzählen, was passiert wäre, wenn Lili Schönemann Goethe fester gebunden hätte, so daß er nicht zur kleinstaatlichen Aristokratie hätte davonlaufen können.

Goethe wäre dann zunächst nach Italien gereist, und hernach hätte er Frau Schönemann geheiratet und in Frankfurt mit Romanen und Erzählungen statt mit Dramen in Blankversen oder Epen in Hexametern die deutsche bürgerliche Literatur begründet. Ein bißchen Lyrik wäre neben dem Engagement in städtischen Angelegenheiten auch noch angefallen. Wie man solche Geschichten schreibt, habe Thomas Mann gezeigt. Bei ihm sei "das Individuelle und das Geschichtliche, das Erfundene und das Überlieferte auf nahezu perfekte Weise verknüpft".

Es gibt aber noch ein dritte Möglichkeit, "nämlich aus der Geschichte auszuscheren und ein Gegenmodell zu errichten". Das geschieht in der Utopie als Geschichte, wie sie nie stattgefunden hat, und in der Dystopie, wie sie keinesfalls stattfinden sollte. Zu diesen Gattungen hätte die deutsche Literatur wenig Bemerkenswertes beigetragen, gäbe es nicht Theodor Herzl, in dessen Werk Utopie und geschichtlicher Entwurf eine Einheit bilden wie nirgendwo anders. Freilich wollte sich Herzl selbst nicht als Erfinder "einer lieblichen Utopie" verstanden wissen.

Er wollte eine Generation erreichen, die ins wirkliche Geschehen eingreifen kann, und das in der Schaffung des Judenstaats schließlich tat, wenngleich nicht genau so, wie Herzl es sich dachte. Dem Geschichtlichen entkommt auch die Utopie nicht. Je stärker sie sich entfernt, desto deutlicher macht sie den Leser auf die dunklen Seiten der realen Geschichte und die Unsinnigkeiten des zerzausten Wirklichen aufmerksam, das nach einer "erheiternden Metapher" Elfriede Jelineks, der "zerbrochene Kamm der Dichtung" nicht frisieren kann.

So greifen die Deutungen Ruth Klügers hinter die idealistische und ästhetizistische Autonomieästhetik zurück auf den Literaturbegriff Lessings, mag der in der hoffentlich doch noch entstehenden Novelle auch von Zweifeln am Sinn der Aufklärung befallen sein. Der Leser wird an der klaren Sprache Ruth Klügers, ihrer undogmatischen Argumentation und ihren souveränen Urteilen seine Freude haben. Für Literaturwissenschaftler und Kritiker hält das Buch freilich Zurechtweisungen bereit, die manch einer mit säuerlicher Miene zur Kenntnis nehmen wird.

FRIEDMAR APEL

Ruth Klüger: "Gelesene Wirklichkeit". Fakten und Fiktionen in der Literatur. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 224 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Anerkennend äußert sich Friedmar Apel über diesen Band, der Aufsätze und Reden Ruth Klügers zum Verhältnis von Literatur, Wirklichkeit und Geschichte versammelt. In seiner akademisch gehaltenen Besprechung unterstreicht er Klügers Präferenz eines an Lessing orientierten Literaturbegriffs sowie ihre Distanz zu idealistischer und ästhetizistischer Autonomieästhetik. Neben der Auseinandersetzung mit der Autonomieästhetik der deutschen Klassik, bei der die Autorin Schiller eine Missachtung der Geschichte vorhält, hebt Apel insbesondere die Erörterung des Problems der Holocaust-Darstellung in der Literatur lobend hervor. Er würdigt Klügers "klare Sprache", ihre "undogmatische Argumentation" sowie ihre "souveränen Urteile", an denen die Leser ihre Freude haben dürften. Demgegenüber verschweigt er allerdings nicht, dass Klüger für Literaturwissenschaftler und Kritiker Zurechtweisungen bereithält, "die manch einer mit säuerlicher Miene zur Kenntnis nehmen wird."

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