Das Prinzip der Trennung von Religion und Politik, das längst als Standardantwort auf die Frage nach der Legitimität der religionspolitischen Ordnung im demokratischen Verfassungsstaat gilt, wird in dieser Studie einer kritischen Überprüfung unterzogen. Ahmet Cavuldak rekonstruiert die Entstehungsgeschichte der religionspolitischen Ordnungen Frankreichs, der USA und Deutschlands entlang der wichtigsten Schwellenepochen und Aushandlungsprozesse. Anhand der Werke von Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Jürgen Habermas stellt er drei »exemplarische« Antworten auf die Frage nach dem rechten Verhältnis von Religion und Politik in der Demokratie vor. Diese ideengeschichtliche Auseinandersetzung mündet in eine systematische Diskussion der zur Rechtfertigung der Trennung von Religion und Politik genannten Gründe. Schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob - und wenn ja, inwiefern - die religionspolitischen Lernprozesse des europäischen, lateinchristlich geprägten Erfahrungsraumes auf andere Regionen und Religionen der Welt übertragen werden können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2016Was den Frommen frommt im säkularen Staat
Ahmet Cavuldak mustert die Argumente, die für die Trennung von Politik und Religion aufgeboten werden
Das Thema ist so alt wie aktuell: Es geht um die Arbeitsteilung von Diesseits und Jenseits. "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist", so heißt es bei dem Evangelisten Markus. Das klingt nach übersichtlichen Grenzen. Doch: Was ist Gottes? Was ist des Kaisers? Wie weit reicht die Freiheit der Religion? Und wo endet der Zuständigkeitsbereich der säkularisierten Staatsgewalt? Liegt die Kernkompetenz der Religion in der Sorge ums Seelenheil, die der Politik in der Sorge ums Gemeinwohl?
Die Frommen - ob christlich, muslimisch, jüdisch tut in dieser Frage wenig zur Sache - werden dieser Arbeitsteilung kaum ohne weiteres zustimmen. Das Heil der Seele wird hier und jetzt erworben. Der Bund mit Gott muss in dieser Welt bestätigt, er muss gelebt werden in einer gottgefälligen sozialen Ordnung. Die Sorge um das Heil der Seele ist also aufs engste mit der Sorge ums Gemeinwohl verschränkt. Konflikte sind deshalb unvermeidlich. Kann man sie wenigstens einhegen?
Der säkularisierte, freiheitliche Verfassungsstaat versucht genau das. Aber er ist unter Druck geraten. Immer wieder und immer nachdrücklicher wird die Frage gestellt, ob die Freiheit zur Religion und die Freiheit von der Religion tatsächlich nur im säkularisierten Staat zu haben ist. Auch Ahmet Cavuldak gibt sich in seiner Studie einleitend zweifelnd und kündigt an, er werde diese "kanonisierte Weisheit" einer kritischen Prüfung unterziehen. Was Cavuldak auf knapp sechshundert Seiten mobilisiert, sind dann aber doch überwiegend Argumente, die für das Prinzip der Trennung von Religion und Politik sprechen.
Cavuldaks Untersuchung erstreckt sich auf drei exemplarische Fälle: Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland. Für diese Auswahl, die durch Seitenblicke auf andere Beispiele flankiert wird, gibt es gute und gut bekannte Gründe. So haben diese drei Länder gewissermaßen idealtypische religionspolitische und -rechtliche Arrangements ausgebildet, die sie zu festen Referenzgrößen in den Debatten um das Verhältnis von Religion und Politik haben werden lassen: Frankreich repräsentiert das System strenger, religionsfeindlich motivierter Trennung; die Vereinigten Staaten stehen für ein zwar ebenfalls striktes, aber religionsfreundliches Trennungssystem; und Deutschland ist das Paradebeispiel freundlicher Kooperation auf der Basis einer grundsätzlichen, wenn auch gelegentlich "hinkenden" institutionellen Trennung.
Cavuldak führt seine Rekonstruktion des Trennungsprinzips in diesen Ländern auf zwei Ebenen - einer historischen und einer politiktheoretischen - durch. Im ersten Hauptteil, der etwa die Hälfe des Buches einnimmt, zeichnet er, stets entlang der jeweiligen nationalen Entwicklungspfade, die Geschichte der Trennung von Religion und Politik nach. Im Wesentlichen ruft Cavuldak hier die überwiegend gut bekannten historischen Etappen der jeweiligen "Grenzstreitigkeiten" zwischen Religion und Politik in Erinnerung. Seine Darstellung liest sich nichtsdestotrotz mit Gewinn, da er nicht die großen Linien allein rekonstruiert, sondern sich immer wieder die Zeit zu historischer Konkretion nimmt. Schon in diesem historischen Durchgang beschränkt sich Cavuldak nicht darauf, zu zeigen, wie es war und ist, sondern gibt auch der Diskussion der Zeitgenossen über die normative Frage nach dem "richtigen" Verhältnis von Religion und Politik breiten Raum.
Damit schlägt er Brücken zum zweiten, politiktheoretisch ausgerichteten Hauptteil, in dem er die Frage nach der Legitimität der Trennung von Religion und Politik systematisch erörtert. Diskutiert werden hier exemplarisch die normativen Ordnungsentwürfe und Argumentationsmuster von Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Jürgen Habermas. Drei Namen, die für drei verschiedene historische Epochen in der Entwicklung der Arbeitsteilung von Religion und Politik in der "westlichen Welt" stehen. Vor dem Erfahrungshintergrund der konfessionellen Bürgerkriege knöpfte sich Rousseau die monotheistischen Offenbarungsreligionen mit ihren absoluten Wahrheitsansprüchen vor; deren Relevanz wollte er auf den Raum des Privaten begrenzt sehen, der öffentliche Raum hingegen sollte von einer "religion civile" sozialmoralisch abgesichert werden.
Tocqueville, im Horizont einer monokonfessionellen und auch nachrevolutionär noch klerikalen Religionskultur, ließ sich bei seiner Amerika-Reise Anfang der 1830er Jahre faszinieren von der lebendigen und konfessionell hochdifferenzierten religiösen Kultur in den Vereinigten Staaten und ihrer aktiven Rolle im demokratischen Prozess. Habermas schließlich, einer der intellektuellen Wortführer der "alten" Bundesrepublik, scherte sich wenig um die Religion, bis ihm um die Jahrtausendwende jäh die "Dialektik des Säkularisierungsprozesses" bewusst wurde und er die postsäkulare Gesellschaft ausrief, deren religiöse Kultur er seither gern mit den Gebildeten unter ihren Vertretern debattiert.
Die Darstellung der Ordnungsentwürfe dieser drei, das argumentative Feld prägenden Theoretiker werden ergänzt um die Argumentationen weiterer Autoren von Kant bis Rawls, Taylor, Casanova und Böckenförde. Vor allem aber schlägt Cavuldak hier eine Typologisierung der Argumente in den Debatten um die Legitimität der Trennung von Religion und Politik vor. So sortiert er auseinander, was in der Praxis meistens als Mix auftritt. Für den "philosophisch-epistemischen" Typ steht vor allem Habermas, der eine Kluft zwischen Glauben und Vernunft annimmt und für das Trennungsprinzip wirbt mit dem Argument, dass nur solche staatlichen Entscheidungen und Handlungen Legitimität beanspruchen können, die allgemein nachvollziehbar und zustimmungsfähig sind, dies aber letztlich allein säkularen Gründen zugesteht.
Den Typ "pragmatisches Friedensargument" macht Cavuldak im Ansatz von Rousseau sowie ganz allgemein im weitverbreiteten Narrativ von der Konflikt- und Gewaltträchtigkeit der Religionen aus. Die Wahrheitsfrage wird hier nicht aufgehoben, auch nicht generell abgewiesen, doch wird ihre Klärung, wie in den frühneuzeitlichen Friedensschlüssen, aufgeschoben. Im "normativ-menschenrechtlichen" Argumentationstyp schließlich, den Cavuldak am prominentesten bei John Rawls vertreten sieht, wird die Säkularität des freiheitlichen Staates aus der Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen abgeleitet und als deren Conditio sine qua non präsentiert.
Diesen drei Argumentationstypen stellt Cavuldak noch den Typ des "religiösen Arguments" für die Trennung von Religion und Politik zur Seite. Hier taucht dann auch der zwischenzeitlich aus dem Blick geratene Tocqueville wieder auf, der dem Puritanismus einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der vitalen Demokratie in den Vereinigten Staaten bescheinigte und damit ein Argument vorprägte, das unter anderen Ernst Troeltsch 1912 in differenzierterer Form in den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" wieder aufgriff.
Jüdische und islamische Varianten dieses religiösen Argumentationstyps kommen bei Cavuldak ebenfalls zur Sprache. Aber auch die dezidiert antireligiöse Durchsetzung des laizistischen religionspolitischen Modells der Türkei in den 1920er Jahren wird diskutiert. Dieses Modell schoss jedoch insofern weit über das Ziel hinaus, als es nicht nur auf die Säkularisierung der Legitimitätsgrundlagen des Staates zielte, sondern darüber hinaus den Einfluss des Islams auf die Lebensführung der Einzelnen und das gesellschaftliche Leben insgesamt zu unterminieren suchte. Sein schleichendes Scheitern, dessen Zeugen wir sind, mag bereits in diesem Anspruch grundgelegt sein.
Wenn Cavuldak dann seine Schlussüberlegungen startet, sind so ziemlich kein Autor und keine Autorin (von letzteren gibt es ohnehin nur wenige) ungenannt geblieben, die sich je zur Leitfrage nach der Arbeitsteilung von Religion und Politik geäußert haben. Und was ist nun die Moral von der Geschichte? Irgendwie hat sich die Trennung schon bewährt, so darf man schließen, doch wird man den Eindruck nicht los, dass dieser Befund nicht so ganz das ist, was der Autor selbst von seiner Untersuchung erwartet hat. Und so schließt er mit einem Bekenntnis zum Trennungsprinzip, verknüpft dies aber mit einer Rechenschaftspflicht, die er nicht nur allen politischen Entscheidungsträgern, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern auferlegen möchte: Die Pflicht, sich angesichts wechselnder politischer Herausforderungen stets von neuem über die Rechtfertigungsgründe der Trennung von Religion und Politik zu verständigen. Die Lektüre seines Buches könnte dabei dienlich sein.
ASTRID REUTER
Ahmet Cavuldak:
"Gemeinwohl und
Seelenheil". Die Legitimität der Trennung von
Religion und Politik
in der Demokratie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015. 632 S., br., 49,99 [Euro].
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Ahmet Cavuldak mustert die Argumente, die für die Trennung von Politik und Religion aufgeboten werden
Das Thema ist so alt wie aktuell: Es geht um die Arbeitsteilung von Diesseits und Jenseits. "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist", so heißt es bei dem Evangelisten Markus. Das klingt nach übersichtlichen Grenzen. Doch: Was ist Gottes? Was ist des Kaisers? Wie weit reicht die Freiheit der Religion? Und wo endet der Zuständigkeitsbereich der säkularisierten Staatsgewalt? Liegt die Kernkompetenz der Religion in der Sorge ums Seelenheil, die der Politik in der Sorge ums Gemeinwohl?
Die Frommen - ob christlich, muslimisch, jüdisch tut in dieser Frage wenig zur Sache - werden dieser Arbeitsteilung kaum ohne weiteres zustimmen. Das Heil der Seele wird hier und jetzt erworben. Der Bund mit Gott muss in dieser Welt bestätigt, er muss gelebt werden in einer gottgefälligen sozialen Ordnung. Die Sorge um das Heil der Seele ist also aufs engste mit der Sorge ums Gemeinwohl verschränkt. Konflikte sind deshalb unvermeidlich. Kann man sie wenigstens einhegen?
Der säkularisierte, freiheitliche Verfassungsstaat versucht genau das. Aber er ist unter Druck geraten. Immer wieder und immer nachdrücklicher wird die Frage gestellt, ob die Freiheit zur Religion und die Freiheit von der Religion tatsächlich nur im säkularisierten Staat zu haben ist. Auch Ahmet Cavuldak gibt sich in seiner Studie einleitend zweifelnd und kündigt an, er werde diese "kanonisierte Weisheit" einer kritischen Prüfung unterziehen. Was Cavuldak auf knapp sechshundert Seiten mobilisiert, sind dann aber doch überwiegend Argumente, die für das Prinzip der Trennung von Religion und Politik sprechen.
Cavuldaks Untersuchung erstreckt sich auf drei exemplarische Fälle: Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland. Für diese Auswahl, die durch Seitenblicke auf andere Beispiele flankiert wird, gibt es gute und gut bekannte Gründe. So haben diese drei Länder gewissermaßen idealtypische religionspolitische und -rechtliche Arrangements ausgebildet, die sie zu festen Referenzgrößen in den Debatten um das Verhältnis von Religion und Politik haben werden lassen: Frankreich repräsentiert das System strenger, religionsfeindlich motivierter Trennung; die Vereinigten Staaten stehen für ein zwar ebenfalls striktes, aber religionsfreundliches Trennungssystem; und Deutschland ist das Paradebeispiel freundlicher Kooperation auf der Basis einer grundsätzlichen, wenn auch gelegentlich "hinkenden" institutionellen Trennung.
Cavuldak führt seine Rekonstruktion des Trennungsprinzips in diesen Ländern auf zwei Ebenen - einer historischen und einer politiktheoretischen - durch. Im ersten Hauptteil, der etwa die Hälfe des Buches einnimmt, zeichnet er, stets entlang der jeweiligen nationalen Entwicklungspfade, die Geschichte der Trennung von Religion und Politik nach. Im Wesentlichen ruft Cavuldak hier die überwiegend gut bekannten historischen Etappen der jeweiligen "Grenzstreitigkeiten" zwischen Religion und Politik in Erinnerung. Seine Darstellung liest sich nichtsdestotrotz mit Gewinn, da er nicht die großen Linien allein rekonstruiert, sondern sich immer wieder die Zeit zu historischer Konkretion nimmt. Schon in diesem historischen Durchgang beschränkt sich Cavuldak nicht darauf, zu zeigen, wie es war und ist, sondern gibt auch der Diskussion der Zeitgenossen über die normative Frage nach dem "richtigen" Verhältnis von Religion und Politik breiten Raum.
Damit schlägt er Brücken zum zweiten, politiktheoretisch ausgerichteten Hauptteil, in dem er die Frage nach der Legitimität der Trennung von Religion und Politik systematisch erörtert. Diskutiert werden hier exemplarisch die normativen Ordnungsentwürfe und Argumentationsmuster von Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville und Jürgen Habermas. Drei Namen, die für drei verschiedene historische Epochen in der Entwicklung der Arbeitsteilung von Religion und Politik in der "westlichen Welt" stehen. Vor dem Erfahrungshintergrund der konfessionellen Bürgerkriege knöpfte sich Rousseau die monotheistischen Offenbarungsreligionen mit ihren absoluten Wahrheitsansprüchen vor; deren Relevanz wollte er auf den Raum des Privaten begrenzt sehen, der öffentliche Raum hingegen sollte von einer "religion civile" sozialmoralisch abgesichert werden.
Tocqueville, im Horizont einer monokonfessionellen und auch nachrevolutionär noch klerikalen Religionskultur, ließ sich bei seiner Amerika-Reise Anfang der 1830er Jahre faszinieren von der lebendigen und konfessionell hochdifferenzierten religiösen Kultur in den Vereinigten Staaten und ihrer aktiven Rolle im demokratischen Prozess. Habermas schließlich, einer der intellektuellen Wortführer der "alten" Bundesrepublik, scherte sich wenig um die Religion, bis ihm um die Jahrtausendwende jäh die "Dialektik des Säkularisierungsprozesses" bewusst wurde und er die postsäkulare Gesellschaft ausrief, deren religiöse Kultur er seither gern mit den Gebildeten unter ihren Vertretern debattiert.
Die Darstellung der Ordnungsentwürfe dieser drei, das argumentative Feld prägenden Theoretiker werden ergänzt um die Argumentationen weiterer Autoren von Kant bis Rawls, Taylor, Casanova und Böckenförde. Vor allem aber schlägt Cavuldak hier eine Typologisierung der Argumente in den Debatten um die Legitimität der Trennung von Religion und Politik vor. So sortiert er auseinander, was in der Praxis meistens als Mix auftritt. Für den "philosophisch-epistemischen" Typ steht vor allem Habermas, der eine Kluft zwischen Glauben und Vernunft annimmt und für das Trennungsprinzip wirbt mit dem Argument, dass nur solche staatlichen Entscheidungen und Handlungen Legitimität beanspruchen können, die allgemein nachvollziehbar und zustimmungsfähig sind, dies aber letztlich allein säkularen Gründen zugesteht.
Den Typ "pragmatisches Friedensargument" macht Cavuldak im Ansatz von Rousseau sowie ganz allgemein im weitverbreiteten Narrativ von der Konflikt- und Gewaltträchtigkeit der Religionen aus. Die Wahrheitsfrage wird hier nicht aufgehoben, auch nicht generell abgewiesen, doch wird ihre Klärung, wie in den frühneuzeitlichen Friedensschlüssen, aufgeschoben. Im "normativ-menschenrechtlichen" Argumentationstyp schließlich, den Cavuldak am prominentesten bei John Rawls vertreten sieht, wird die Säkularität des freiheitlichen Staates aus der Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen abgeleitet und als deren Conditio sine qua non präsentiert.
Diesen drei Argumentationstypen stellt Cavuldak noch den Typ des "religiösen Arguments" für die Trennung von Religion und Politik zur Seite. Hier taucht dann auch der zwischenzeitlich aus dem Blick geratene Tocqueville wieder auf, der dem Puritanismus einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der vitalen Demokratie in den Vereinigten Staaten bescheinigte und damit ein Argument vorprägte, das unter anderen Ernst Troeltsch 1912 in differenzierterer Form in den "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" wieder aufgriff.
Jüdische und islamische Varianten dieses religiösen Argumentationstyps kommen bei Cavuldak ebenfalls zur Sprache. Aber auch die dezidiert antireligiöse Durchsetzung des laizistischen religionspolitischen Modells der Türkei in den 1920er Jahren wird diskutiert. Dieses Modell schoss jedoch insofern weit über das Ziel hinaus, als es nicht nur auf die Säkularisierung der Legitimitätsgrundlagen des Staates zielte, sondern darüber hinaus den Einfluss des Islams auf die Lebensführung der Einzelnen und das gesellschaftliche Leben insgesamt zu unterminieren suchte. Sein schleichendes Scheitern, dessen Zeugen wir sind, mag bereits in diesem Anspruch grundgelegt sein.
Wenn Cavuldak dann seine Schlussüberlegungen startet, sind so ziemlich kein Autor und keine Autorin (von letzteren gibt es ohnehin nur wenige) ungenannt geblieben, die sich je zur Leitfrage nach der Arbeitsteilung von Religion und Politik geäußert haben. Und was ist nun die Moral von der Geschichte? Irgendwie hat sich die Trennung schon bewährt, so darf man schließen, doch wird man den Eindruck nicht los, dass dieser Befund nicht so ganz das ist, was der Autor selbst von seiner Untersuchung erwartet hat. Und so schließt er mit einem Bekenntnis zum Trennungsprinzip, verknüpft dies aber mit einer Rechenschaftspflicht, die er nicht nur allen politischen Entscheidungsträgern, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern auferlegen möchte: Die Pflicht, sich angesichts wechselnder politischer Herausforderungen stets von neuem über die Rechtfertigungsgründe der Trennung von Religion und Politik zu verständigen. Die Lektüre seines Buches könnte dabei dienlich sein.
ASTRID REUTER
Ahmet Cavuldak:
"Gemeinwohl und
Seelenheil". Die Legitimität der Trennung von
Religion und Politik
in der Demokratie.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit einer gelehrten Besprechung würdigt der hier rezensierende Politikwissenschaftler, ehemalige bayerische Kultusminister und prominente Katholik Hans Maier die nun unter dem Titel "Gemeinwohl und Seelenheil" erschienene Dissertation seines Kollegen Ahmed Cavuldak. Seit Zaccaria Giacomettis "Quellen zur Geschichte der Trennung von Staat und Kirche" aus dem Jahre 1926 hat sich kaum ein Autor mehr mit der systematischen Darstellung der Trennungssysteme beschäftigt, informiert der Kritiker, der hier mit Deutschland, Frankreich und den USA nicht nur eine kluge Auswahl maßgeblicher Trennungssysteme vorfindet, sondern auch Cavuldaks Auseinandersetzung mit wichtigen Theoretikern der Trennungsidee lobt. Während dem Kritiker allerdings die Auswahl von Rousseau, Tocqueville und Habermas ein wenig "subjektiv" erscheint und er sich wundert, weshalb der Autor Rousseau als Fürsprecher der modernen Trennung von Staat und Kirche darstellt, lobt er insbesondere Cavuldaks ausführliche Betrachtungen zum Islam. Überzeugend findet Maier nicht zuletzt die Überlegungen Cavuldaks, statt einer extremen Polarisierung zu einem System des Ausgleichs überzugehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Insgesamt legt Cavuldak eine beeindruckende und überzeugende Studie vor, welche die gestreifte Vielzahl an Debatten souverän verortet und mit stilistischer Brillanz verwebt.« Oliver Hidalgo, Neue Politische Literatur, 62 (2017) »[Cavuldak] schließt mit der Aufforderung, den demokratischen Aushandlungsprozess über die 'richtige' religionspolitische Ordnung weiterhin lebendig zu halten. [...]. Mit diesem Buch bietet er hierfür eine wertvolle Grundlage.« Philipp Smets, Zeitschrift für evangelische Ethik, 62/1 (2018) »Die [vom Autor] entwickelte Theorie der Trennung von Politik und Religion ist eine ausgezeichnete Grundlage für Theologien, die für die angesprochenen Religionen deren politische Impulse zur Sprache bringen und auf diesem Wege entsprechende Glaubenspraxis orientieren und gerade dabei die nicht nur eingespielte, sondern auch legitime Trennung von Politik und Religion bestätigen wollen.« Matthias Möhring-Hesse, Ethik und Gesellschaft, 2 (2017) »Ahmet Cavuldaks Studie vergegenwärtigt anschaulich die Lage der Trennungssysteme in der heutigen Welt. Ihre Darstellung ist eingelassen in den lebhaften Diskurs über Abstieg und Aufstieg der Religionen, der sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Das Buch besitzt den Vorzug, die Geschichte der institutionellen Trennung von Gemeinwohl und Seelenheil in ihren Einzel- und Verschiedenheiten ebenso gründlich in den Blick zu nehmen wie die jeweilige theoretische Diskussion darüber. Damit liefert es zugleich einen aufklärenden Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über das Verhältnis von Religion und Politik in liberalen Demokratien.« Hans Maier, Neue Zürcher Zeitung, 23.04.2016 »Der Autor schließt mit einem Bekenntnis zum Trennungsprinzip, verknüpft dies aber mit einer Rechenschaftspflicht [...]: Die Pflicht, sich [...] stets von neuem über die Rechtfertigungsgründe der Trennung von Religion und Politik zu veständigen.« Astrid Reuter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.03.2016 »Das vorliegende Buch kann Lehrenden, die religionspolitische Seminare anbieten, nachdrücklich empfohlen werden: man kann sich selbst damit auf den neuesten Stand der Debatte bringen, man kann aber auch Studierenden nicht nur das Buch als Ganzes, sondern auch einzelne Kapitel zur grundlegenden Information als Lektüre empfehlen.« Rolf Schieder, Politische Vierteljahresschrift, 57/1 (2016) »Die [...] Dissertation ist übersichtlich gegliedert und klar geschrieben. Sie bietet [...] einen sehr guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Debatten zum Verhältnis von Religion und Politik, Kirche und Staat.« Georg Kamphausen, Portal für Politikwissenschaft, 24.09.2015 »Eine wichtige Abhandlung [...], die einen differenzierten Blick auf Religion und Politik, Gemeinwohl und Seelenheil ermöglicht.« Peter Schreiner, www.socialnet.de, 14.08.2015 »Dieser voluminöse Band bietet aktuell durchdachte Antworten auf die Frage nach dem rechten Verhältnis von Religion und Politik in der Demokratie.« Oliver Neuman, www.lehrerbibliothek.de, 22.06.2015 Besprochen in: Neue Zürcher Zeitung, 23.04.2016, Hans Maier Theologische Revue, 116/10 (2020), Georg Essen