Was ist das Wichtigste im Leben? Und was genau richtig?
Albert hat eine schlimme Diagnose von seiner Ärztin und ehemaligen Geliebten erhalten. Während seine Frau Eirin auf einem Kongress ist, fährt er allein in die einsame Ferienhütte an einem Waldsee: Soll er sein Leben selbst beenden, bevor es die tödliche Krankheit tut? Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, schreibt er in das Hüttenbuch. Er erzählt, wie er Eirin kennenlernte und wie sie als junge Verliebte in das Märchenhaus einbrachen, das sie später gekauft haben. Wie seine Ehe zu kriseln begann, welche Rolle Sohn und Enkelin für ihn spielen und von seiner Begeisterung für die Astrophysik. Es wird eine lange Nacht, bis irgendwann ein Boot ruderlos auf dem See treibt und ein Fremder erscheint.
Albert hat eine schlimme Diagnose von seiner Ärztin und ehemaligen Geliebten erhalten. Während seine Frau Eirin auf einem Kongress ist, fährt er allein in die einsame Ferienhütte an einem Waldsee: Soll er sein Leben selbst beenden, bevor es die tödliche Krankheit tut? Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, schreibt er in das Hüttenbuch. Er erzählt, wie er Eirin kennenlernte und wie sie als junge Verliebte in das Märchenhaus einbrachen, das sie später gekauft haben. Wie seine Ehe zu kriseln begann, welche Rolle Sohn und Enkelin für ihn spielen und von seiner Begeisterung für die Astrophysik. Es wird eine lange Nacht, bis irgendwann ein Boot ruderlos auf dem See treibt und ein Fremder erscheint.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2019Mensch, vom Ende her gesehen
Größenwahn und Selbsterkenntnis: Jostein Gaarder und Martin Simons bringen ihre Erzähler in
Todesnähe. Bezeichnend, wie unterschiedlich sie sich zur ihrer Endlichkeit verhalten
VON BURKHARD MÜLLER
Zwei Bücher, zwei Männer, ein Problem. Das Problem ist der Tod. Beide Männer sind nicht mehr jung, in den Sechzigern der eine, Mitte 40 der andere; und beide werden, nachdem sie die ersten Molesten nach Männerart abgetan hatten, damit konfrontiert, dass ihnen eine lebensbedrohliche Krankheit ins Haus steht.
Jostein Gaarder und Martin Simons haben bestimmt nichts voneinander gewusst, als sie ihre Bücher schrieben. Und doch gleicht sich die Situation, von der sie ausgehen, auf fast gespenstische Weise: Die Erzähler (sie sagen beide „Ich“) sind glücklich verheiratet, haben je ein Kind, scheinen gemütlich in ihrem Leben eingehaust – und plötzlich gehorchen ihnen die Muskeln der Hand nicht mehr.
Der Norweger Jostein Gaarder verdankt seinen Ruhm einem Buch, das vor einem Vierteljahrhundert erschien und ein Weltbestseller wurde: „Sofies Welt“. Darin hatte er es unternommen, als Briefschreiber Alberto Knox einem 14-jährigen Mädchen die Geheimnisse der Philosophie zu erklären. Es wurde in 65 Sprachen übersetzt und 40 Millionen mal verkauft. Jetzt versucht er in „Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, den großen philosophischen Fragen die Dringlichkeit der Todesnähe zu verschaffen. Es resultiert daraus ein eigentümlicher Zwitter aus Roman und Essay.
Albert (offenbar ein Nachfahr Albertos), seines Zeichens Lehrer für Englisch und Geschichte, hat die Diagnose ALS erhalten, Amyotrophische Lateralsklerose. Sie ist die wölfische Schwester der vergleichsweise milden MS. Wie diese setzt sie bei der Schnittstelle von Nerven und Muskeln an und führt zu lähmungsartigen Ausfallserscheinungen; der Tod tritt durch Atemstillstand ein. Zwischen ersten Symptomen und Exitus liegen im Schnitt 18 Monate; und es gibt bis heute nichts, was diese im Galopp voranschreitende Krankheit stoppen oder auch nur verlangsamen könnte.
Damit muss Albert umgehen. Er zieht sich allein auf die Hütte der Familie zurück, irgendwo in den menschenleeren Bergen Norwegens an einem See gelegen, während seine Frau Eirin, Süßwasserbiologin, an einem Kongress in Australien teilnimmt. Die Hütte war ihr Paradies gewesen; sie waren in ihrer ersten Verliebtheit als knapp Zwanzigjährige dort aufs Geratewohl eingebrochen, hatten sich durch alle verfügbaren Betten geliebt und Jahre später das Anwesen käuflich erworben. Albert setzt sich die Frist von 24 Stunden, um einen Rechenschaftsbericht seines Lebens zu verfassen – und dann?
Dann wäre es wohl das Beste, auf den schon herbstkalten See hinauszurudern, die Taschen des Mantels mit Äxten und anderem schweren Eisengerät befüllt, und sang- und klanglos über Bord zu gehen, ohne die Angehörigen mit dem eigenen elenden Ende zu belasten. Er träumt diesen Sprung in beklemmender Intensität, der Leser muss es für Wirklichkeit halten – da wacht er auf, ohne dass sich ansonsten irgendwas geändert hätte.
Bis hierhin besitzt das Buch durchaus novellistische Qualitäten: Es berichtet von einem besonderen einzelnen Ereignis. Aber nicht ein solches hat der Autor im Sinn. Sondern er mutet es seinem Protagonisten zu, sterbend die Wahrheit über das Allgemeine zu ergründen. „Vielleicht mache ich mir meine Gedanken stellvertretend für die gesamte Menschheit.“
Das muss man nun doch als einen ziemlich flauen Trick bezeichnen. Der Held stirbt; sein Autor aber lebt fröhlich weiter und borgt sich von ihm die Autorität des Moribundus. „Ich werde nichts Geringeres als in den eigentlichen Kern des Lebensmysteriums vordringen“ – wer würde es wagen, den letzten Worten eines Sterbenden zu widersprechen? „Was ist ein Mensch? Das war die Frage“, drunter tut es Albert nicht, und Gaarder entfaltet die (nicht mehr ganz taufrische) These, alle Umstände und Konstanten des Kosmos, alle physischen und chemischen Gesetze hätten sich sozusagen verschworen, um den Menschen hervorzubringen. So kann man ihn als Krone der Schöpfung retten, ohne einen Schöpfergott bemühen zu müssen.
Das ist, gelinde gesagt, Größenwahn, wenn man den Maßstab des Weltalls in Relation zum Lebensraum des Menschen setzt. Es ist auch nicht besonders erleuchtet, denn hier findet offenbar eine Verkehrung von Ursache und Wirkung statt. Ebenso gut könnte die Pfütze darüber jubeln, dass die Unebenheiten ihres Untergrunds so beschaffen sind, dass sie, die Pfütze, haargenau hineinpasst. So sinnreich ist die Welt beschaffen! „Obwohl ‚sinnreich‘ vielleicht eine tendenziöse Wortwahl ist, denn sie unterstellt beinahe, dass es hinter den physikalischen Gesetzen eine ‚sinnvolle‘ Instanz gibt, einen intelligenten ,Designer‘ hinter allem.“ In einem Satz erscheinen hier dreimal die Anführungszeichen des uneigentlichen Ausdrucks, die zu erkennen geben, dass der Verfasser sich die Anstrengung des rechten Begriffs erspart hat: Das sollte man sich als Leser wirklich nicht bieten lassen.
Nach diesem anmaßenden Stück Edelkitsch ist man vorab dankbar für ein Buch, das nur den konkreten, nämlich den persönlichen Fall verhandelt, ohne ihn als Sprungbrett für Exkurse zum erhabenen Sternenhimmel zu missbrauchen. Martin Simons heißt der Autor, Martin der Ich-Erzähler; Martins Frau heißt Teresa, Teresa ist das Buch gewidmet: die Differenz der beiden Ebenen ist offenbar gering.
Martin, ein Schriftsteller, der zu kämpfen hat wie sein Erfinder, erleidet beim Meditieren etwas, das sich später als lebensbedrohliche Hirnblutung erweist, obwohl es vorerst nur den Bewegungsapparat der Hand betrifft. Meditieren ist gefährlicher als man denkt. Er wird in die Stroke Unit des Krankenhauses eingeliefert, fühlt sich dort frustriert von der übermüdeten Routine des Personals, gereizt von den Eigenheiten seiner Mitpatienten, die mit erheblicher Geruchsentwicklung rauchen und scheißen, und begreift das heitere Interesse, das der Chefarzt an ihm, dem unerwartet komplexen Fall, nimmt, als Aasgeierei (wohl nicht ganz zu Unrecht).
Martin ist kein starker und eigentlich auch kein sympathischer Charakter; das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Albert, den wir nach dem Willen seines Autors bewundern sollen. Simons hat ein Foto von sich über den Klappentext gesetzt, auf dem er aussieht wie Harald Schmidt in seinen besten und ätzendsten Zeiten: So will er sich der Welt präsentieren.
Martin ist zudem, was er ausdrücklich thematisiert, ein schwacher Schriftsteller. Das ist natürlich auch ein Trick; aber jedenfalls einer, bei dem man, anders als bei Gaarder, gespannt ist, was er draus macht. „Worauf kam es mir wirklich an? Ich hatte aus Liebe geheiratet, ein Wunschkind gezeugt, aber mit dem Schreiben – ich hatte es lange für das Wichtigste gehalten – war ich aus Unernst, Feigheit oder mangelnder Veranlagung nie zu jener tiefer gehenden Kreativität gelangt, die als Einzige zählte.“ Indem er es zugibt, hat er es irgendwie hinter sich gelassen. Den eigenen Unernst einzuräumen, ist eine ernste Sache, von der eigenen Feigheit zu sprechen, erfordert Mut.
Die mangelnde Veranlagung – ein großer Stilist wird aus Martin/ Simons vermutlich nicht mehr werden. Aber das Mittelmäßige seines Duktus passt zum Unpathetischen dieses Auftritts: dem eines Menschen, dem in seinem Leben noch nichts wirklich Schlimmes passiert ist, etwas Außergewöhnliches freilich auch nicht, der auch seinen Lieben gegenüber zu einer gewissen Kälte neigt und von dem bald klar ist, dass er seinen Schlaganfall wohl mehr oder weniger heil überstehen wird.
Ein paar Ausrutscher gibt es, etwa wenn er Hölderlin oder Rilke zitiert oder davon spricht, die Zeit im Krankenhaus erscheine ihm wie ein Wandeln auf dunklem Pfad; aber insgesamt schreibt Simons mit bemerkenswerter Konsistenz. Man glaubt diesem Erzähler seine Gefasstheit am Rande des Todes, gerade weil er daraus kein Drama macht, sondern dem Leser das deutliche Gefühl vermittelt, letztlich habe solche Gemütsruhe ihren Grund in einer gewissen Fantasielosigkeit (denn für Todesangst braucht man Fantasie). Nein, ein großes Buch ist bei „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ nicht herausgekommen; aber doch das ehrliche Buch einer kleinen Seele, und damit bedeutend mehr als bei dem prätentiösen Gaarder.
Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2019. 125 Seiten, 16 Euro.
Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 186 Seiten, 20 Euro.
Dem Protagonisten wird
zugemutet, sterbend die Wahrheit
über das Allgemeine zu ergründen
Den eigenen Unernst einräumen
ist eine ernste Sache, von
Feigheit sprechen erfordert Mut
Martin Simons’ (links) Hauptfigur erklärt sich selbst zu einem schwachen Schriftsteller. Jostein Gaarder ist Bestsellerautor.
Fotos: Jan Friese ; Jens Kalaene / picture alliance
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Größenwahn und Selbsterkenntnis: Jostein Gaarder und Martin Simons bringen ihre Erzähler in
Todesnähe. Bezeichnend, wie unterschiedlich sie sich zur ihrer Endlichkeit verhalten
VON BURKHARD MÜLLER
Zwei Bücher, zwei Männer, ein Problem. Das Problem ist der Tod. Beide Männer sind nicht mehr jung, in den Sechzigern der eine, Mitte 40 der andere; und beide werden, nachdem sie die ersten Molesten nach Männerart abgetan hatten, damit konfrontiert, dass ihnen eine lebensbedrohliche Krankheit ins Haus steht.
Jostein Gaarder und Martin Simons haben bestimmt nichts voneinander gewusst, als sie ihre Bücher schrieben. Und doch gleicht sich die Situation, von der sie ausgehen, auf fast gespenstische Weise: Die Erzähler (sie sagen beide „Ich“) sind glücklich verheiratet, haben je ein Kind, scheinen gemütlich in ihrem Leben eingehaust – und plötzlich gehorchen ihnen die Muskeln der Hand nicht mehr.
Der Norweger Jostein Gaarder verdankt seinen Ruhm einem Buch, das vor einem Vierteljahrhundert erschien und ein Weltbestseller wurde: „Sofies Welt“. Darin hatte er es unternommen, als Briefschreiber Alberto Knox einem 14-jährigen Mädchen die Geheimnisse der Philosophie zu erklären. Es wurde in 65 Sprachen übersetzt und 40 Millionen mal verkauft. Jetzt versucht er in „Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, den großen philosophischen Fragen die Dringlichkeit der Todesnähe zu verschaffen. Es resultiert daraus ein eigentümlicher Zwitter aus Roman und Essay.
Albert (offenbar ein Nachfahr Albertos), seines Zeichens Lehrer für Englisch und Geschichte, hat die Diagnose ALS erhalten, Amyotrophische Lateralsklerose. Sie ist die wölfische Schwester der vergleichsweise milden MS. Wie diese setzt sie bei der Schnittstelle von Nerven und Muskeln an und führt zu lähmungsartigen Ausfallserscheinungen; der Tod tritt durch Atemstillstand ein. Zwischen ersten Symptomen und Exitus liegen im Schnitt 18 Monate; und es gibt bis heute nichts, was diese im Galopp voranschreitende Krankheit stoppen oder auch nur verlangsamen könnte.
Damit muss Albert umgehen. Er zieht sich allein auf die Hütte der Familie zurück, irgendwo in den menschenleeren Bergen Norwegens an einem See gelegen, während seine Frau Eirin, Süßwasserbiologin, an einem Kongress in Australien teilnimmt. Die Hütte war ihr Paradies gewesen; sie waren in ihrer ersten Verliebtheit als knapp Zwanzigjährige dort aufs Geratewohl eingebrochen, hatten sich durch alle verfügbaren Betten geliebt und Jahre später das Anwesen käuflich erworben. Albert setzt sich die Frist von 24 Stunden, um einen Rechenschaftsbericht seines Lebens zu verfassen – und dann?
Dann wäre es wohl das Beste, auf den schon herbstkalten See hinauszurudern, die Taschen des Mantels mit Äxten und anderem schweren Eisengerät befüllt, und sang- und klanglos über Bord zu gehen, ohne die Angehörigen mit dem eigenen elenden Ende zu belasten. Er träumt diesen Sprung in beklemmender Intensität, der Leser muss es für Wirklichkeit halten – da wacht er auf, ohne dass sich ansonsten irgendwas geändert hätte.
Bis hierhin besitzt das Buch durchaus novellistische Qualitäten: Es berichtet von einem besonderen einzelnen Ereignis. Aber nicht ein solches hat der Autor im Sinn. Sondern er mutet es seinem Protagonisten zu, sterbend die Wahrheit über das Allgemeine zu ergründen. „Vielleicht mache ich mir meine Gedanken stellvertretend für die gesamte Menschheit.“
Das muss man nun doch als einen ziemlich flauen Trick bezeichnen. Der Held stirbt; sein Autor aber lebt fröhlich weiter und borgt sich von ihm die Autorität des Moribundus. „Ich werde nichts Geringeres als in den eigentlichen Kern des Lebensmysteriums vordringen“ – wer würde es wagen, den letzten Worten eines Sterbenden zu widersprechen? „Was ist ein Mensch? Das war die Frage“, drunter tut es Albert nicht, und Gaarder entfaltet die (nicht mehr ganz taufrische) These, alle Umstände und Konstanten des Kosmos, alle physischen und chemischen Gesetze hätten sich sozusagen verschworen, um den Menschen hervorzubringen. So kann man ihn als Krone der Schöpfung retten, ohne einen Schöpfergott bemühen zu müssen.
Das ist, gelinde gesagt, Größenwahn, wenn man den Maßstab des Weltalls in Relation zum Lebensraum des Menschen setzt. Es ist auch nicht besonders erleuchtet, denn hier findet offenbar eine Verkehrung von Ursache und Wirkung statt. Ebenso gut könnte die Pfütze darüber jubeln, dass die Unebenheiten ihres Untergrunds so beschaffen sind, dass sie, die Pfütze, haargenau hineinpasst. So sinnreich ist die Welt beschaffen! „Obwohl ‚sinnreich‘ vielleicht eine tendenziöse Wortwahl ist, denn sie unterstellt beinahe, dass es hinter den physikalischen Gesetzen eine ‚sinnvolle‘ Instanz gibt, einen intelligenten ,Designer‘ hinter allem.“ In einem Satz erscheinen hier dreimal die Anführungszeichen des uneigentlichen Ausdrucks, die zu erkennen geben, dass der Verfasser sich die Anstrengung des rechten Begriffs erspart hat: Das sollte man sich als Leser wirklich nicht bieten lassen.
Nach diesem anmaßenden Stück Edelkitsch ist man vorab dankbar für ein Buch, das nur den konkreten, nämlich den persönlichen Fall verhandelt, ohne ihn als Sprungbrett für Exkurse zum erhabenen Sternenhimmel zu missbrauchen. Martin Simons heißt der Autor, Martin der Ich-Erzähler; Martins Frau heißt Teresa, Teresa ist das Buch gewidmet: die Differenz der beiden Ebenen ist offenbar gering.
Martin, ein Schriftsteller, der zu kämpfen hat wie sein Erfinder, erleidet beim Meditieren etwas, das sich später als lebensbedrohliche Hirnblutung erweist, obwohl es vorerst nur den Bewegungsapparat der Hand betrifft. Meditieren ist gefährlicher als man denkt. Er wird in die Stroke Unit des Krankenhauses eingeliefert, fühlt sich dort frustriert von der übermüdeten Routine des Personals, gereizt von den Eigenheiten seiner Mitpatienten, die mit erheblicher Geruchsentwicklung rauchen und scheißen, und begreift das heitere Interesse, das der Chefarzt an ihm, dem unerwartet komplexen Fall, nimmt, als Aasgeierei (wohl nicht ganz zu Unrecht).
Martin ist kein starker und eigentlich auch kein sympathischer Charakter; das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Albert, den wir nach dem Willen seines Autors bewundern sollen. Simons hat ein Foto von sich über den Klappentext gesetzt, auf dem er aussieht wie Harald Schmidt in seinen besten und ätzendsten Zeiten: So will er sich der Welt präsentieren.
Martin ist zudem, was er ausdrücklich thematisiert, ein schwacher Schriftsteller. Das ist natürlich auch ein Trick; aber jedenfalls einer, bei dem man, anders als bei Gaarder, gespannt ist, was er draus macht. „Worauf kam es mir wirklich an? Ich hatte aus Liebe geheiratet, ein Wunschkind gezeugt, aber mit dem Schreiben – ich hatte es lange für das Wichtigste gehalten – war ich aus Unernst, Feigheit oder mangelnder Veranlagung nie zu jener tiefer gehenden Kreativität gelangt, die als Einzige zählte.“ Indem er es zugibt, hat er es irgendwie hinter sich gelassen. Den eigenen Unernst einzuräumen, ist eine ernste Sache, von der eigenen Feigheit zu sprechen, erfordert Mut.
Die mangelnde Veranlagung – ein großer Stilist wird aus Martin/ Simons vermutlich nicht mehr werden. Aber das Mittelmäßige seines Duktus passt zum Unpathetischen dieses Auftritts: dem eines Menschen, dem in seinem Leben noch nichts wirklich Schlimmes passiert ist, etwas Außergewöhnliches freilich auch nicht, der auch seinen Lieben gegenüber zu einer gewissen Kälte neigt und von dem bald klar ist, dass er seinen Schlaganfall wohl mehr oder weniger heil überstehen wird.
Ein paar Ausrutscher gibt es, etwa wenn er Hölderlin oder Rilke zitiert oder davon spricht, die Zeit im Krankenhaus erscheine ihm wie ein Wandeln auf dunklem Pfad; aber insgesamt schreibt Simons mit bemerkenswerter Konsistenz. Man glaubt diesem Erzähler seine Gefasstheit am Rande des Todes, gerade weil er daraus kein Drama macht, sondern dem Leser das deutliche Gefühl vermittelt, letztlich habe solche Gemütsruhe ihren Grund in einer gewissen Fantasielosigkeit (denn für Todesangst braucht man Fantasie). Nein, ein großes Buch ist bei „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ nicht herausgekommen; aber doch das ehrliche Buch einer kleinen Seele, und damit bedeutend mehr als bei dem prätentiösen Gaarder.
Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2019. 125 Seiten, 16 Euro.
Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 186 Seiten, 20 Euro.
Dem Protagonisten wird
zugemutet, sterbend die Wahrheit
über das Allgemeine zu ergründen
Den eigenen Unernst einräumen
ist eine ernste Sache, von
Feigheit sprechen erfordert Mut
Martin Simons’ (links) Hauptfigur erklärt sich selbst zu einem schwachen Schriftsteller. Jostein Gaarder ist Bestsellerautor.
Fotos: Jan Friese ; Jens Kalaene / picture alliance
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"Ein Text, den man schnell lesen und danach länger darüber nachdenken kann. Es gibt einen überraschenden Schluss und ein spätes Geständnis. Die ganze Geschichte ist klug gebaut und sanft erzählt." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 22.07.19