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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Büchners Leben, neu erzählt
Wie es sein muss, das steht ja im "Lenz": "Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen." Das Kunstgesetz, das Büchner seinen Lenz ausrufen lässt, gilt heute so wie damals. So wie im Grunde jeder Büchner-Satz heute noch gilt. Das ist etwas leicht Gesagtes und wird viel zu oft gesagt: dieser und jener sei ein moderner Autor. Büchner aber ist eben wirklich absolut modern; mit seinen Büchern ist es wie mit alten Porträtbildern, die dich immerzu anschauen, egal in welchem Winkel des Raumes du dich aufhältst. Büchner sieht dich an, seine Figuren sind lebendig und heutig. Und Büchner selbst, da kann man sicher sein, hätte alles dafür gegeben, in der heutigen Zeit zu leben. Immer wieder im neuen Jetzt.
Im Flugzeug von Frankfurt nach Paris! Mit dem Motorrad ans Meer. Astronaut sein, Meeresforscher, Bewohner des Internets. Kein Schriftsteller hat sich ja so schnell gelangweilt wie Büchner. Niemand hat diese Langeweile so schön beschrieben wie er in "Leonce und Lena". Er war neugierig, rasend schnell, er lernte wie ein Blitz und hatte ein Wundergehirn, das gleichzeitig die unterschiedlichsten Dinge denken konnte. Mit voller Überzeugung die Revolution denken, mit ebenso großer alles lächerlich finden, sinnlos und einfach nur komisch. Und dass er dabei nicht verrückt wurde, sondern lieber seinen Lenz verrückt werden ließ, dass er nicht zynisch wurde, sondern immer menschenfreundlich, zukunftsfreudig, wissbegierig blieb, das ist die große Büchner-Lebenskunst gewesen.
Darüber und über seine Schreibkunst und sein ganzes Leben hat der Germanist Hermann Kurzke jetzt ein Buch geschrieben, ein großartiges Buch, auf das wir in diesem Büchner-Jahr (vor 200 Jahren kam er auf die Welt) sicher noch oft zurückkommen werden. Kurzke hat es vor allem geschafft, dem Lenz-Anspruch zu entsprechen: Dieser Büchner, den er zeichnet, ist höchst lebendig. Das ist leicht und schwer zugleich. Schwer, weil es beinahe gar kein Dokument aus diesem Leben gibt, das nicht verfälscht, geglättet, umgeschrieben wurde (außer den Gerichtsprotokollen, die sind genau). Und leicht ist es aus den selben Gründen: Dieses Leben bietet viel Raum für freies Erzählen. Kurzke, der auch eine phantastische Thomas-Mann-Biographie geschrieben hat und die "Betrachtungen eines Unpolitischen" unideologisch und präzise kommentierte, schreibt über das bekannte Büchner-Material, es sei wie bei einem "Gemälde nach einem Säureattentat". Kurzke füllt also Lücken im Leben so selbstbewusst wie kaum einer zuvor. Es besteht Grund zur Annahme, dass ihn die offizielle Germanistik dafür hassen wird. Echte Büchner-Leser werden das Großartige sofort erkennen. Denn Kurzke ist so ein guter Kenner der Primär- und Sekundärtexte, so ein guter Kenner der Zeit und so ein guter Menschenkenner, dass ihm auch noch die wildesten Spekulationen absolut plausibel gelingen. Gut, manchmal fragt man sich schon, warum er sich das erste Onanieren des jungen Dichters so genau vorstellen muss. Doch beim Lesen merkt man schnell, dass man sich diesem Mann einfach anvertrauen kann. Er weiß schon, wofür er was erzählt, und man kann immer sicher sein, dass mit einer Waffe, die einmal erwähnt wird, im weiteren Verlauf dieser Lebensbeschreibung auf alle Fälle noch geschossen wird. Und die Sexualität Büchners, seine geheimen Geliebten, die spielen eine der zentralen Rollen in diesem Buch, wie in Büchners Werk.
Oh, und vielen Thesen will man auch unbedingt widersprechen. Dass der Fatalismusbrief, der alles politische Engagement verlacht, nicht gleichzeitig mit dem "Landboten" geschrieben worden sein könne, sondern in einem frühlingshaften Januar, weil das sonst, so Kurzke, "zynisch" sei. Das ist natürlich Unsinn. Das ist ironisch. Unendlich traurig. Und heroisch zugleich. Das ist das "Danton-Problem". Zum Beispiel. Also, es wird noch viel über dieses Buch zu reden und zu schreiben sein in diesem Büchner-Jahr. Wie Kurzke am Ende schreibt: "Büchner lebt, weil er noch nicht zu Ende verstanden ist."
VOLKER WEIDERMANN
Hermann Kurzke: "Georg Büchner". C. H. Beck, 591 Seiten, 29,95 Euro
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