Markus Schroer plädiert in seinem neuen Buch für eine umfassende Ausweitung der soziologischen Denkzone angesichts der Herausforderungen des Anthropozäns. Dieses ist nicht bloß der Begriff für ein neues geologisches Zeitalter, sondern steht für eine umfassende Infragestellung des bisherigen Selbstverständnisses des Menschen und seiner bisherigen Auffassung von Natur, Kultur und Gesellschaft. Geosoziologie untersucht unter Rückgriff auf klassische und aktuelle Texte, wie Böden, Steine, Berge, Meere, Pflanzen, Tiere und Menschen in wechselnden Nachbarschafts-, Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen die Erde als Raum des Lebens gestalten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2022Ausweitung der soziologischen Denkzone
Was erdräumliche Verhältnisse bedeuten: Markus Schroer
sieht Nachholbedarf für das Studium von Mensch und Gesellschaft im Anthropozän.
Als Bruno Latour Ende der Siebzigerjahre seine ersten Beiträge zur Akteur-Netzwerk-Theorie veröffentlichte, war das mehr als eine Ausweitung der soziologischen Denkzone. Die teils empörten Reaktionen aus seinem eigenen Fach verrieten, dass hier jemand eine Ausweitung der Kampfzone begonnen hatte. Latour erntete Kopfschütteln für seine Forderung, zukünftig auch Natur und Technik als mithandelnde Akteure zum Gegenstand der Soziologie zu erklären.
Aber dann begann das Anthropozän. Und mit ihm die Suche nach einer Theorie für dieses Zeitalter, die nicht nur die Einheit von Erd- und Menschheitsgeschichte darstellen, sondern diesem Zeitalter auch den Schrecken nehmen sollte. Schließlich ist das Anthropozän in den zwei Jahrzehnten seiner Ausrufung bereits zum Metabegriff für die Krise geworden. Wie könnte die Soziologie dazu beitragen, dass der Mensch im Anthropozän nicht bereits schon wieder verschwindet?
Markus Schroer zufolge müsste sie zunächst einen fatalen Irrtum korrigieren. Er besteht in der Vorstellung einer zunehmenden Emanzipation des Menschen aus seinen "erdräumlichen" Verhältnissen. Im Anschluss vor allem an Bruno Latour, aber auch Michel Serres und Donna Haraway, fordert Schroer darum eine "Geosoziologie", weil sich das Soziale und die Natur kategorial nicht länger unterscheiden ließen. Für die systematische Erfassung des "Gesellschaft-Natur-Kultur-Hybrids" spricht nicht zuletzt, dass längst auch Disziplinen wie die Geowissenschaften nach Verbindungen in die Soziologie suchen. Das Problem ist nur, dass keiner antwortet. Ansätze, wenigstens das Ganze der Gesellschaft theoretisch zu fassen, sind seit der Archivierung der Systemtheorie Niklas Luhmanns eingestellt worden. Wer in der Soziologie Karriere machen möchte, sollte sich für Genderforschung, Sozialstrukturanalyse oder Migrationsforschung entscheiden. Aber einen soziologischen Beitrag zur Rettung des Planeten leisten? Der Spott, Gaia klinge wie Gaga, dürfte noch auf vielen Soziologentagen für Gelächter sorgen.
Natürlich müssen auch im Anthropozän noch Scheidungen erforscht, die Benachteiligung bildungsferner Schichten nachgewiesen und die Distinktionsgewinne der kulturellen Oberklassen zu Theorien der Gesellschaft verdichtet werden. Schroer dagegen sucht den Anschluss des Faches an Anthropologie, Zoologie und Philosophie. Dazu holt er ungeheuer weit aus: Ob Wetter, Klima und Boden, Tiere, Steine und Pflanzen, menschliche wie tierische Behausungen, Pflanzengesellschaften und die Konturen einer posthumanen Gesellschaft, Geopolitik, das Kapitalozän, Viren, Zoonosen und Schlachthöfe - überall zieht er Verbindungen, entwirft Netze und eine wechselseitige "Geopraxis" aller Lebewesen.
Doch nach der Lektüre der dichten sechshundert Seiten dieses Buches wird leider klar: Die Soziologie selbst kommt darin eigentlich nicht vor. Es gibt noch keine Geosoziologie, und Schroer hat sie auch nicht geliefert. Sein Buch ist darum der äußerst profunde Nachweis einer Leerstelle. Das zentrale Anliegen, der Soziologie eine "intellektuelle Verarmung" und eine "völlig unnötige Reduzierung ihres Gegenstandsbereichs" nachzuweisen, gelingt Schroer einwandfrei. Dass das nicht originell ist, sondern von Latour und Haraway stammt, ist aber nicht das eigentliche Problem dieses Buches. Das Problem ist, dass sich Schroer für die heutige Fachsoziologie genauso wenig interessiert wie diese sich für seine Gewährsleute aus Philosophie, Anthropologie, Dichtung und dem Film.
Welche soziologischen Felder haben denn bereits mit Naturbezügen zu tun? Die Konsumforschung? Die Techniksoziologie? Oder wenigstens die Agrarsoziologie? Die meisten Teildisziplinen des Faches dürften hier abwinken und ihr Desinteresse mit ihrer Nichtzuständigkeit begründen. Die Gesellschaftstheorie dagegen müsste sich betroffen zeigen, schließlich wirft nicht allein der Klimawandel die Frage auf, ob die moderne Gesellschaft überhaupt überleben wird. Ist die Geosoziologie darum eine strikt normative Theorie, die alles soziale Handeln unter den Vorbehalt stellen müsste, ob es zum Erhalt der Gattung beiträgt?
Erstaunlicherweise geht Schroer auf diese Problematik nicht ein. Ist die Geosoziologie eine Handlungstheorie? Die permanente Absicherung bei Latour würde das nahelegen. Aber wie verhält sie sich dann zur Theorie der funktionalen Differenzierung, die mit der Zoologie immerhin die Metatheorie der Evolutionslehre teilt? Könnte man ein gesellschaftliches Subsystem der Naturbeziehung jenseits der Wirtschaft entwerfen? Oder das mit dieser Theorie konkurrierende Prinzip der sozialen Differenzierung, also die Schichtung der Gesellschaft nach Einkommen und Bildung: Schon Ulrich Becks "Risikogesellschaft" von 1986 hatte ja klargestellt, dass sich auch die ökologischen Risiken gesellschaftlich ungleich verteilen würden. Wie wird die Gesellschaft des Anthropozäns sozial gegliedert sein? Das sind soziologische Schlüsselfragen, die die Geosoziologie zunächst einmal erforschen sollte. Bei Schroer kommt das alles nicht vor.
Was er thematisiert, sind die Klimadebatte und die Corona-Pandemie. Er streift jedoch eher distanziert durch die Klimapolitik, er referiert, aber er positioniert sich nicht. Er erwähnt zwar die Gefahr einer "Aushöhlung der Demokratie" durch so etwas wie eine Ökodiktatur, aber sein Gegenvorschlag einer "Ausweitung der demokratischen Akteure im Sinne des Neomaterialismus" bleibt substanzlos. Wer wären diese Akteure? Der Leser erfährt es nicht. Er erfährt auch nicht, warum Schroer die intensive soziologische Debatte während der Corona-Pandemie auf vier Seiten rasch abhakt, anstelle gerade diese Auseinandersetzung für eine Geosoziologie fruchtbar zu machen. Die empirischen Befunde wie etwa die soziale Schichtung der Bedrohungslage durch das Virus oder die zumindest zeitweilige Außerkraftsetzung der funktionalen Differenzierung während der Pandemie verdienten eine eingehendere Diskussion.
Wer eine Ausweitung der soziologischen Denkzone fordert, sollte sie mit den bestehenden Zonen des soziologischen Denkens unter Anleitung der eigenen Theorien verbinden. Trotz eines umfangreichen Literaturverzeichnisses bleibt bei Schroer der Eindruck, dass das Sammeln von Fundstellen aus anderen Fächern und vom Film dafür nicht ausreicht. GERALD WAGNER
Markus Schroer: "Geosoziologie". Die Erde als Raum des Lebens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 672 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was erdräumliche Verhältnisse bedeuten: Markus Schroer
sieht Nachholbedarf für das Studium von Mensch und Gesellschaft im Anthropozän.
Als Bruno Latour Ende der Siebzigerjahre seine ersten Beiträge zur Akteur-Netzwerk-Theorie veröffentlichte, war das mehr als eine Ausweitung der soziologischen Denkzone. Die teils empörten Reaktionen aus seinem eigenen Fach verrieten, dass hier jemand eine Ausweitung der Kampfzone begonnen hatte. Latour erntete Kopfschütteln für seine Forderung, zukünftig auch Natur und Technik als mithandelnde Akteure zum Gegenstand der Soziologie zu erklären.
Aber dann begann das Anthropozän. Und mit ihm die Suche nach einer Theorie für dieses Zeitalter, die nicht nur die Einheit von Erd- und Menschheitsgeschichte darstellen, sondern diesem Zeitalter auch den Schrecken nehmen sollte. Schließlich ist das Anthropozän in den zwei Jahrzehnten seiner Ausrufung bereits zum Metabegriff für die Krise geworden. Wie könnte die Soziologie dazu beitragen, dass der Mensch im Anthropozän nicht bereits schon wieder verschwindet?
Markus Schroer zufolge müsste sie zunächst einen fatalen Irrtum korrigieren. Er besteht in der Vorstellung einer zunehmenden Emanzipation des Menschen aus seinen "erdräumlichen" Verhältnissen. Im Anschluss vor allem an Bruno Latour, aber auch Michel Serres und Donna Haraway, fordert Schroer darum eine "Geosoziologie", weil sich das Soziale und die Natur kategorial nicht länger unterscheiden ließen. Für die systematische Erfassung des "Gesellschaft-Natur-Kultur-Hybrids" spricht nicht zuletzt, dass längst auch Disziplinen wie die Geowissenschaften nach Verbindungen in die Soziologie suchen. Das Problem ist nur, dass keiner antwortet. Ansätze, wenigstens das Ganze der Gesellschaft theoretisch zu fassen, sind seit der Archivierung der Systemtheorie Niklas Luhmanns eingestellt worden. Wer in der Soziologie Karriere machen möchte, sollte sich für Genderforschung, Sozialstrukturanalyse oder Migrationsforschung entscheiden. Aber einen soziologischen Beitrag zur Rettung des Planeten leisten? Der Spott, Gaia klinge wie Gaga, dürfte noch auf vielen Soziologentagen für Gelächter sorgen.
Natürlich müssen auch im Anthropozän noch Scheidungen erforscht, die Benachteiligung bildungsferner Schichten nachgewiesen und die Distinktionsgewinne der kulturellen Oberklassen zu Theorien der Gesellschaft verdichtet werden. Schroer dagegen sucht den Anschluss des Faches an Anthropologie, Zoologie und Philosophie. Dazu holt er ungeheuer weit aus: Ob Wetter, Klima und Boden, Tiere, Steine und Pflanzen, menschliche wie tierische Behausungen, Pflanzengesellschaften und die Konturen einer posthumanen Gesellschaft, Geopolitik, das Kapitalozän, Viren, Zoonosen und Schlachthöfe - überall zieht er Verbindungen, entwirft Netze und eine wechselseitige "Geopraxis" aller Lebewesen.
Doch nach der Lektüre der dichten sechshundert Seiten dieses Buches wird leider klar: Die Soziologie selbst kommt darin eigentlich nicht vor. Es gibt noch keine Geosoziologie, und Schroer hat sie auch nicht geliefert. Sein Buch ist darum der äußerst profunde Nachweis einer Leerstelle. Das zentrale Anliegen, der Soziologie eine "intellektuelle Verarmung" und eine "völlig unnötige Reduzierung ihres Gegenstandsbereichs" nachzuweisen, gelingt Schroer einwandfrei. Dass das nicht originell ist, sondern von Latour und Haraway stammt, ist aber nicht das eigentliche Problem dieses Buches. Das Problem ist, dass sich Schroer für die heutige Fachsoziologie genauso wenig interessiert wie diese sich für seine Gewährsleute aus Philosophie, Anthropologie, Dichtung und dem Film.
Welche soziologischen Felder haben denn bereits mit Naturbezügen zu tun? Die Konsumforschung? Die Techniksoziologie? Oder wenigstens die Agrarsoziologie? Die meisten Teildisziplinen des Faches dürften hier abwinken und ihr Desinteresse mit ihrer Nichtzuständigkeit begründen. Die Gesellschaftstheorie dagegen müsste sich betroffen zeigen, schließlich wirft nicht allein der Klimawandel die Frage auf, ob die moderne Gesellschaft überhaupt überleben wird. Ist die Geosoziologie darum eine strikt normative Theorie, die alles soziale Handeln unter den Vorbehalt stellen müsste, ob es zum Erhalt der Gattung beiträgt?
Erstaunlicherweise geht Schroer auf diese Problematik nicht ein. Ist die Geosoziologie eine Handlungstheorie? Die permanente Absicherung bei Latour würde das nahelegen. Aber wie verhält sie sich dann zur Theorie der funktionalen Differenzierung, die mit der Zoologie immerhin die Metatheorie der Evolutionslehre teilt? Könnte man ein gesellschaftliches Subsystem der Naturbeziehung jenseits der Wirtschaft entwerfen? Oder das mit dieser Theorie konkurrierende Prinzip der sozialen Differenzierung, also die Schichtung der Gesellschaft nach Einkommen und Bildung: Schon Ulrich Becks "Risikogesellschaft" von 1986 hatte ja klargestellt, dass sich auch die ökologischen Risiken gesellschaftlich ungleich verteilen würden. Wie wird die Gesellschaft des Anthropozäns sozial gegliedert sein? Das sind soziologische Schlüsselfragen, die die Geosoziologie zunächst einmal erforschen sollte. Bei Schroer kommt das alles nicht vor.
Was er thematisiert, sind die Klimadebatte und die Corona-Pandemie. Er streift jedoch eher distanziert durch die Klimapolitik, er referiert, aber er positioniert sich nicht. Er erwähnt zwar die Gefahr einer "Aushöhlung der Demokratie" durch so etwas wie eine Ökodiktatur, aber sein Gegenvorschlag einer "Ausweitung der demokratischen Akteure im Sinne des Neomaterialismus" bleibt substanzlos. Wer wären diese Akteure? Der Leser erfährt es nicht. Er erfährt auch nicht, warum Schroer die intensive soziologische Debatte während der Corona-Pandemie auf vier Seiten rasch abhakt, anstelle gerade diese Auseinandersetzung für eine Geosoziologie fruchtbar zu machen. Die empirischen Befunde wie etwa die soziale Schichtung der Bedrohungslage durch das Virus oder die zumindest zeitweilige Außerkraftsetzung der funktionalen Differenzierung während der Pandemie verdienten eine eingehendere Diskussion.
Wer eine Ausweitung der soziologischen Denkzone fordert, sollte sie mit den bestehenden Zonen des soziologischen Denkens unter Anleitung der eigenen Theorien verbinden. Trotz eines umfangreichen Literaturverzeichnisses bleibt bei Schroer der Eindruck, dass das Sammeln von Fundstellen aus anderen Fächern und vom Film dafür nicht ausreicht. GERALD WAGNER
Markus Schroer: "Geosoziologie". Die Erde als Raum des Lebens.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 672 S., br., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Soziologe Markus Schroer ist "kein Öko-Romantiker" hält der Historiker Herfried Münkler in seiner Rezension fest: Er beschäftige sich in seinem Buch mit dem Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensort und kritisiere dabei die Scheuklappen der eigenen Zunft. Dazu durchschreitet der Autor in einer Tour de Force die Erd- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und kommt zu dem Schluss, dass der Mensch das Anthropozän nicht überlebt, sollte er seine Existenz nicht endlich in Bezug zum "Zusammenwirken der Sterne, Pflanzen und Tiere" setzen, fasst Münkler zusammen. Obwohl sich Schroer ein immens großes Thema ausgesucht habe, ist es ihm in seinem Buch gelungen, lobt der Rezensent, durch kluge Strukturierung und Rekurs auf andere Autoren die Übersicht zu wahren und dabei aktuell sogar die Herausforderung der Corona-Pandemie mit einzubeziehen. Auch wenn er Schroer inhaltlich oft nicht zustimmt, wird Münkler durch Schroer dazu angeregt, über die Defizite soziologischer Theorien nachzudenken, die sich allein mit dem Menschen beschäftigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2023Fatale Dynamik
Der Soziologe Markus Schroer will den Blick der Gesellschaft auf ihre natürlichen Grundlagen verändern – aber ohne Öko-Romantik
Es sind zwei Fronten, an denen sich der Marburger Soziologe Markus Schroer positioniert: an der ökologischen, wobei er den Begriff des Anthropozäns nutzt, um auf die Gefahr einer Zerstörung der Erde durch die Menschen zu sprechen zu kommen, und an der soziologischen, an der er die Geschichte seines Fachs kritisiert, die sich allein auf den Umgang der Menschen untereinander konzentriert und dabei das Zusammenleben der Menschen mit Pflanzen und Tieren aus dem Blick verloren habe. Schroer zeigt das am Begriff der „Weltgesellschaft“, mit dem die soziologische Beobachtung unmittelbar vom Zusammenleben kleinerer und größeren Gruppen auf die ganze Welt überspringt, ohne dabei auch nur einen Augenblick bei Pflanzen und Tieren zu verweilen, also die irdische Existenz menschlichen Lebens und dessen Voraussetzungen ins Auge zu fassen.
Schroer hat damit ein Buch geschrieben, in dem es letzten Endes um die „Erd-Vergessenheit“ unseres Denkens und Handelns geht. Weil für ihn das Denken der Schlüssel zum Handeln ist, hat er sich auf Ersteres konzentriert: Die Menschheit, so seine These, wird die Epoche des Anthropozäns nur überleben, wenn sie ihre terrane Existenz anders denkt als bisher, und dabei kommt der Soziologie als Selbstbeobachtung von Lebensform und Lebensweise eine Schlüsselrolle zu. Das ist ein gewaltiges Thema, das sich obendrein nicht in Form einer chronologischen oder systematischen Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien bearbeiten lässt, da die sich ja, abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie Gabriel Tarde, Georg Simmel und René König, mit den Lebensgrundlagen der Gesellschaft nicht weiter beschäftigt, sondern sich sogleich auf deren inneres Funktionieren konzentriert hat. Also müssen Mineralogie und Biologie, Geografie und Ethologie nach ihren Beiträgen zum Zusammenwirken der Sterne, Pflanzen und Tiere mit den Menschen befragt werden, und bei der Ausformulierung dieser Fragen spielen Martin Heidegger und Hans Blumenberg, Carl Schmitt und Peter Sloterdijk eine wichtigere Rolle als die Fachsoziologen.
Schroer muss weit ausholen und die Wissenschaftsgeschichte mehrfach durchstreifen, um seiner Themen Herr zu werden. Das hat zur Folge, dass sein Buch immer wieder in der Gefahr steht, sich zu einem Kompendium auszuwachsen, in dem tendenziell alle menschliches Leben betreffenden Fragen gestreift werden. Schroer hat solches Auswuchern begrenzt, indem er zu den jeweils behandelten Themenkomplexen zumeist drei als repräsentativ angesehene Autoren herangezogen hat, anhand deren Theorien er die infrage stehenden Probleme durcharbeitet. Und dabei gelingt es ihm erstaunlich gut, die Fülle der Fragen und Probleme so zu strukturieren, dass es immer wieder um „die Erde als Raum des Lebens“ geht.
In sieben großen Kapiteln geht Schroer sein Thema an: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den menschliches Leben betreffenden Abschnitten der Erdgeschichte vom Paläolithikum bis zum Anthropozän und der Diskussion über Sinn und Relevanz des Anthropozän-Begriffs, der nicht nur eine weitere Epochenbezeichnung ist, sondern auch ein Warnschild für das Ende menschlichen Lebens im Fall einer weiteren Erhitzung der Erde. Im zweiten Kapitel geht es dann um die Varianten des Lebens, vor allem das von Pflanzen und Tieren und das Zusammenwirken dessen mit dem Leben der Menschen. Der gebaute Raum, von der Höhle zum Haus, vom Dorf zur Stadt, und die Erdverbundenheit der unterschiedlichen Gesellschaftsformationen werden in den nachfolgenden zwei Kapiteln behandelt, bevor es dann um Geopolitik und Geoökonomie geht, des Weiteren um einen „Naturvertrag“ des Menschen, der dem Gesellschaftsvertrag zur Seite gestellt werden soll. Abschließend kommt noch die gesellschaftliche Ordnung in der Zeit der Corona-Pandemie als Konfrontation menschlichen Lebens mit Viren zur Sprache. So schafft Schroer es schließlich ins Hier und Heute.
Man kann das Buch auch als Repetitorium der soziologischen Theoriebildung und ihrer Defizite lesen und wird dabei viele Anregungen erhalten, was selbst dann gilt, wenn man es als einen Gang durch große Teile der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts liest. Man muss also den Absichten des Autors nicht folgen, um von der Lektüre etwas zu haben. Immerhin wird man in dem Buch mit Problemen konfrontiert wie der Frage, ob es für uns überlebenswichtig ist, den auf einer Abfolge von Zeitetappen beruhenden Begriff des Fortschritts durch die Vorstellung eines dauerhaften Nebeneinanders von Etappen im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur zu ersetzen. Erst diese Revision unserer Zeitwahrnehmung, so Schroer, würde uns in die Lage versetzen, aus der Dynamik einer voranschreitenden Naturaneignung auszusteigen, die unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit steht.
Schroer ist bei alledem kein Öko-Romantiker, der im Anschluss an den französischen Soziologen Bruno Latour der Symbiose von Mensch und Tier oder auch Mensch und Pflanze als Lösung aller Probleme das Wort redet. Dass Gesellschaftlichkeit, selbst eine der Tiere und Pflanzen, immer auch Konflikt und Kampf, Verdrängung und Begrenzung einschließt, ist der soziologische Einspruch, den Schroer gegenüber Kooperations- und Symbiosevorstellungen geltend macht. Dass dem uns umgebenden Leben auch Bedrohliches innewohnt, gegen das wir uns behaupten müssen, steht für ihn außer Frage. Er diskutiert das im Kapitel über die Einwirkungen der Corona-Pandemie auf das menschliche Leben, das der Individuen wie das der Gesellschaften. Das Buch ist, trotz der ökologischen Sorge, die den Autor umtreibt, aber kein aufdringliches Werk mit erhobenen Zeigefingern geworden, sondern ein nachdenkliches, das längst Gedachtes inspiziert, um Unbedachtes ins Bewusstsein zu rücken.
HERFRIED MÜNKLER
Das Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe im brandenburgischen Neupetershain soll noch bis Ende 2038 am Netz bleiben.
Foto: imago
Markus Schroer: Geosoziologie – Die Erde als Raum des Lebens. Suhrkamp, Berlin 2022, 657 Seiten, 31 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Soziologe Markus Schroer will den Blick der Gesellschaft auf ihre natürlichen Grundlagen verändern – aber ohne Öko-Romantik
Es sind zwei Fronten, an denen sich der Marburger Soziologe Markus Schroer positioniert: an der ökologischen, wobei er den Begriff des Anthropozäns nutzt, um auf die Gefahr einer Zerstörung der Erde durch die Menschen zu sprechen zu kommen, und an der soziologischen, an der er die Geschichte seines Fachs kritisiert, die sich allein auf den Umgang der Menschen untereinander konzentriert und dabei das Zusammenleben der Menschen mit Pflanzen und Tieren aus dem Blick verloren habe. Schroer zeigt das am Begriff der „Weltgesellschaft“, mit dem die soziologische Beobachtung unmittelbar vom Zusammenleben kleinerer und größeren Gruppen auf die ganze Welt überspringt, ohne dabei auch nur einen Augenblick bei Pflanzen und Tieren zu verweilen, also die irdische Existenz menschlichen Lebens und dessen Voraussetzungen ins Auge zu fassen.
Schroer hat damit ein Buch geschrieben, in dem es letzten Endes um die „Erd-Vergessenheit“ unseres Denkens und Handelns geht. Weil für ihn das Denken der Schlüssel zum Handeln ist, hat er sich auf Ersteres konzentriert: Die Menschheit, so seine These, wird die Epoche des Anthropozäns nur überleben, wenn sie ihre terrane Existenz anders denkt als bisher, und dabei kommt der Soziologie als Selbstbeobachtung von Lebensform und Lebensweise eine Schlüsselrolle zu. Das ist ein gewaltiges Thema, das sich obendrein nicht in Form einer chronologischen oder systematischen Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien bearbeiten lässt, da die sich ja, abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie Gabriel Tarde, Georg Simmel und René König, mit den Lebensgrundlagen der Gesellschaft nicht weiter beschäftigt, sondern sich sogleich auf deren inneres Funktionieren konzentriert hat. Also müssen Mineralogie und Biologie, Geografie und Ethologie nach ihren Beiträgen zum Zusammenwirken der Sterne, Pflanzen und Tiere mit den Menschen befragt werden, und bei der Ausformulierung dieser Fragen spielen Martin Heidegger und Hans Blumenberg, Carl Schmitt und Peter Sloterdijk eine wichtigere Rolle als die Fachsoziologen.
Schroer muss weit ausholen und die Wissenschaftsgeschichte mehrfach durchstreifen, um seiner Themen Herr zu werden. Das hat zur Folge, dass sein Buch immer wieder in der Gefahr steht, sich zu einem Kompendium auszuwachsen, in dem tendenziell alle menschliches Leben betreffenden Fragen gestreift werden. Schroer hat solches Auswuchern begrenzt, indem er zu den jeweils behandelten Themenkomplexen zumeist drei als repräsentativ angesehene Autoren herangezogen hat, anhand deren Theorien er die infrage stehenden Probleme durcharbeitet. Und dabei gelingt es ihm erstaunlich gut, die Fülle der Fragen und Probleme so zu strukturieren, dass es immer wieder um „die Erde als Raum des Lebens“ geht.
In sieben großen Kapiteln geht Schroer sein Thema an: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den menschliches Leben betreffenden Abschnitten der Erdgeschichte vom Paläolithikum bis zum Anthropozän und der Diskussion über Sinn und Relevanz des Anthropozän-Begriffs, der nicht nur eine weitere Epochenbezeichnung ist, sondern auch ein Warnschild für das Ende menschlichen Lebens im Fall einer weiteren Erhitzung der Erde. Im zweiten Kapitel geht es dann um die Varianten des Lebens, vor allem das von Pflanzen und Tieren und das Zusammenwirken dessen mit dem Leben der Menschen. Der gebaute Raum, von der Höhle zum Haus, vom Dorf zur Stadt, und die Erdverbundenheit der unterschiedlichen Gesellschaftsformationen werden in den nachfolgenden zwei Kapiteln behandelt, bevor es dann um Geopolitik und Geoökonomie geht, des Weiteren um einen „Naturvertrag“ des Menschen, der dem Gesellschaftsvertrag zur Seite gestellt werden soll. Abschließend kommt noch die gesellschaftliche Ordnung in der Zeit der Corona-Pandemie als Konfrontation menschlichen Lebens mit Viren zur Sprache. So schafft Schroer es schließlich ins Hier und Heute.
Man kann das Buch auch als Repetitorium der soziologischen Theoriebildung und ihrer Defizite lesen und wird dabei viele Anregungen erhalten, was selbst dann gilt, wenn man es als einen Gang durch große Teile der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts liest. Man muss also den Absichten des Autors nicht folgen, um von der Lektüre etwas zu haben. Immerhin wird man in dem Buch mit Problemen konfrontiert wie der Frage, ob es für uns überlebenswichtig ist, den auf einer Abfolge von Zeitetappen beruhenden Begriff des Fortschritts durch die Vorstellung eines dauerhaften Nebeneinanders von Etappen im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur zu ersetzen. Erst diese Revision unserer Zeitwahrnehmung, so Schroer, würde uns in die Lage versetzen, aus der Dynamik einer voranschreitenden Naturaneignung auszusteigen, die unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit steht.
Schroer ist bei alledem kein Öko-Romantiker, der im Anschluss an den französischen Soziologen Bruno Latour der Symbiose von Mensch und Tier oder auch Mensch und Pflanze als Lösung aller Probleme das Wort redet. Dass Gesellschaftlichkeit, selbst eine der Tiere und Pflanzen, immer auch Konflikt und Kampf, Verdrängung und Begrenzung einschließt, ist der soziologische Einspruch, den Schroer gegenüber Kooperations- und Symbiosevorstellungen geltend macht. Dass dem uns umgebenden Leben auch Bedrohliches innewohnt, gegen das wir uns behaupten müssen, steht für ihn außer Frage. Er diskutiert das im Kapitel über die Einwirkungen der Corona-Pandemie auf das menschliche Leben, das der Individuen wie das der Gesellschaften. Das Buch ist, trotz der ökologischen Sorge, die den Autor umtreibt, aber kein aufdringliches Werk mit erhobenen Zeigefingern geworden, sondern ein nachdenkliches, das längst Gedachtes inspiziert, um Unbedachtes ins Bewusstsein zu rücken.
HERFRIED MÜNKLER
Das Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe im brandenburgischen Neupetershain soll noch bis Ende 2038 am Netz bleiben.
Foto: imago
Markus Schroer: Geosoziologie – Die Erde als Raum des Lebens. Suhrkamp, Berlin 2022, 657 Seiten, 31 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Das Buch ist, trotz der ökologischen Sorge, die den Autor umtreibt, kein aufdringliches Werk geworden, das den Leser mit erhobenen Zeigefingern umstellt, sondern ein nachdenkliches Buch, das längst Gedachtes inspiziert und neu bewertet, um Unbedachtes ins Bewusstsein zu rücken.« Herfried Münkler Süddeutsche Zeitung