Eine Mutter, die erlebt, wie ihr Mann die gemeinsame, lang ersehnte kleine Tochter zur Schönheitskönigin hochstilisiert. Eine junge Frau, deren nette Bekanntschaft aus dem Fitness-Studio sich zum rasenden Stalker entwickelt. Eine Journalistin, die auf Dienstreise von einem hilfsbereiten Herrn mitgenommen und missbraucht wird. Acht Geschichten von Frauen, deren Liebe oder Vertrauen in Männer enttäuscht wird und die doch nicht auf Hilfe hoffen dürfen, selbst wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Wie bereits in ihrem gefeierten Roman »Stimmen" beschreibt Dacia Maraini einfühlsam und mit großem Respekt vor dem individuellen Schicksal wie die gesellschaftlichen Strukturen das Verhalten der Männer begünstigen und Frauen wenig Raum für selbstbewusstes Handeln lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2015Tödliche Sehnsucht
Die Feministin Dacia Maraini als umsichtige Erzählerin
"Als Ideologie ist der Feminismus tot. Wie alle großen Ideologien", sagte Dacia Maraini unlängst in einem Interview. Für sie findet der Feminismus heute in der Praxis statt, und er ist nötiger denn je: Nicht nur Berlusconi verbreitete in seinen Medien ein verächtliches Frauenbild, sondern immer mehr Männer fühlen sich weltweit durch die Emanzipation der Frauen in ihrer Männlichkeit bedroht und reagieren mit Gewalt. Deshalb hat sich die Situation der Frauen in den letzten Jahrzehnten dramatisch verschlechtert.
Dacia Marainis neue Geschichten beginnen dort, wo der Polizeibericht mit seiner Oberflächenschilderung endet. Ihr Rohmaterial holt sie sich aus der Zeitung, und schon der programmatische Titel "Geraubte Liebe" macht deutlich, um welchen emotionalen Kern die acht Geschichten kreisen. Ganz buchstäblich geht es um Liebesraub mit allen Mitteln: Die oft einsamen und gutgläubigen Frauen sind davon überzeugt, es mit der gefestigten Liebe eines Mannes zu tun zu haben, der "über jeden Verdacht, jede überflüssige Neugier" erhaben ist. Selbst wenn sie merken, dass ihr neuer Geliebter sie zu terrorisieren beginnt, sind sie nicht nur bereit, ihm immer wieder zu verzeihen, sondern verteidigen ihn auch gegenüber Nachbarn, Ärzten und Freunden. Wie Angela, die ihr Leben völlig nach ihrem Peiniger ausrichtet und sich einredet, sie könne den Paranoiden heilen ("Die Nacht der Eifersucht"). Ihr Psychogramm, das in strengen, sehr genau mit Aussparungen arbeitenden Sätzen erzählt wird, ist meisterlich gezeichnet.
Der kühle Berichtston, unter dem sich eine tiefe Anteilnahme der Autorin verbirgt, macht die Schilderung seelischer Abhängigkeit besonders beklemmend: Die verhängnisvollen Entwicklungen sind für Außenstehende unverständlich, und sie enden meist in einer auf Schuldgefühlen beruhenden Komplizenschaft.
Keinem der auf den ersten Blick sensibel wirkenden Täter würde man ein solches Verhalten zutrauen: dem stolzen Vater nicht, der seine Tochter, das langersehnte Wunschkind, zum bewunderten Kindermodel abrichtet, was sie schließlich das Leben kostet; dem anerkannten Pianisten nicht, der seine Stieftöchter mit Morddrohungen einschüchtert und missbraucht; dem charismatischen Rockmusiker nicht, der seine jungeFrau zu Tode prügelt. Seine Kollegen wussten ziemlich genau, was geschah - aber griffen nicht ein.
Es sind exemplarische, hochaktuelle Geschichten, in politisch-aufklärerischer Absicht geschrieben, und ihre Stärke besteht darin, auf leise, aber unnachgiebige Art schwierige Fragen zu stellen. Dabei sind in Marainis Augen nicht allein die Männern schuld: "Ich glaube nicht an den Krieg der Geschlechter, es sind nicht die Männer. Frauen und Männer werden gleich geboren, erst unsere Kultur macht sie ungleich." Davon handelt die im Leser am längsten nachhallende Geschichte: In sechs einander widersprechenden Zeugenaussagen berichtet die "Chronik einer Gruppenvergewaltigung" von einem verhängnisvollen Dorfnachmittag - in ihrer Vielstimmigkeit knüpft sie an Marainis erfolgreichsten Roman "Stimmen" (1995) an. Mehr als die Lügen der Täter verstören die Aussagen des Schuldirektors und die gehässig-machohaften Kommentare der Lokalpresse, und beide, daran lässt die Erzählerin keinen Zweifel, sind in ihrer grausamen Selbstgefälligkeit elementar mitschuldig. Wie Pier Paolo Pasolini, mit dem sie eng befreundet war, hält sie einer Gesellschaft, die sich für anständig hält, den Spiegel vor - es erscheint eine unmenschliche Fratze.
NICOLE HENNEBERG
Dacia Maraini: "Geraubte Liebe". Geschichten.
Aus dem Italienischen von Gudrun Jäger. Edition fünf, Hamburg 2015. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Feministin Dacia Maraini als umsichtige Erzählerin
"Als Ideologie ist der Feminismus tot. Wie alle großen Ideologien", sagte Dacia Maraini unlängst in einem Interview. Für sie findet der Feminismus heute in der Praxis statt, und er ist nötiger denn je: Nicht nur Berlusconi verbreitete in seinen Medien ein verächtliches Frauenbild, sondern immer mehr Männer fühlen sich weltweit durch die Emanzipation der Frauen in ihrer Männlichkeit bedroht und reagieren mit Gewalt. Deshalb hat sich die Situation der Frauen in den letzten Jahrzehnten dramatisch verschlechtert.
Dacia Marainis neue Geschichten beginnen dort, wo der Polizeibericht mit seiner Oberflächenschilderung endet. Ihr Rohmaterial holt sie sich aus der Zeitung, und schon der programmatische Titel "Geraubte Liebe" macht deutlich, um welchen emotionalen Kern die acht Geschichten kreisen. Ganz buchstäblich geht es um Liebesraub mit allen Mitteln: Die oft einsamen und gutgläubigen Frauen sind davon überzeugt, es mit der gefestigten Liebe eines Mannes zu tun zu haben, der "über jeden Verdacht, jede überflüssige Neugier" erhaben ist. Selbst wenn sie merken, dass ihr neuer Geliebter sie zu terrorisieren beginnt, sind sie nicht nur bereit, ihm immer wieder zu verzeihen, sondern verteidigen ihn auch gegenüber Nachbarn, Ärzten und Freunden. Wie Angela, die ihr Leben völlig nach ihrem Peiniger ausrichtet und sich einredet, sie könne den Paranoiden heilen ("Die Nacht der Eifersucht"). Ihr Psychogramm, das in strengen, sehr genau mit Aussparungen arbeitenden Sätzen erzählt wird, ist meisterlich gezeichnet.
Der kühle Berichtston, unter dem sich eine tiefe Anteilnahme der Autorin verbirgt, macht die Schilderung seelischer Abhängigkeit besonders beklemmend: Die verhängnisvollen Entwicklungen sind für Außenstehende unverständlich, und sie enden meist in einer auf Schuldgefühlen beruhenden Komplizenschaft.
Keinem der auf den ersten Blick sensibel wirkenden Täter würde man ein solches Verhalten zutrauen: dem stolzen Vater nicht, der seine Tochter, das langersehnte Wunschkind, zum bewunderten Kindermodel abrichtet, was sie schließlich das Leben kostet; dem anerkannten Pianisten nicht, der seine Stieftöchter mit Morddrohungen einschüchtert und missbraucht; dem charismatischen Rockmusiker nicht, der seine jungeFrau zu Tode prügelt. Seine Kollegen wussten ziemlich genau, was geschah - aber griffen nicht ein.
Es sind exemplarische, hochaktuelle Geschichten, in politisch-aufklärerischer Absicht geschrieben, und ihre Stärke besteht darin, auf leise, aber unnachgiebige Art schwierige Fragen zu stellen. Dabei sind in Marainis Augen nicht allein die Männern schuld: "Ich glaube nicht an den Krieg der Geschlechter, es sind nicht die Männer. Frauen und Männer werden gleich geboren, erst unsere Kultur macht sie ungleich." Davon handelt die im Leser am längsten nachhallende Geschichte: In sechs einander widersprechenden Zeugenaussagen berichtet die "Chronik einer Gruppenvergewaltigung" von einem verhängnisvollen Dorfnachmittag - in ihrer Vielstimmigkeit knüpft sie an Marainis erfolgreichsten Roman "Stimmen" (1995) an. Mehr als die Lügen der Täter verstören die Aussagen des Schuldirektors und die gehässig-machohaften Kommentare der Lokalpresse, und beide, daran lässt die Erzählerin keinen Zweifel, sind in ihrer grausamen Selbstgefälligkeit elementar mitschuldig. Wie Pier Paolo Pasolini, mit dem sie eng befreundet war, hält sie einer Gesellschaft, die sich für anständig hält, den Spiegel vor - es erscheint eine unmenschliche Fratze.
NICOLE HENNEBERG
Dacia Maraini: "Geraubte Liebe". Geschichten.
Aus dem Italienischen von Gudrun Jäger. Edition fünf, Hamburg 2015. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Acht virtuose Geschichten über gepeinigte Frauen hat Rezensentin Nicole Henneberg in dem neuen Erzählband der Feministin Dacia Maraini entdeckt. Mit großer Beklemmung liest die Kritikerin von meist einsamen und gutmütigen Frauen, die von ihrem Geliebten terrorisiert werden, von Vätern missbraucht oder zum Kindermodel abgerichtet werden oder von ihren Männern zu Tode geprügelt werden. Vor allem bewundert die Rezensentin das Talent der Autorin, in ihren politisch-aufklärerischen Geschichten zugleich nüchtern-sachlich und mit einfühlsamer Anteilnahme zu erzählen und ebenso leise wie schwierige Fragen zu stellen, die lange nachhallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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