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Zu DDR-Zeiten soll alles besser gewesen sein: Mißverständnisse in den neuen Ländern über soziale Gerechtigkeit
Manfred Schmitt, Leo Montada (Herausgeber): Gerechtigkeitserleben im wiedervereinigten Deutschland. Leske + Budrich, Opladen 1999. 352 Seiten, 59,- Mark.
Das Leben ist ungerecht. Besonders hart trifft es eine breite Mehrheit der Ostdeutschen. Auf einer Tagung des "Zentrums für Gerechtigkeitsforschung (ZfG) der Universität Potsdam" haben "Gerechtigkeitsforscher" aus Ost und West diesen Befund eindrucksvoll bestätigt und niedergeschrieben.
Über die Ergebnisse einer "annähernd repräsentativen Stichprobe von Bürgerinnen und Bürgern aus Brandenburg" berichten Leo Montada und Anne Dieter. Das auch in anderen Umfragen vorherrschende Bild wird bestätigt: Eine überwiegend skeptische Beurteilung der Verhältnisse im vereinten Deutschland geht einher mit einer nostalgischen Verklärung des Lebens in der DDR. Einmal abgesehen von der Kaufkraft der Einkommen und wahrscheinlich der Reisefreiheit war in der DDR alles besser oder zumindest ebenso gut wie heute.
In den meisten Lebensbereichen geht es nach Meinung vieler Ostdeutscher derzeit vor allen Dingen "ungerechter" zu als früher. Nur bei der Möglichkeit zu selbständiger Arbeit und der Verteilung von Gütern des täglichen Bedarfs sieht es heutzutage umgekehrt aus. Die DDR wird als gerechter eingeschätzt: nicht nur bezogen auf die Lage von Frauen sowie die Verteilung von Arbeit und sozialer Leistung, sondern auch hinsichtlich der Lebensbedingungen von alten Menschen und Behinderten und sogar bei der Rechtsprechung.
Befragt nach der Einschätzung der Westdeutschen und der Ostdeutschen beweisen die Befragten aus den neuen Bundesländern ihren kritischen Blick: Während die Westdeutschen ihrer Meinung nach vor allem habgierig, rücksichtslos, egoistisch, raffiniert und machtgierig sind, schätzen sie sich selbst als hilfsbereit, gewissenhaft, ehrlich, zuverlässig und sympathisch ein. Diese in weiten Kreisen der Bevölkerung vorhandenen antiwestlichen Vorbehalte erinnern an das SED-vermittelte Zerrbild vom "Wolfsgesetz" des Kapitalismus. Das negative Erbe der DDR - in der Wirtschaft, aber auch in den Persönlichkeitsstrukturen vieler Menschen - wird überhaupt nicht mehr gesehen, so daß alles Schlechte dem Vereinigungsprozeß angelastet werden kann.
Die Autoren sehen zwar die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Verhältnissen und der subjektiven Sicht, scheuen sich aber, die Sichtweise vieler Ostdeutscher, die nicht nur in der genannten Umfrage deutlich wird, als das zu bezeichnen, was sie ist: selbstgerecht. Im Gegenteil: Andere Autoren dieses Bandes sprechen sogar von "erlebter sozialer Ungerechtigkeit", ohne zu hinterfragen, ob dieses Gefühl eine reale Grundlage hat oder aber das Ergebnis enttäuschter Erwartungen und überhöhter Ansprüche darstellt.
Anders als noch am Vorabend der Vereinigung blenden die Ostdeutschen vor allem den diktatorischen Charakter der DDR aus. Gunnar Winkler verweist auf eine jährlich stattfindende Befragung in den neuen Bundesländern ("Leben in den neuen Bundesländern"), in der die nach ihrem persönlichen Bild vom "Leben in der DDR" Befragten die Diktatur erst an 15. Stelle als prägend erwähnen.
Verschiedene Autoren erwähnen in anklagendem Ton, es habe sich ja nur das Leben zwischen Ostsee und Erzgebirge total verändert. Die einfache Tatsache, daß schließlich die Ostdeutschen so leben wollten wie die Westdeutschen und nicht umgekehrt, scheinen sie dabei im Einklang mit den Befragten verdrängt zu haben.
Nur im Beitrag von Martin Diewald zu den Arbeitsmarkterfahrungen in den neuen Bundesländern wird darauf hingewiesen, daß sich die Realität weit weniger negativ darstellt, als es nach Auswertung der Umfragen scheint. So gab es keineswegs eine massenhafte Entwertung von Ausbildungs- und Berufsqualifikationen, sondern für die Mehrheit der Ostdeutschen sogar eine Statussicherheit bei der Beschäftigung. Ein "Gerechtigkeitsproblem" existiert vor allem für die relativ große Gruppe der aus dem Arbeitsmarkt dauerhaft Verdrängten.
Dieter Frey und Eva Jonas dagegen nehmen die "erlebte Ungerechtigkeit" in Ostdeutschland anscheinend für bare Münze und behaupten, ethische Grundsätze wie Gleichberechtigung, Fairneß, Gerechtigkeit, Anerkennung der Menschenwürde oder Leistungsangemessenheit würden "in der heutigen Situation vernachlässigt".
Wenn Sozialwissenschaftler wie Gunnar Winkler einen besonders hohen Anstieg der Armut in Ostdeutschland erwähnen, ohne darauf hinzuweisen, daß es den heute als "arm" Definierten materiell immer noch besser geht als zu DDR-Zeiten, sich jedoch die Berechnungsmethode verändert hat, bestätigen sie die Vorurteile ihrer "Landsleute" in wissenschaftlich unzulässiger Weise. Gleiches gilt für den Beitrag von Toni Hahn, die pauschal feststellt, daß eine Gesellschaft, die Arbeitslose zuläßt, schon von vornherein "nicht gerecht verfaßt" sein kann.
Die meisten Beiträge verdeutlichen einmal mehr, daß zur Beurteilung der Vereinigung ein Begriff wie "Gerechtigkeit" ungeeignet ist. Ungerecht behandelt fühlen sich vor allem alle diejenigen, die meinen, sie bekämen nicht, was ihnen eigentlich zustehe. Die Maßstäbe, mit denen ein entsprechendes Urteil gefällt wird, sind ebenso vielfältig wie subjektiv verschieden und vor allem interessenbezogen. Die besondere Schwierigkeit im Umgang mit diesem Begriff liegt insoweit weniger in seiner theoretischen wie subjektiven Vieldeutigkeit als in seiner gesellschaftlichen Unbestimmtheit. Einen gesellschaftlichen Konsens darüber, was "gerecht" ist, wird es schon deshalb nicht geben können, weil das Spannungsverhältnis von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit nicht aufgelöst werden kann. Nur wer "Gerechtigkeit" mit "Gleichheit" in eins setzt, kann dieses Kriterium, zumeist unreflektiert und undifferenziert gehandhabt, zur Beurteilung heranziehen. Da dies jedoch zumeist nicht zugegeben wird, bleiben die tatsächlichen Intentionen der Wissenschaftler verborgen, die mit dieser "wundersam handlichen Keule" (Christian Graf von Krockow) hantieren.
KLAUS SCHROEDER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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