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Petra Weber untersucht das Dreiecksverhältnis Arbeiterschaft, Arbeitgeber und Staat in den Krisen der zwanziger Jahre. In Frankreich konnte die Demokratie gestärkt, in Deutschland nur geschwächt werden.
Von Eberhard Kolb
Seit geraumer Zeit gelten empirisch vergleichende Untersuchungen vielen Historikern als geschichtswissenschaftlicher Königsweg, um gesteigerte Erkenntnisgewinne einzufahren. So laut auch die Forderung nach dem Vergleich, gar dem transnationalen Vergleich, erhoben wird, so sehr hapert es oft an einer überzeugenden Realisierung. Unter die geglückten Unternehmungen auf diesem Gebiet ist ein ambitioniertes Projekt des Instituts für Zeitgeschichte zu rechnen. Gegenstand ist die Krise der Demokratie im Europa der Zwischenkriegszeit, exemplarisch untersucht im Vergleich zwischen der Weimarer Republik und der späten Dritten Französischen Republik. Bisher vorliegende Arbeiten thematisieren in vergleichender Perspektive den politischen Extremismus am Beispiel der Metropolen Paris und Berlin, Mentalität und Parteiwesen in zwei agrarischen Regionen Frankreichs und Deutschlands, die Funktionsweise von Reichstag und französischer Abgeordnetenkammer sowie die Kräfte einer weitgefassten politischen "Mitte".
Das Spektrum wird jetzt nach der sozialgeschichtlichen Seite hin erweitert durch den Band von Petra Weber. Hinter dem etwas umständlichen Titel verbirgt sich eine auf höchstem wissenschaftlichen Niveau erstellte Untersuchung der "industriellen Beziehungen" in Weimar-Deutschland und im Frankreich der Zwischenkriegszeit. Unter "industriellen Beziehungen" versteht Frau Weber sowohl die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern im Betrieb als auch überbetriebliche Beziehungen zwischen Gruppen und Verbänden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie deren Verhältnis zum Staat. Es ist also ein weites Feld, das es zu beackern gilt. Wie Frau Weber die schwierige Aufgabe meistert, verdient uneingeschränkten Respekt. Mit imponierender Souveränität in Stoffbeherrschung und Diktion entwirft sie ein facettenreiches Panorama der krisenhaften Entwicklungen im Dreiecksverhältnis Arbeiterschaft-Arbeitgeber-Staat diesseits und jenseits des Rheins.
"Wer an den Maßstäben deutscher Sozialpolitik misst, muss die französische Entwicklung für arm halten." Mit dieser pointierten Bemerkung hat der katholische Sozialwissenschaftler Götz Briefs 1932 verdeutlicht, wie sehr sich in der Zwischenkriegszeit die beiden Länder im Bereich der industriellen Beziehungen voneinander unterschieden. Wie es dazu kam, weshalb in Frankreich und Deutschland die sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen einen so unterschiedlichen Verlauf nahmen und nicht selten gegensätzliche Ergebnisse zeitigten, warum die Verteilungskämpfe das Fundament der Weimarer Demokratie untergruben, während es in Frankreich erst 1936 zur sozialen Explosion kam - auf diese Fragen gibt Petra Weber, gestützt auf eine immense Materialbasis, erschöpfende Antworten.
Die Weichen für eine unterschiedliche Entwicklung der industriellen Beziehungen nach 1918 wurden in Frankreich und Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg gestellt. Zwar war die Arbeiterbewegung hier wie dort staatlicher Repression ausgesetzt, aber im Deutschen Reich gab es eine funktionierende Sozialversicherung und mitgliederstarke disziplinierte Gewerkschaften, eng verbunden mit einer effizient organisierten Partei, die im Parlament als Sprachrohr operieren konnte. In Frankreich hingegen existierte keine Sozialversicherung, und die schwachen Gewerkschaften standen zudem unter dem Einfluss revolutionärer Syndikalisten; so waren in vielen Industriezweigen die industriellen Beziehungen "noch archaischer als in Deutschland", die antietatistisch eingestellten Unternehmer lenkten unangefochten die Wirtschaft.
Wie vor 1914 blieb auch nach 1918 die Dritte Republik geprägt durch den Widerspruch zwischen politischer Demokratie und autoritären industriellen Beziehungen. Wie sich in den Kriegsjahren das Verhältnis zwischen der Arbeiterschaft, den Unternehmern und dem Staat gestaltete, in Frankreich und in Deutschland, das stellt Frau Weber eingehend dar. Mit Nachdruck betont sie, dass in Deutschland der Hunger zu einem Politikum ersten Ranges wurde: Im Lauf des Krieges starben 750000 Menschen an Unterernährung; somit habe der Hunger mehr Opfer gefordert als die alliierten Bomben im Zweiten Weltkrieg. Während in Frankreich trotz Einschränkungen die Bevölkerung einigermaßen ausreichend mit Grundnahrungsmitteln versorgt werden konnte, trieb in Deutschland die miserable Ernährungslage die Menschen auf die Straße. Hungerproteste waren eine Haupttriebkraft beim Entstehen jener Massenbewegung, die im Winter 1918/19 zur revolutionären Massenbewegung wurde.
In Frankreich gab es keine die Staatsautorität in Frage stellende radikale Massenbewegung. Die Siegeseuphorie schuf für kurze Zeit eine Klassenharmonie, die fehlende Militanz der Arbeiter trug wesentlich zur Stabilität der Nachkriegsgesellschaft bei. Nach dem Scheitern des Eisenbahnerstreiks im Mai 1920 waren die französischen Gewerkschaften völlig kampfunfähig und fielen als Machtfaktor für viele Jahre kaum mehr ins Gewicht. Ganz anders lagen die Dinge in Deutschland. Mit Recht vermerkt Frau Weber, die industriellen Beziehungen in Deutschland und Frankreich während der Nachkriegszeit seien im Grunde nicht zu vergleichen, weil der Traditionsbruch in Frankreich nicht 1918/19 - wie in Deutschland -, sondern erst 1936 stattgefunden habe. Die Analyse der Räteund Streikbewegungen in den Revolutionsmonaten 1918/19 ist einer der Glanzpunkte in Petra Webers Darstellung. Sie weist nach, dass die Protestbewegung trotz ihres amorphen Charakters ein verbindendes Element besaß, nämlich die Revolutionierung der alltäglichen Machtbeziehungen im Betrieb, die Demontage der innerbetrieblichen Machthierarchien, vor allem des "Grubenmilitarismus". Die Mitsprache auf zentraler Ebene hatte demgegenüber für viele Arbeiter nur sekundäre Bedeutung. Man könnte lange fortfahren mit der Präsentation wichtiger, immer einleuchtend begründeter Befunde. Ebenso ausführlich wie auf Aufbau und Krise des deutschen Sozialstaats in den zwanziger Jahren geht Frau Weber ein auf die Entwicklung der industriellen Beziehungen im Frankreich dieser Jahre, wie etwa das Scheitern der Bemühungen um eine obligatorische Sozialversicherung (erst 1936 durch die Volksfrontregierung eingeführt).
Wer mit präzisen Zahlenangaben und prägnanten Belegen unterfütterte Informationen sucht - über Arbeitskämpfe, Streiks und Aussperrungen diesseits und jenseits des Rheins, über Strategien der Unternehmer hier und dort, über die unterschiedlichen Einstellungen zur Staatsintervention -, der wird in dieser Studie fündig. Dem Leser wird allerdings viel Geduld abverlangt; über 1100 Textseiten sind ein harter Brocken. Doch der Fachmann wird kaum eine der detailverliebten Passagen missen wollen, denn er findet keine andere Studie, in der zum einen die industriellen Beziehungen in Frankreich so kompetent und präzis analysiert sind und zum andern die industriellen Beziehungen in der Weimarer Republik so nuanciert und urteilssicher dargestellt werden - und das in einem Band! Mit diesem voluminösen Opus wird der selbstgestellte Anspruch eingelöst, in komparatistischer Untersuchung zu zeigen, "wie gemeineuropäische Krisenphänomene und unterschiedliche sozialstaatliche Traditionen sich verschränkten und das Fundament einer Demokratie stärkten und schwächten".
Petra Weber: Gescheiterte Sozialpartnerschaft - Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918-1933/39). Oldenbourg Verlag, München 2010. 1245 S., 128,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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