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Was Sie immer schon lesen wollten und nur nicht zu mögen sich trauten: Helmuth Kiesels prachtvolle Literaturgeschichte zur Weimarer Republik.
War Adolf Hitler ein guter Schriftsteller?", fragte vor zweieinhalb Jahren, auf dem Höhepunkt der Kontroverse um eine Neuausgabe von "Mein Kampf", der Heidelberger Literaturhistoriker Helmuth Kiesel in einem Artikel für diese Zeitung. Er hatte sich dem schwierigen Versuch unterzogen, "Mein Kampf" unter rein literarischen Gesichtspunkten zu lesen, und war zu dem Ergebnis gelangt, dass Hitler keineswegs ein Stümper war, sondern "über ein breites Register an rhetorischen und stilistischen Mitteln verfügte", die er nach den Regeln der Reklame wirkungsvoll einzusetzen wusste (F.A.Z. vom 4. August 2014). Jetzt hat Kiesel eine 1300 Seiten umfassende Literaturgeschichte der Weimarer Republik vorgelegt, und bei nicht wenigen Titeln, die das literarische Leben zwischen 1918 und 1933 bestimmten, scheint ihm ähnlich mulmig gewesen zu sein wie bei der Lektüre von "Mein Kampf".
Kiesel schert sich wenig um den Kanon einer Literaturwissenschaft, welche Autoren, die sich 1933 auf das nationalsozialistische System einließen, generell aussondert. Man dürfe das Jahr 1933 als Jahr der Entscheidung nicht absolut setzen und zur Wasserscheide der deutschen Literatur erklären. Weil moralische Kategorien zur Bewertung literarischer Hervorbringungen nicht taugten, werde eine retrospektive Betrachtung, in der alles auf die Frage zulaufe, wie hielt es der Verfasser am Ende mit den Nazis, weder den Autoren noch ihren Werken gerecht. Dass ein Autor links, pazifistisch oder jüdisch war, mache ihn nicht automatisch zu einem besseren Schriftsteller. Natürlich seien Stimmen wie die von Tucholsky und Ossietzky wichtig gewesen - beide werden neben Willy Haas und Max Herrmann-Neiße von Kiesel immer wieder in den Zeugenstand gerufen -; aber den großen Roman oder das gewichtige Drama zur Verteidigung der parlamentarischen Demokratie suche man auf der Linken vergeblich.
Eine "deutliche Parallelität" zwischen Politik und Literatur ist für Kiesel das eigentliche Charakteristikum der Jahre zwischen der Niederlage 1918 und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Deshalb erzählt er chronologisch entlang den politischen Eckdaten: von den Revolutionswirren über die Umsturzversuche und die anschließende kurze Konsolidierungsphase bis hin zur neuerlichen Radikalisierung der Politik durch die Straße. Seine einfühlsamen Paraphrasierungen wichtiger Werke insbesondere der Romanliteratur, ergänzt um ausführliche Zitate aus der zeitgenössischen Kritik, bieten dem Leser überraschende Einblicke in die sozialen Milieus von Weimar und eröffnen ein Panorama der Republik, das kein Historiker facettenreicher hätte gestalten können.
Nachdem Expressionismus, Futurismus und Dadaismus, die der Literatur der Kriegsjahre ihren Stempel aufgedrückt hatten, um 1920 rasch an Schwung verloren, erwies sich die Epik bald als die Gattung, in der das Lebensgefühl der Zeit seinen adäquaten Ausdruck fand. Man las Zukunftsromane voller Technikbegeisterung, zumal für alles, was fliegen konnte, Angestelltenromane ("Kleiner Mann - was nun?"), Sportromane und Werkstudentenromane (Studenten, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen mussten, als neues soziales Phänomen), nicht zu vergessen die Fotobücher der Neuen Sachlichkeit. Unter diesem Sammelbegriff wurde ein Großteil der erzählenden Literatur von Weimar Mitte der zwanziger Jahre zusammengefasst, als exemplarisch gilt bis heute Erich Kästners "Fabian".
Die Autorinnen, die mit wichtigen Werken zu dieser Entwicklung beitrugen, werden mit besonderer Zuneigung vorgestellt: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun, Gabriele Tergit oder Vicki Baum, die mit "Menschen im Hotel" einen der erfolgreichsten Romane der Zeit schrieb und mit "Feme" 1926 auch eine direkte Reaktion auf die zahlreichen politischen Morde durch militante rechte Organisationen.
Als gemeinsamer Nenner dieser "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" - so der Ausdruck des Kunsthistorikers Wilhelm Pinder für die Disparität der Stile - erscheint die Krisenerfahrung. Viele empfanden ihre Zeit als eine ununterbrochene Abfolge von Krisen. Dies hatte nicht nur eine Fragmentarisierung zur Folge - Musils "Mann ohne Eigenschaften" blieb ebenso Fragment wie Hans Henny Jahnns "Fluss ohne Ufer". Das Krisenbewusstsein führte auch zu inhaltlichen Zuspitzungen: letzte Entscheidungen, das Verlangen nach Führerschaft, Gewaltverherrlichung. Im Streit darum, wer über die deutsche Kultur zu bestimmen hatte, machte die Provinz mobil gegen die Metropole. Literarische Debatten arteten immer häufiger in politische Kontroversen aus, und Döblins "Berlin Alexanderplatz" wurde dabei genauso zur Zielscheibe rechter Agitation wie Remarques "Im Westen nichts Neues". Eine Literaturgeschichte, die sich an politischen Daten orientiert, muss politisch und gesellschaftlich relevante Werke in den Mittelpunkt rücken. Dies führt einerseits zur Vernachlässigung mancher Autoren, die für uns heute die Literatur der zwanziger Jahre repräsentieren wie Hesse, Kafka oder Franz Werfel; andererseits geraten Schriftsteller in den Fokus, die seit 1945 als erledigt gelten. Für Kiesel zählt, ob ein zwischen 1918 und 1933 erschienenes Werk als zeittypisch angesehen werden kann. Die Vertreter des neuen Nationalismus seien "gesetz- und verhängnismäßig mit Talentlosigkeit geschlagen", behauptete Thomas Mann 1928, sie könnten "in irgendeinem höheren Sinne nicht faszinieren". Das will Kiesel so nicht gelten lassen. Und deshalb stehen bei ihm erst mal alle unterschiedslos nebeneinander, ja, auf gleicher Höhe: Ina Seidel neben Elisabeth Langgässer, Erwin Guido Kolbenheyer neben Lion Feuchtwanger, Hans Grimm neben Stefan Zweig.
Liest man von Kiesel besonders hervorgehobene Romane wie Arnolt Bronnens "O.S." über die deutsch-polnischen Auseinandersetzungen in Oberschlesien oder Ernst von Salomons "Die Geächteten" über das Treiben der Freikorps als literarisch überzeugende Manifestationen einer Fehlentwicklung, die unmittelbar in die Katastrophe führte, dann lässt sich die Frage nach der politischen Verantwortung der Verfasser allerdings nicht ausblenden. Kiesel versucht, literarische Kategorien sauber von politischen Implikationen zu trennen, und zeigt sich im Zweifel nachsichtig. Es mag zutreffen, dass vielen Werken "die spätere Zuwendung der Autoren zum Nationalsozialismus nicht immer schon zwingend eingeschrieben" war; dennoch ist das rassistische und totalitäre Gedankengut in den Werken eines Bruno Brehm, Franz Schauwecker oder Felix Riemkasten nicht wegzudiskutieren. In seinem Bemühen, die Ausgestoßenen literarisch zu rehabilitieren, schießt Kiesel bisweilen vielleicht übers Ziel hinaus.
Dennoch ist der Gewinn, den diese Literaturgeschichte für die Erweiterung unseres Bildes von Weimar darstellt, nicht hoch genug zu veranschlagen. Die Lagerbildung und Militarisierung der Literatur begann unmittelbar nach Kriegsende mit unterschiedlichen Deutungen der Niederlage, die das Denken und Fühlen der Zeitgenossen mehr bestimmte als alles andere. Kiesel erinnert mit Recht daran, dass die Geschichte Weimars in erster Linie eine Nachkriegsgeschichte ist - und eben keine Vorgeschichte des Dritten Reiches. Während die Nationalisten und Völkischen mit Darstellungen der Grenzlandkonflikte, der Kämpfe im Baltikum oder der Separatistenbestrebungen im Rheinland große Erfolge erzielten, meldete sich mit Büchern zum Ruhrkampf und zu den Aufständen in Mitteldeutschland 1921 erstmals auch eine dezidiert klassenkämpferische Literatur zu Wort. Je näher der Bürgerkrieg zu kommen schien, desto mehr bemühten sich die Literaten auf beiden Seiten, "Dampf hinter die Erscheinungen zu setzen" (Ernst Jünger).
Kiesel wollte aus den Quellen der Literatur so etwas wie den Geist der Zeit destillieren und hat ein prallvolles, herrlich inkorrektes, unkonventionelles Pandämonium Weimars zusammengestellt, das den ganzen Wahnwitz dieser politisch so vergifteten, literarisch so produktiven Übergangszeit bündelt. Sein Extrakt aus der Sichtung mehrerer tausend zum Teil längst vergessener Titel ist am Ende mehr Literaturverführer als Literaturgeschichte. Bücher, die man bisher höchstens vom Hörensagen kannte, will man jetzt endlich selbst lesen. Schon dafür gebührt Helmuth Kiesel Dank.
THOMAS KARLAUF
Helmuth Kiesel:
"Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933".
(Geschichte der deutschen Literatur, Band 10)
Verlag C. H. Beck, München 2017. 1310 S., geb., 58,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Reinhard Mehring, Zeitschrift für Geschichtwissenschaft, 11-2017
"Eine Epoche und ihre Gesellschaft, mit den Augen ihrer Literaten."
Bernhard Schulz, Tagesspiegel, 01. Oktober 2017
"(Kiesel) hat in all die Unübersichtlichkeiten, Verwicklungen, Frontstellungen im Politischen wie Literarischen eine plausible Ordnung gebracht und darin doch die lebendige Vielfalt erfahrbar gemacht."Erhard Schütz, Tagesspiegel, 9. Juli 2017
"Ein wirkliches Meisterwerk!"
kulturbuchtipps.ch, 7. Juli 2017
"In diesem Standardwerk werden die bekannten, vergessenen, zu Recht gerühmten und zu Unrecht verrissenen Bücher der Vorkriegszeit alle gleich ernst genommen."Maxim Biller, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. Juli 2017
"Hat ein prachtvolles, herrlich inkorrektes, unkonventionelles Pandämonium Weimars."
Thomas Karlauf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 2017