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Die Ende Februar 2014 beginnende sog. Krim-Krise endete mit der Annexion der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Halbinsel durch die Russländische Föderation. Dieses Ereignis machte nicht zuletzt der deutschsprachigen Öffentlichkeit deutlich, dass die Halbinsel Krim mehr oder weniger immer noch eine terra incognita für sie ist, über deren Vergangenheit selbst historisch Interessierte nur wenig wissen. Mit großem Erstaunen wird seitdem u.a. gefragt, warum die Krim für Russland eine so große Bedeutung hat, dass sie bereit ist, die Ächtung der Weltgemeinschaft und wirtschaftliche Sanktionen…mehr

Produktbeschreibung
Die Ende Februar 2014 beginnende sog. Krim-Krise endete mit der Annexion der völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Halbinsel durch die Russländische Föderation. Dieses Ereignis machte nicht zuletzt der deutschsprachigen Öffentlichkeit deutlich, dass die Halbinsel Krim mehr oder weniger immer noch eine terra incognita für sie ist, über deren Vergangenheit selbst historisch Interessierte nur wenig wissen. Mit großem Erstaunen wird seitdem u.a. gefragt, warum die Krim für Russland eine so große Bedeutung hat, dass sie bereit ist, die Ächtung der Weltgemeinschaft und wirtschaftliche Sanktionen auf sich zunehmen. Tatsächlich ist die 1783 annektierte Krim für die überwiegende Zahl der Russen ein hoch emotionalisierter, unveräußerlicher Teil Russlands. Deren Geschichte ist aber sehr viel älter - und über die längste Zeit spielten Russen dort keine Rolle. Griechische Kolonisten, eurasische Reitervölker, Krimtataren und andere gestalteten vielmehr ihr Schicksal. In diesem Buch von Kerstin S. Jobst, die eine international anerkannte Expertin der Krim-Geschichte ist, wird diese in ihrer Komplexität erzählt.


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Autorenporträt
Kerstin Jobst, Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Ulrich Schmid lernt, dass die Frage, ob die Krim nun ukrainisch oder russisch ist, eigentlich falsch gestellt ist, beim Lesen von Kerstin S. Jobsts Buch. Die Osteuropahistorikerin weist laut Schmid in 37 Kapiteln nach, wie wechselvoll die Geschichte der Krim tatsächlich war, wie die Halbinsel schon früh verschiedene Volksgruppen anzog, wie die Skythen oder die Kimmerier. Neben der "bewegten" Siedlungsgeschichte skizziert ihm die Autorin die Rivalitäten von Kolonialmächten wie Venedig und Genua in der Region, erzählt von Türkenkriegen und Sprachvarianten. Genau recherchiert, übersichtlich gegliedert lässt das Buch Schmid ahnen: Einen Masterplan für die Krim gibt es nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2020

Ein Ort im Plural
Die komplizierte Geschichte der Halbinsel Krim

Ist die Krim ukrainisch oder russisch? Seit 2014 erhitzt diese Frage wieder die Gemüter. Nicht alle können sich wie Google Maps mit einem Trick aus der Affäre ziehen: In Russland wird die Krim als russisch angezeigt, in der Ukraine als ukrainisch, im Rest der Welt erscheint eine gestrichelte Linie zwischen der Halbinsel und dem Festland. Dass schon die Frage falsch gestellt ist, zeigt nun eine neue Geschichte der Krim aus der Feder der Wiener Osteuropahistorikerin Kerstin S. Jobst. In 37 Kapiteln skizziert sie das wechselvolle Schicksal der Halbinsel im Schwarzen Meer. Schon sehr früh zog die Krim mit ihrer günstigen Lage zwischen Meer und Steppe verschiedene asiatische Gruppen wie die Skythen oder Kimmerier an. Bald entsandten griechische Stadtstaaten Kolonisten, die auf der Halbinsel Siedlungen wie Chersones, Theodosia oder Pantikapaion (Kertsch) gründeten. Selbstverständlich betrachteten sich die Hellenen als Vertreter einer Hochkultur, die der Lebensweise der Barbaren überlegen war. Im 1. Jahrhundert v. Chr. wurde aber auch die griechische Herrschaft durch die Expansion Roms verdrängt. Wegen der peripheren Lage im Imperium fiel das römische Engagement allerdings zurückhaltend aus. Mit dem Niedergang des Römischen Reichs gelangten neue Migranten auf die Krim, deren Herkunft nicht immer genau geklärt ist: Goten, Sarmaten und Chasaren.

Bis zum 10. Jahrhundert weist die Krim also bereits eine bewegte Siedlungsgeschichte auf, in der die Slawen allerdings keine Rolle spielen. Umso mehr wird aber heute im Kreml unterstrichen, dass die Christianisierung Russlands hier ihren Anfang nahm. Präsident Putin verstieg sich in einer Rede zur "Wiedervereinigung" sogar zur Aussage, die Krim sei den Russen so heilig wie der Tempelberg den Juden. 988 ließ sich Wladimir, der Großfürst der Kiewer Rus, in Chersones taufen und heiratete die Schwester des Kaisers von Konstantinopel. Natürlich haben patriotische Historiker in Russland und der Ukraine diese Episode jeweils für sich vereinnahmt - die Kiewer Rus gilt in beiden Nationalgeschichten als erste Ausprägung und damit als Vorläufer des heutigen Staats.

Im Mittelalter wurde die Krim Schauplatz einer erbitterten Rivalität der beiden Kolonialmächte Venedig und Genua. Allerdings kam auch von Osten ein Vorstoß. Die Goldene Horde belagerte das genuesische Caffa (Feodosija) im Jahr 1307 acht Monate lang und brannte die Stadt schließlich nieder. Die Krim war zu dieser Zeit bereits zu einem wichtigen Handelsplatz an der Seidenstraße geworden. Die Wirtschaft blühte, aber gleichzeitig kam auch die Pest über die Krim nach Europa. Paradoxerweise konnten die italienischen Kolonien auf der Krim langfristig ökonomisch von der Pest profitieren: In Europa waren durch das Massensterben Arbeitskräfte rar geworden. Damit wurde die Nachfrage nach Sklaven aus dem Schwarzmeerraum verstärkt, und die Umschlagplätze auf der Krim florierten.

Mit dem Verlust Konstantinopels 1453 an die Osmanen verstärkte sich die Machtposition des Krim-Chanats, das von der Unterstützung der Hohen Pforte profitierte und sich mit krimtatarischen Kämpfern an den türkischen Feldzügen beteiligte. Auf dieser Entwicklung beruht das notorisch schlechte Image des Krim-Chanats in der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung: Die Krimtataren werden als blutrünstige Krieger und skrupellose Geiselnehmer dargestellt. Allerdings traten auch andere Akteure im Grenzland der Krim wenig zimperlich auf. Orthodoxe Kosaken überfielen im 17. Jahrhundert tatarische und osmanische Siedlungen. Später wurden die Kosaken von ukrainischen Nationalisten zu Freiheitskämpfern und Verfechtern eines demokratischen Gemeinwesens überhöht. Allerdings waren sie eher brutale Räuber, die ihre Bündnispolitik nach der aktuellen politischen Lage ausrichteten. So kämpften die Kosaken an der Seite des Krim-Chanats gegen die polnische Adelsrepublik. Als sich die Krimtataren aus dem Bündnis zurückzogen, wandten sich die Kosaken an den Moskauer Zaren. 1654 kam es zum Vertrag von Perejaslaw, dessen Bedeutung bis heute umstritten ist: In der Ukraine gilt er als militärischer Beistandspakt, in Russland als freiwilliger Beitritt der Ukraine zum Zarenreich.

In einer Reihe von Türkenkriegen versuchten die russischen Zaren immer wieder, nach Süden vorzudringen. Die Hafenstadt Asow wurde mehrfach eingenommen und wieder verloren. Berühmt geworden ist das "griechische Projekt" von Katharina der Großen, die Russland als orthodoxe Schutzmacht in einem wiedereroberten Konstantinopel installieren wollte. Sekundiert wurde die energische Zarin bei diesem Plan von ihrem Philosophenfreund Voltaire. Allerdings gelang ihr nur eine kleinere Version ihrer Mission: 1783 konnte sie die Krim annektieren und ordnete an, dass die Städte nicht russische, sondern griechische Bezeichnungen erhielten (Sewastopol, Simferopol). Bereits vier Jahre später reiste die Zarin mit einem Tross von Bediensteten in die neueroberte südliche Provinz. Die große Expedition war eine logistische Meisterleistung, die böse Zungen in Europa zu der Redensart der "Potemkin'schen Dörfer" verleitet hat: Angeblich habe der Organisator der Reise Fassaden von Bauerndörfern aufstellen lassen, um seiner Chefin einen geschönten Zustand ihres Reichs vorzugaukeln.

Zum Mittelpunkt der Weltgeschichte wurde die Halbinsel während des Krimkriegs (1853-1856), als sich das Zarenreich in einem weiteren Waffengang gegen das Osmanische Reich unversehens einer britisch-französisch-türkischen Koalition gegenübersah. Die blamable Niederlage Russlands führte nicht nur zum Verlust der Vormachtstellung in Europa, sondern auch zur Zerstörung Sewastopols. Mark Twain stellte bei einem Besuch der Stadt elf Jahre nach Kriegsende ironisch fest, dass sich Pompeji im Vergleich zu Sewastopol gut erhalten habe. Überdies verließen etwa 200 000 Krimtataren die Halbinsel in Richtung Osmanisches Reich, weil sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurden.

Nach den Revolutionen des Jahres 1917 gestaltete sich die Lage auf der Krim chaotisch. Eine provisorische Regierung, Soldatenräte und eine muslimische Volksversammlung rangen um die Macht. Der Kampf wogte hin und her, die Bolschewiki kämpften gegen alle, die sich ihnen in den Weg stellten. Sie exekutierten etwa den Vordenker der krimtatarischen Nationalbewegung Noman Çelebicihan (1885-1918), der seinem Volk bis heute als Märtyrer gilt. 1918 wurde die Krim von Deutschen erobert, die - ähnlich wie in der Ukraine - ein Marionettenregime errichteten. Der Untergang des Kaiserreichs setzte jedoch auch dieser Episode ein Ende. Nach blutigen Auseinandersetzungen konnte sich die Sowjetmacht erst Anfang 1921 auf der Krim durchsetzen. Die Staatsgewalt wurde im Rahmen einer autonomen Teilrepublik innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) organisiert. Im Herbst 1941 marschierten im Zuge des Unternehmens Barbarossa deutsche und rumänische Truppen auf der Krim ein. Hitler träumte von der Errichtung eines arischen Gotengaus. Unverzüglich schritten die Nazis zur Ermordung der lokalen jüdischen Bevölkerung, stießen aber bald auf Kategorisierungsprobleme, die für die ethnischen Verhältnisse auf der Krim typisch sind: Hatten die tatarisierten Krimtschaken und Karäer als Juden zu gelten oder nicht? Allerdings wandte sich das Kriegsglück, und die Wehrmacht zog im April 1944 ab. Für die 200 000 Krimtataren, die von der Sowjetführung der Kollaboration bezichtigt wurden, begann ein langer Leidensweg. Praktisch die gesamte krimtatarische Bevölkerung wurde nach Zentralasien und Sibirien deportiert. Die aktuelle Dominanz der Russen und Ukrainer auf der Krim ist also eine Folge der stalinistischen Vertreibungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Krim zunächst von einer autonomen Teilrepublik zu einem Verwaltungsbezirk der RSFSR zurückgestuft. 1954 erfolgte dann der Wechsel der Krim zur ukrainischen Sowjetrepublik, hauptsächlich aus wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen. Dass der damalige Generalsekretär Nikita Chruschtschow der Ukraine die schöne Halbinsel einfach "geschenkt" habe, greift sicher zu kurz. Immerhin konnte Wladimir Putin in seiner Annexionsrede unterstellen, die Krim sei wie ein "Sack Kartoffeln" verschachert worden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es separatistische Tendenzen auf der Krim. Allerdings gelang es in einem Balanceakt, die "Autonome Republik Krim" in der Verfassung des unabhängigen Einheitsstaats Ukraine zu verankern. Durch die russische militärische Aggression Ende Februar 2014 wurde dieser Kompromiss allerdings zu Makulatur.

Kerstin Jobst legt ein sorgfältig recherchiertes Werk vor, das die Komplexität der Geschichte der Krim in einer übersichtlichen Gliederung präsentiert. Bei der Lektüre wird vor allem eines klar: Es gibt keinen Masterplot, der die Ansprüche, Aneignungen und Anfeindungen aller Kulturgruppen auf der Krim gültig wiedergeben könnte. Programmatisch gibt Kerstin Jobst deshalb auch bei den Orts- und Personenbezeichnungen verschiedene Sprachvarianten an und sensibilisiert so ihre Leserschaft für einen Ort, der nur im Plural existiert.

ULRICH SCHMID

Kerstin S. Jobst: Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris.

Verlag De Gruyter/ Oldenbourg. Berlin/ Boston 2020. 384 S., 39,95 [Euro]. Open Access.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Kerstin Jobst legt ein sorgfältig recherchiertes Werk vor, das die Komplexität der Geschichte der Krim in einer übersichtlichen Gliederung präsentiert." Ulrich Schmid in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.2020, 6