Ein tadschikischer Gastarbeiter, der in die Fänge des Moskauer Organhandels gerät. Ein Antikorruptions-Ermittler, der von seinem Verfahren abgezogen wird. Ein Regierungsbeamter, der sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere die Sinnfrage stellt. Ein Provinzpolitiker, der urplötzlich mit der bitteren Wahrheit unverfälschter Wahlergebnisse konfrontiert wird – Dmitry Glukhovskys »Geschichten aus der Heimat« sind kleine Fenster in die Untiefen der russischen Gesellschaft. Mit scharfem Blick für die Realitäten in seinem Heimatland zeigt der Bestsellerautor, wie Russlands Gesellschaft funktioniert – und was falschläuft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.12.2022Eine Niere: 100 000 Dollar
In Russland wird Dmitry Glukhovsky per Haftbefehl gesucht. Seine Erzählungen kombinieren Tschechow und Tolstoi mit dem Wahnsinn der Kreml-Propaganda
Wären die Kurzgeschichten Dmitry Glukhovskys Nachrichten aus Russland, sie würden gar nicht weiter auffallen zwischen all dem Wahnsinn, der von dort derzeit über Telegram oder sogar direkt aus dem Kreml verbreitet wird. Zum Beispiel gleich die erste Story „Alles hat seinen Preis“ über Bauarbeiter aus Tadschikistan: In Moskau errichten sie scheinbar ins Endlose wachsende, nie fertig werdende Bürotürme, auf denen ständig irgendwelche Arbeitsunfälle passieren. Denn einer der russischen Geschäftsmänner, die in 7er-BMWs mit Geheimdienst- oder Staatsdienstkennzeichen durch „Moskau City“ brettern, hat erkannt: Am lukrativsten sind diese Arbeiter, wenn man sie nicht arbeiten lässt, sondern sie verkauft.
Also ihre Organe: „Nieren: im Schnitt einhunderttausend Dollar pro Stück, zwei von demselben Spender sind seltsamerweise teurer, gleich zweihundertfünfzigtausend. Eine Leber: zwischen einhundertfünfzig- und dreihunderttausend. Für ein Herz kursieren Preise bis zu dreihundertfünfzigtausend Dollar. Und dann noch die Milz und all der andere Kleinkram.“ Das ist alles eiskalt bis ins letzte Detail durchdacht, denn Tadschiken sind für den Organhandel so gut geeignet, weil sie als Muslime keinen Alkohol trinken, die Arbeit auf dem Bau der reinste Work-out ist und Tadschikistan auch noch eine sehr hohe Geburtenrate hat. „Das Gas wird ihnen irgendwann ausgehen, ihre Ölquellen werden versiegen, aber die Tadschiken selbst werden ewig leben. Sie sind sozusagen selbst ihre einzige natürliche Ressource.“
In anderen Geschichten sollen Nanoroboter über den Wodka in der Bevölkerung verbreitet werden und ein Ufo landet mitten in Moskau, schafft es aber nicht in die Abendnachrichten, weil dort immer nur abwechselnd der Premierminister und der Präsident auftreten; ein Professor findet heraus, dass Gazprom seine Rohstoffe direkt aus der Hölle bezieht und irgendwo ein paar Hundert Kilometer östlich von Moskau ist der „Nationale Führer“ angeblich für eine Reihe unbefleckter Empfängnisse verantwortlich.
Diese Kurzgeschichten, die teilweise über Figuren und Themen locker zusammenhängen, sind schräg und zynisch, manchmal etwas konstruiert und durchaus auch bemüht. Aber sie funktionieren, weil Glukhovsky jede dieser verrückten Ideen mit einer Unbeirrbarkeit durchzieht, als wären es die neuesten Propaganda-Lügen aus dem Kreml.
Das hat einen irritierenden Effekt, auch weil die russische Kurzgeschichte des
19. Jahrhunderts von Autoren wie Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Iwan Turgenjew als einer der Höhepunkte der russischen Kultur gilt. In diese Tradition stellt sich Glukhovsky mit dem betont biederen Titel seiner Sammlung „Geschichten aus der Heimat“ und gleichzeitig aktualisiert er diese Erzählform, denn im Russland der Gegenwart, wo sich die Propaganda auch immer wieder explizit auf die große russische Kultur beruft, scheint vergessen worden zu sein, dass diese Geschichten auch damals schon etwas Subversives hatten.
So sollten die heute etwas langatmig wirkenden Beschreibungen in Geschichten Turgenjews den damaligen Lesern in Moskau und Sankt Petersburg das andere Russland zeigen, das Land der armen Leute, von dem man in den Großstädten sonst nichts mitbekam. Glukhovsky kombiniert diese Literaturtradition nun mit der Haltung der russischen Propaganda, um das Russland der Gegenwart zu beschreiben – gar nicht so unähnlich wie damals Turgenjew.
Die letzte Geschichte der Sammlung spielt in der vorbildlich ausgestatteten Bibliothek eines zweifelnden Apparatschiks, der Besuch von einem alten, kremltreuen Freund bekommt. In den Regalen stehen „fünf Bände Worte und Taten von Wladimir Putin. Kleine Tragödien des Präsidentenberaters Wladislaw Surkow. Gesammelte Werke von Tolstoi. Von Puschkin. Von Dostojewski. Von Leskow. Der redigierte Gogol.“ Dahinter aber lagern die Schriften der Dissidenten, das, was eigentlich, wenn es nach dem Kreml geht, in den Müll, wenn nicht verbrannt gehört. So wie diese Kurzgeschichtensammlung auch.
Dmitry Glukhovsky ist selbst in diesem Jahr in Europa untergetaucht, nachdem in Russland Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Hier wendet er nun die die Methoden seiner Verfolger an. Wie bei den Lügen der russischen Propaganda wird ein sofort durchschaubarer Schein von Traditionalität und Harmlosigkeit suggeriert. In Wahrheit brodelt aber nur knapp unter der Oberfläche der pure Irrsinn. Glukhovskys „Geschichten aus der Heimat“ sind eigentlich Reportagen aus einem der tieferen Höllenkreise des Wahnsinns, in den sich Russland gerade mit zunehmender Geschwindigkeit hinabzudrehen scheint.
Seine Bilder, wie die vom Organhandel, sind dabei mehr Fakten als Metapher, wenn russischen Rekruten angeblich gesagt wird, sie seien nicht mehr als „Fleisch“ und Jewgenij Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe „Gruppe Wagner“, über die Feinde Russlands schreibt: „Während unserer punktgenauen Operationen werden wir beide Nieren und die Leber auf einmal entfernen.“ Die Gegenwart Russlands – um von ihr literarisch zu erzählen, muss sie derzeit kaum überhöht werden.
NICOLAS FREUND
Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat. Aus dem Russischen von
M. David Drevs, Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg. Heyne, München 2022. 448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Russland wird Dmitry Glukhovsky per Haftbefehl gesucht. Seine Erzählungen kombinieren Tschechow und Tolstoi mit dem Wahnsinn der Kreml-Propaganda
Wären die Kurzgeschichten Dmitry Glukhovskys Nachrichten aus Russland, sie würden gar nicht weiter auffallen zwischen all dem Wahnsinn, der von dort derzeit über Telegram oder sogar direkt aus dem Kreml verbreitet wird. Zum Beispiel gleich die erste Story „Alles hat seinen Preis“ über Bauarbeiter aus Tadschikistan: In Moskau errichten sie scheinbar ins Endlose wachsende, nie fertig werdende Bürotürme, auf denen ständig irgendwelche Arbeitsunfälle passieren. Denn einer der russischen Geschäftsmänner, die in 7er-BMWs mit Geheimdienst- oder Staatsdienstkennzeichen durch „Moskau City“ brettern, hat erkannt: Am lukrativsten sind diese Arbeiter, wenn man sie nicht arbeiten lässt, sondern sie verkauft.
Also ihre Organe: „Nieren: im Schnitt einhunderttausend Dollar pro Stück, zwei von demselben Spender sind seltsamerweise teurer, gleich zweihundertfünfzigtausend. Eine Leber: zwischen einhundertfünfzig- und dreihunderttausend. Für ein Herz kursieren Preise bis zu dreihundertfünfzigtausend Dollar. Und dann noch die Milz und all der andere Kleinkram.“ Das ist alles eiskalt bis ins letzte Detail durchdacht, denn Tadschiken sind für den Organhandel so gut geeignet, weil sie als Muslime keinen Alkohol trinken, die Arbeit auf dem Bau der reinste Work-out ist und Tadschikistan auch noch eine sehr hohe Geburtenrate hat. „Das Gas wird ihnen irgendwann ausgehen, ihre Ölquellen werden versiegen, aber die Tadschiken selbst werden ewig leben. Sie sind sozusagen selbst ihre einzige natürliche Ressource.“
In anderen Geschichten sollen Nanoroboter über den Wodka in der Bevölkerung verbreitet werden und ein Ufo landet mitten in Moskau, schafft es aber nicht in die Abendnachrichten, weil dort immer nur abwechselnd der Premierminister und der Präsident auftreten; ein Professor findet heraus, dass Gazprom seine Rohstoffe direkt aus der Hölle bezieht und irgendwo ein paar Hundert Kilometer östlich von Moskau ist der „Nationale Führer“ angeblich für eine Reihe unbefleckter Empfängnisse verantwortlich.
Diese Kurzgeschichten, die teilweise über Figuren und Themen locker zusammenhängen, sind schräg und zynisch, manchmal etwas konstruiert und durchaus auch bemüht. Aber sie funktionieren, weil Glukhovsky jede dieser verrückten Ideen mit einer Unbeirrbarkeit durchzieht, als wären es die neuesten Propaganda-Lügen aus dem Kreml.
Das hat einen irritierenden Effekt, auch weil die russische Kurzgeschichte des
19. Jahrhunderts von Autoren wie Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Iwan Turgenjew als einer der Höhepunkte der russischen Kultur gilt. In diese Tradition stellt sich Glukhovsky mit dem betont biederen Titel seiner Sammlung „Geschichten aus der Heimat“ und gleichzeitig aktualisiert er diese Erzählform, denn im Russland der Gegenwart, wo sich die Propaganda auch immer wieder explizit auf die große russische Kultur beruft, scheint vergessen worden zu sein, dass diese Geschichten auch damals schon etwas Subversives hatten.
So sollten die heute etwas langatmig wirkenden Beschreibungen in Geschichten Turgenjews den damaligen Lesern in Moskau und Sankt Petersburg das andere Russland zeigen, das Land der armen Leute, von dem man in den Großstädten sonst nichts mitbekam. Glukhovsky kombiniert diese Literaturtradition nun mit der Haltung der russischen Propaganda, um das Russland der Gegenwart zu beschreiben – gar nicht so unähnlich wie damals Turgenjew.
Die letzte Geschichte der Sammlung spielt in der vorbildlich ausgestatteten Bibliothek eines zweifelnden Apparatschiks, der Besuch von einem alten, kremltreuen Freund bekommt. In den Regalen stehen „fünf Bände Worte und Taten von Wladimir Putin. Kleine Tragödien des Präsidentenberaters Wladislaw Surkow. Gesammelte Werke von Tolstoi. Von Puschkin. Von Dostojewski. Von Leskow. Der redigierte Gogol.“ Dahinter aber lagern die Schriften der Dissidenten, das, was eigentlich, wenn es nach dem Kreml geht, in den Müll, wenn nicht verbrannt gehört. So wie diese Kurzgeschichtensammlung auch.
Dmitry Glukhovsky ist selbst in diesem Jahr in Europa untergetaucht, nachdem in Russland Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Hier wendet er nun die die Methoden seiner Verfolger an. Wie bei den Lügen der russischen Propaganda wird ein sofort durchschaubarer Schein von Traditionalität und Harmlosigkeit suggeriert. In Wahrheit brodelt aber nur knapp unter der Oberfläche der pure Irrsinn. Glukhovskys „Geschichten aus der Heimat“ sind eigentlich Reportagen aus einem der tieferen Höllenkreise des Wahnsinns, in den sich Russland gerade mit zunehmender Geschwindigkeit hinabzudrehen scheint.
Seine Bilder, wie die vom Organhandel, sind dabei mehr Fakten als Metapher, wenn russischen Rekruten angeblich gesagt wird, sie seien nicht mehr als „Fleisch“ und Jewgenij Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldnertruppe „Gruppe Wagner“, über die Feinde Russlands schreibt: „Während unserer punktgenauen Operationen werden wir beide Nieren und die Leber auf einmal entfernen.“ Die Gegenwart Russlands – um von ihr literarisch zu erzählen, muss sie derzeit kaum überhöht werden.
NICOLAS FREUND
Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat. Aus dem Russischen von
M. David Drevs, Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg. Heyne, München 2022. 448 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2022Der Zar als Frauenbeglücker Zeus
Schrecklich komisch: Dmitry Glukhovsky
entdeckt in seinen "Geschichten aus der Heimat" die Seele von Russlands Machtpyramide.
Der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky, der sofort nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine diesen auf Instagram und Youtube verurteilt hatte, wurde im Juni von seinem Vaterland zur Fahndung ausgeschrieben und dürfte auf absehbare Zeit die Heimat nicht wiedersehen. Glukhovsky, der bei unserem Treffen in Frankfurt mitteilt, er lebe "irgendwo" in Europa, sagt, er habe damit gerechnet, zunächst als "Ausländischer Agent" eingestuft zu werden, doch angesichts der Reichweite von Instagram und seiner breiten Leserschaft unter jungen Russen wollte der Repressionsapparat offenbar ein stärkeres Zeichen setzen.
Glukhovsky hat viele Freunde in der Ukraine, von wo aus ihm Leser, die vor dem russischen Bombardement in die Metrostationen flüchteten, schrieben, sie lebten wie die Helden seiner dystopischen Trilogie "Metro 2033". Der 43 Jahre alte Autor gehört heute zu denen, deren Werke in staatlichen russischen Buchläden nicht ausgelegt werden, sondern nur im Regal stehen dürfen. Das Moskauer Jermolowa-Theater nahm die erfolgreiche Bühnenfassung seines Romans "Text" aus dem Repertoire, seine Moskauer Wohnung wurde versiegelt. Und seit Anfang Oktober gilt er obendrein tatsächlich als "Ausländischer Agent".
Der Sammelband "Geschichten aus der Heimat", der jetzt in vorzüglicher Übersetzung von Christiane Pöhlmann, M. David Drews und Franziska Zwerg bei Heyne herausgekommen ist, bündelt Erzählungen, die in der Mehrzahl vor zehn Jahren entstanden sind, als das hocheffektive Unterdrückungssystem noch als böse Zukunftsoption erschien. Die Texte, die gern Grausiges mit Komik verflechten, lesen sich wie Animationsfilmdrehbücher. In der Geschichte "From Hell" wird man Zeuge, wie ein Geologe durch Bodenbohrung in Sibirien auf das Tor zur Hölle stößt, aus dem Teufelswesen emporflattern - ein Bild für Russlands Rohstofffluch -, woraufhin Geheimdienstler versuchen, durch Drohungen und Bestechung den Forscher von einer Publikation dieses Funds abzubringen. In den diabolischen Maschinenraum kapitalistischer Kosten-Nutzen-Kalkulation versetzt die Anfangserzählung "Alles hat seinen Preis", in der ein Moskauer Medizinunternehmen rechtlose Arbeitsmigranten aus Tadschikistan für hocheinträgliche Organverkäufe buchstäblich ausschlachtet.
Amüsant extrapoliert Glukhovsky, wie Russlands Machthaber versuchen könnten, die ihren Plänen widerstrebende menschliche Natur mittels Hochtechnologie zu überlisten. Die Geschichte "Die Erscheinung" skizziert das ebenso exemplarische wie frustrierende Leben einer jungen Frau in der russischen Provinz, die plötzlich von einer leuchtenden Wolke heimgesucht wird. In ihr erkennt die Heldin - als wäre sie eine moderne Nymphe Io, der sich Göttervater Zeus als Nebelbank nähert - ihren Traummann. Der charmante Text, der von Präsident Putins früheren Jahren inspiriert ist, da der Kremlherrscher die erotischen Phantasien vieler Rusinnen beherrschte, vergegenwärtigt zugleich den im Land tiefverwurzelten Führerkult. Die magische Wolke, die in dieser Einöde viele Gebärfähige beglückt, erweist sich als echtes Allheilmittel, denn sie schwängert nicht nur und hilft so der Demographie auf, sondern bewirkt auch, dass den Frauen ihre traurige Welt schön erscheint.
In eine Zukunft, in der das gelenkte Justizsystem robotertechnisch perfektioniert wurde, versetzt die Erzählung "Telefonrecht". Die in Russland oft weiblichen Richter, die das von Staatsanwälten und Geheimdienstlern vorformulierte Strafmaß zu verkünden haben, sind durch lebensechte Puppen ersetzt worden, deren kühle Anmut Nutzer wie Konstrukteure in den Bann schlagen kann. Doch eine Richter-Roboterin entwickelt jenen menschlichen Defekt, der schon in der vor hundert Jahren entstandenen Dystopie "Wir" von Jewgeni Samjatin als für das totalitäre System todbringende Krankheit galt: Sie legt sich eine Seele zu und spricht infolgedessen einen diffus an Michail Chodorkowski erinnernden Oligarchen frei. Für den Inlandsgeheimdienst bedeutet das höchste Alarmstufe, und der Leser erlebt, wie ein Eliteagent Mitarbeiter des staatstragenden Hochtechnologie-Projekts blutig durch die Mangel dreht, um den "Produktionsfehler" zu finden und auszumerzen.
Glukhovsky schreibt eine griffige szenische Prosa, die sich in der Literaturtradition verortet. In der 2016 entstandenen und daher in der russischen Originalausgabe nicht enthaltenen Geschichte "Tango" schildert er das Luxusleben und die Zwangslagen, die sich zwei Ex-Aktivisten der kremltreuen Jugendbewegung der "Zusammengehenden" aus Putins ersten Amtsjahren eingebrockt haben. Der Geschäftsmann, der in dieser Zeit, als die Repressionsorgane immer mehr Unternehmen übernahmen, seine Firma verloren hat, empfängt den früheren Kameraden, der nun zum Sicherheitsapparat gehört und somit über ihm steht, in seiner Villa. Beide waren 2005 an der Aktion vor dem Bolschoi-Theater beteiligt, als Nachdrucke oppositioneller Schriftsteller, unter ihnen Wladimir Sorokin, in einer symbolischen Kloschüssel entsorgt wurden. Doch während der Unternehmer in seiner Bibliothek hinter einer Phalanx putintreu-neostalinistischer Bücher noch eine Sorokin-Ausgabe versteckt hält, erachtet der Gast aus dem Machtapparat "falsche" Literatur, die jeden Lesefähigen auf dissidentische Gedanken bringen könne, für Gift, das verbrannt gehöre. Der Text veranschaulicht auch, wie ein ehemals Subalterner durch aggressive Staatstreue sich den Erfolgreicheren unterwirft.
Wie Sorokin sagt Glukhovsky, er habe gehofft, seine literarischen Dystopien könnten wie eine Art Abwehrzauber wirken und dazu beitragen, dass das von ihm Geschilderte nicht eintrete. Diese Hoffnung hat beide Autoren getrogen. Seit Russland gegen die Ukraine Krieg führt, schreibe er nur noch Publizistik, bekennt Glukhovsky, der Putins Rückhalt in der russischen Bevölkerung damit erklärt, dass der Präsident Macht und Stärke ausstrahle. Menschen, die sich selbst unsicher und schwach fühlten - in Russland eine Mehrheit, auch dank der Bemühungen der Repressionsorgane -, bekämen dadurch das Gefühl, sie hätten an dieser Stärke teil und gehörten dazu. Putins niemals endende Lügen aufzudecken könne daran nichts ändern. Geschwächt werde Putin nur durch militärische Misserfolge und erfolgreiche ukrainische Gegenangriffe, sagt Glukhovsky. Sollte Russlands Abschottung gegenüber dem Westen Bestand haben, sieht er für seine Heimat eine wahrhaft dystopische Zukunft: als Rohstoffkolonie Chinas. Die Chinesen hätten das Geld, die Technologie und die Menschen, an denen es Russland mangele, und würden es, so der Schriftsteller, schließlich verdauen. KERSTIN HOLM
Dmitry Glukhovsky: "Geschichten aus der
Heimat".
Aus dem Russischen
von Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg und
M. David Drews.
Heyne Verlag, München 2022. 445 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schrecklich komisch: Dmitry Glukhovsky
entdeckt in seinen "Geschichten aus der Heimat" die Seele von Russlands Machtpyramide.
Der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky, der sofort nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine diesen auf Instagram und Youtube verurteilt hatte, wurde im Juni von seinem Vaterland zur Fahndung ausgeschrieben und dürfte auf absehbare Zeit die Heimat nicht wiedersehen. Glukhovsky, der bei unserem Treffen in Frankfurt mitteilt, er lebe "irgendwo" in Europa, sagt, er habe damit gerechnet, zunächst als "Ausländischer Agent" eingestuft zu werden, doch angesichts der Reichweite von Instagram und seiner breiten Leserschaft unter jungen Russen wollte der Repressionsapparat offenbar ein stärkeres Zeichen setzen.
Glukhovsky hat viele Freunde in der Ukraine, von wo aus ihm Leser, die vor dem russischen Bombardement in die Metrostationen flüchteten, schrieben, sie lebten wie die Helden seiner dystopischen Trilogie "Metro 2033". Der 43 Jahre alte Autor gehört heute zu denen, deren Werke in staatlichen russischen Buchläden nicht ausgelegt werden, sondern nur im Regal stehen dürfen. Das Moskauer Jermolowa-Theater nahm die erfolgreiche Bühnenfassung seines Romans "Text" aus dem Repertoire, seine Moskauer Wohnung wurde versiegelt. Und seit Anfang Oktober gilt er obendrein tatsächlich als "Ausländischer Agent".
Der Sammelband "Geschichten aus der Heimat", der jetzt in vorzüglicher Übersetzung von Christiane Pöhlmann, M. David Drews und Franziska Zwerg bei Heyne herausgekommen ist, bündelt Erzählungen, die in der Mehrzahl vor zehn Jahren entstanden sind, als das hocheffektive Unterdrückungssystem noch als böse Zukunftsoption erschien. Die Texte, die gern Grausiges mit Komik verflechten, lesen sich wie Animationsfilmdrehbücher. In der Geschichte "From Hell" wird man Zeuge, wie ein Geologe durch Bodenbohrung in Sibirien auf das Tor zur Hölle stößt, aus dem Teufelswesen emporflattern - ein Bild für Russlands Rohstofffluch -, woraufhin Geheimdienstler versuchen, durch Drohungen und Bestechung den Forscher von einer Publikation dieses Funds abzubringen. In den diabolischen Maschinenraum kapitalistischer Kosten-Nutzen-Kalkulation versetzt die Anfangserzählung "Alles hat seinen Preis", in der ein Moskauer Medizinunternehmen rechtlose Arbeitsmigranten aus Tadschikistan für hocheinträgliche Organverkäufe buchstäblich ausschlachtet.
Amüsant extrapoliert Glukhovsky, wie Russlands Machthaber versuchen könnten, die ihren Plänen widerstrebende menschliche Natur mittels Hochtechnologie zu überlisten. Die Geschichte "Die Erscheinung" skizziert das ebenso exemplarische wie frustrierende Leben einer jungen Frau in der russischen Provinz, die plötzlich von einer leuchtenden Wolke heimgesucht wird. In ihr erkennt die Heldin - als wäre sie eine moderne Nymphe Io, der sich Göttervater Zeus als Nebelbank nähert - ihren Traummann. Der charmante Text, der von Präsident Putins früheren Jahren inspiriert ist, da der Kremlherrscher die erotischen Phantasien vieler Rusinnen beherrschte, vergegenwärtigt zugleich den im Land tiefverwurzelten Führerkult. Die magische Wolke, die in dieser Einöde viele Gebärfähige beglückt, erweist sich als echtes Allheilmittel, denn sie schwängert nicht nur und hilft so der Demographie auf, sondern bewirkt auch, dass den Frauen ihre traurige Welt schön erscheint.
In eine Zukunft, in der das gelenkte Justizsystem robotertechnisch perfektioniert wurde, versetzt die Erzählung "Telefonrecht". Die in Russland oft weiblichen Richter, die das von Staatsanwälten und Geheimdienstlern vorformulierte Strafmaß zu verkünden haben, sind durch lebensechte Puppen ersetzt worden, deren kühle Anmut Nutzer wie Konstrukteure in den Bann schlagen kann. Doch eine Richter-Roboterin entwickelt jenen menschlichen Defekt, der schon in der vor hundert Jahren entstandenen Dystopie "Wir" von Jewgeni Samjatin als für das totalitäre System todbringende Krankheit galt: Sie legt sich eine Seele zu und spricht infolgedessen einen diffus an Michail Chodorkowski erinnernden Oligarchen frei. Für den Inlandsgeheimdienst bedeutet das höchste Alarmstufe, und der Leser erlebt, wie ein Eliteagent Mitarbeiter des staatstragenden Hochtechnologie-Projekts blutig durch die Mangel dreht, um den "Produktionsfehler" zu finden und auszumerzen.
Glukhovsky schreibt eine griffige szenische Prosa, die sich in der Literaturtradition verortet. In der 2016 entstandenen und daher in der russischen Originalausgabe nicht enthaltenen Geschichte "Tango" schildert er das Luxusleben und die Zwangslagen, die sich zwei Ex-Aktivisten der kremltreuen Jugendbewegung der "Zusammengehenden" aus Putins ersten Amtsjahren eingebrockt haben. Der Geschäftsmann, der in dieser Zeit, als die Repressionsorgane immer mehr Unternehmen übernahmen, seine Firma verloren hat, empfängt den früheren Kameraden, der nun zum Sicherheitsapparat gehört und somit über ihm steht, in seiner Villa. Beide waren 2005 an der Aktion vor dem Bolschoi-Theater beteiligt, als Nachdrucke oppositioneller Schriftsteller, unter ihnen Wladimir Sorokin, in einer symbolischen Kloschüssel entsorgt wurden. Doch während der Unternehmer in seiner Bibliothek hinter einer Phalanx putintreu-neostalinistischer Bücher noch eine Sorokin-Ausgabe versteckt hält, erachtet der Gast aus dem Machtapparat "falsche" Literatur, die jeden Lesefähigen auf dissidentische Gedanken bringen könne, für Gift, das verbrannt gehöre. Der Text veranschaulicht auch, wie ein ehemals Subalterner durch aggressive Staatstreue sich den Erfolgreicheren unterwirft.
Wie Sorokin sagt Glukhovsky, er habe gehofft, seine literarischen Dystopien könnten wie eine Art Abwehrzauber wirken und dazu beitragen, dass das von ihm Geschilderte nicht eintrete. Diese Hoffnung hat beide Autoren getrogen. Seit Russland gegen die Ukraine Krieg führt, schreibe er nur noch Publizistik, bekennt Glukhovsky, der Putins Rückhalt in der russischen Bevölkerung damit erklärt, dass der Präsident Macht und Stärke ausstrahle. Menschen, die sich selbst unsicher und schwach fühlten - in Russland eine Mehrheit, auch dank der Bemühungen der Repressionsorgane -, bekämen dadurch das Gefühl, sie hätten an dieser Stärke teil und gehörten dazu. Putins niemals endende Lügen aufzudecken könne daran nichts ändern. Geschwächt werde Putin nur durch militärische Misserfolge und erfolgreiche ukrainische Gegenangriffe, sagt Glukhovsky. Sollte Russlands Abschottung gegenüber dem Westen Bestand haben, sieht er für seine Heimat eine wahrhaft dystopische Zukunft: als Rohstoffkolonie Chinas. Die Chinesen hätten das Geld, die Technologie und die Menschen, an denen es Russland mangele, und würden es, so der Schriftsteller, schließlich verdauen. KERSTIN HOLM
Dmitry Glukhovsky: "Geschichten aus der
Heimat".
Aus dem Russischen
von Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg und
M. David Drews.
Heyne Verlag, München 2022. 445 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Kurzgeschichten Tolstois, Tschechows, Turgenjews - ihr Genre gilt als einer der "Höhepunkte der russischen Kultur", auf die sich die russische Propaganda heute noch immer wieder positiv bezieht, weiß Rezensent Nicolas Freund. Auch bei Glukhovsky ist ein solcher Bezug deutlich zu erkennen, allerdings vergisst er im Gegensatz zu den kremltreuen Propagandisten nicht den ursprünglich subversiven Charakter dieser Geschichten. Wie Turgenjew etwa geht es auch ihm darum, das wahre Russland und seine Verhältnisse der Gegenwart zu beschreiben, indem er die alte Erzähltradition mit jener charakteristisch sturen Haltung russischer Propaganda kombiniert, erklärt Freund. Ein Ufo in Moskau, Nanoroboter im Schnaps und Organhandel am Bau - Glukhovskys Ideen sind skurril, bitter, manchmal ein wenig an den Haaren herbei gezogen. Doch er erzählt davon mit einer Selbstsicherheit und Beharrlichkeit, die funktioniert, indem sie irritiert. An der Oberfläche scheint alles irgendwie normal, harmlos, folgerichtig, kontrolliert - doch darunter kocht der totale Wahnsinn - ganz so, wie in der gegenwärtigen Realität Russlands, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine schonungslose Nahaufnahme aus Putins Reich. Glukhovsky schildert Korruption und Willkür der Elite und ein Volk, das in Gleichgültigkeit verharrt.« ZDF Heute Journal, Christhard Läpple