Paul Auster: »Crane war der erste große amerikanische Schriftsteller der Moderne« Stephen Crane war eine der spannendsten Personen seiner Zeit. Er verbrachte Nächte unter Vagabunden in schmutzigen Schlafsälen, erlag den Vergnügungen der Stadt, nahm die Künstlerszene unter die Lupe und schrieb anschließend über seine Erfahrungen. Gesellschaftskritik, Schockmomente und Ironie verbinden sich zu einem meisterhaften Lebenswerk, in dem deutlich wird, mit welcher Leidenschaft Crane dem Schreiben nachkam - und wie weit er für eine gute, authentische Story bereit war zu gehen. Der Band »Geschichten eines New Yorker Künstlers« enthält die zwei Romane »Maggie, ein Mädchen von der Straße« und »Georges Mutter« sowie weitere Geschichten, von denen die meisten erstmals auf Deutsch erscheinen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.2022Er mochte das Bittere
Erst unerkannt, dann von vielen bewundert, von anderen verachtet, schließlich vergessen, doch immer wieder neu entdeckt: der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane. Sein Kollege Paul Auster erkundet nun Leben und Werk.
Stephen Crane liebte Hunde, Pferde, Kinder, Zigaretten, Bier und Lily - Letztere vergeblich, obwohl auch sie ihm zugetan war, aber nicht fürs Leben. Was zwischen den beiden geschah, wenn niemand zuschaute, ist nicht überliefert. Paul Auster vermutet, eine verheiratete Frau wie Lily sei im späten neunzehnten Jahrhundert für Sex offener gewesen als eine noch unverheiratete. Mehr gibt es in der Sache, soweit sie Lily betrifft, nicht zu sagen, und das ist eine der wenigen, wenn nicht die einzige Leerstelle in Austers umfassender Biographie des von ihm hochverehrten Stephen Crane, der von 1871 bis 1900 lebte und zur Verwunderung wie auch zur Pein von Auster auf dem Weg in die Vergessenheit ist.
Was ein Mann liebte, der im Alter von 28 Jahren starb, gehört zu den wesentlichen Dingen, die über sein Leben überliefert werden sollten. Bei einem Schriftsteller wie Stephen Crane sind sie Beiwerk seiner größten Liebe, des Schreibens. Aus ihr wuchs ein erstaunlich breit angelegtes literarisches Werk, das Skizzen und Glossen, Reportagen und Kurzgeschichten, Gedichte, Novellen und Romane umfasst, darunter einen der berühmtesten aus der Blütezeit der amerikanischen Literatur, nämlich "The Red Badge of Courage", erschienen 1895 (und 1951 von John Huston verfilmt). In Deutschland kam das Buch erstmals 1954 von Hans Umstätter übersetzt als "Das Blutmal" heraus; ein Jahr später übertrugen es Milo Dor und Elisabeth Moltkau und nannten es "Die Flagge des Muts" - was den Titel nicht trifft, denn tatsächlich meint die "rote Tapferkeitsmedaille" sarkastisch eine nur vermeintliche Verletzung aus einer Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg. Bei Volk und Welt folgte 1961 die Übersetzung von Eduard Klein und Klaus Marschke, diesmal hieß das Buch "Das rote Siegel". Diese Fassung blieb lange die geläufige, bis Bernd Gockel den Roman im Jahr 2020 für Pendragon unter dem Originaltitel "Die rote Tapferkeitsmedaille" neu übersetzte.
Für einen Mann im Alter von Paul Auster, der in diesem Jahr 75 geworden ist, war es unvorstellbar, dass heute Generationen heranwachsen, die dieses Buch nicht kennen. Den Titel nicht, den Autor nicht. Für viele Jahrzehnte stand es auf den Lehrplänen der amerikanischen Highschools, heute lesen es möglicherweise noch Doktoranden im Fach englischsprachige Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Eine kleine Gemeinschaft mit Spezialinteressen also, und das bei einem Buch, das für immer zur literarischen Erziehung möglichst aller Amerikaner gehören sollte! Davon ist Auster überzeugt, und so stemmt sich seine Stephen-Crane-Biographie, im Deutschen annähernd 1200 Seiten dick, dem Verschwinden des Werks von Crane aus dem Gedächtnis des Landes und der Welt entgegen, und zwar mit Wucht, Emphase und sehr langem Atem.
Als er den Plan fasste, hatte Auster seinen letzten Roman "4 3 2 1" (seinerseits fetter als 1200 Seiten) vollendet und dachte über einen kurzen biographischen Essay zu Crane nach. Dass das Buch ungleich umfangreicher wurde, liegt nicht etwa an der ausufernden Quellenlage (sie ist eher dünn), sondern an Austers Lust am genauen Lesen und seinem Ehrgeiz, sich mit Haut und Haar in dieses fremde Leben zu versenken. Das fängt damit an, dass er in den ersten Sätzen aufzählt, welche Zukunft Crane durch seinen frühen Tod verpasste (Autos und Flugzeuge, das Kino, das Radio), gefolgt von einer Reihe der Neuerungen, die er noch mitbekam (Stacheldraht, Blue Jeans, Telefon, Budweiser und den Transcontinental Express zum Beispiel), und einer Kette inneramerikanischer Ereignisse wie des Chinese Exclusion Acts oder der großen Streiks, wobei Auster deutlich Fahrt aufnimmt, je tiefer er in die historischen Verheerungen der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts eintaucht.
Stephen Crane war meistens pleite und lebte fast sein ganzes Leben lang unter dem Druck, mit dem Schreiben Geld verdienen zu müssen, was der erhebliche Umfang seiner Arbeiten für die Nachrichtenpresse belegt. Dabei kam er aus einem keineswegs ärmlichen Elternhaus. Sein Vater, ein Methodistenprediger, der theologische Studien verfasste und an den sich Crane als "großartigen, feinen, schlichten Mann" erinnerte, war gestorben, als der Sohn acht Jahre alt war, zwei von dessen zahlreichen Geschwistern ebenso. Cranes Mutter war ebenfalls Akademikerin und eine aktive Frau im Dienst sozialer und religiöser Bewegungen, und auch sie schrieb regelmäßig für Zeitschriften: "Falls Crane sonst nichts von seinen Eltern gelernt haben sollte, eins lehrte ihn ihr Beispiel, dass nämlich die Welt ein Ort war, wo mündige Erwachsene am Schreibtisch saßen und schrieben", schreibt Auster. Übereinstimmend wird berichtet, Crane hätte mit vier bereits zu lesen begonnen. Mit acht verfasste er seine erste Geschichte.
"In Flammen" ist nicht nur die Biographie eines Schriftstellers, geschrieben von einem anderen Schriftsteller mit scharfem Blick auch auf die journalistischen Arbeiten Cranes, der als Kriegsreporter in Kuba und Mexiko unterwegs war und als Berichterstatter aus sozialen Katastrophengebieten im Osten wie im Westen der Vereinigten Staaten. Das Buch ist eine Ode ans Lesen selbst. Allerdings stellt Auster Cranes Werk derart ausführlich vor, mit langen Zitaten, Interpretationen, Erklärungen, Leseanleitungen, Hinweisen auf biographische Spuren, Verweisen auf andere Werke, literaturhistorischen Einordnungen und Kontexten, dass die Bücher, von denen da die Rede ist, selbst kaum mehr Luft zum Atmen haben. Spräche nicht aus nahezu jedem Satz, den Auster über Crane schreibt, Liebe und Bewunderung für diesen Mann wie für sein Werk, man könnte das als einen Akt der Auslöschung und Überschreibung missverstehen.
Ist das ein Einwand gegen die Biographie? Nicht unbedingt. Nur ein Hinweis, bei Interesse erst mal Crane und dann erst Auster zu lesen. Denn dessen Biographie ist erschöpfend in jedem Sinn des Worts. Gleichzeitig ist sie aber auch eine vorbildliche Studie zur Kunst des Lesens einschließlich Handreichungen zur korrekten Sitzposition und der Einstimmung. Der Lektüre von "Maggie, ein Mädchen von der Straße" etwa, Cranes erstem Roman von 1893, der seinerzeit großen Unwillen und Unverständnis bei Publikum und Kritik auslöste, sollte laut Auster unbedingt das Studium von Fotobänden von Jacob Riis ("How the Other Half Lives") aus dem New York der Neunzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts vorangehen; auch das Betrachten von Schnappschüssen von Alice Austen aus dem Jahr 1896 und Alfred Stieglitz' Foto "The Terminal" könnten hilfreich zum Verständnis sein.
Betreutes Lesen? So kann man das sehen. Aber auch beflissene Fürsorge eines phantastisch gebildeten Mannes für alle, die etwas lernen wollen (dass sie es sollten, davon ist Auster überzeugt) - nicht nur über Stephen Crane, sondern über dessen Zeit, den Zustand New Yorks, die damals gängigen Tonlagen, die Verlagslandschaft, die Entwicklung des Zeitungswesens, den Charakter von Männerfreundschaften, die Trinkgewohnheiten in den Slums, die Landschaften des Westens, die Geschlechterbeziehungen, die Ressentiments selbst eines aufgeklärten Mannes wie Crane, die Auster "tiefsitzende Stammesvorurteile" nennt gegenüber Schwarzen, Juden, Mexikanern, Indern, amerikanischen Ureinwohnern, Iren, Italienern und letztlich gegen alle, die nicht englischsprachig und protestantisch waren. Klar wird in dieser genauen Lektüre, dass Stephen Crane in seinem Schreiben der Zeit, in der er lebte, tatsächlich voraus war. Was Kollegen wie Joseph Conrad, Willa Cather oder H. G. Wells damals durchaus erkannten.
Crane brachte "Maggie, ein Mädchen von der Straße" 1893 im Selbstverlag unter dem Pseudonym Johnston Smith heraus - der "gewöhnlichste Name", der ihm einfiel. Auster bemerkt, dies sei das Jahr gewesen, in dem Edvard Munch den "Schrei" malte. Der Einband von "Maggie" war gelb, "die Farbe des Neuen und Radikalen jener Epoche". Das Buch hätte Cranes Ruhm begründen können, wäre es gelesen worden. Das geschah aber erst sehr viel später, als es für Crane längst keine große Rolle mehr spielte. Er hatte der Veröffentlichung dieses Werks mit der Hoffnung auf Aufmerksamkeit und Anerkennung entgegengefiebert. Als beides ausblieb - möglicherweise, weil seine Art des "ultravisuellen" Erzählens damals ebenso neu war wie seine Technik, Wesentliches gleichsam im Off, zwischen zwei Sätzen geschehen zu lassen, er also filmisch erzählte vor der Verbreitung des Films -, verstand er die Welt nicht mehr: "Maggie war schließlich meine erste Liebe!" Möglicherweise waren seine Figuren seinem Herzen tatsächlich näher als jene Frauen (mit Ausnahme von Lily), die er in seinem wirklichen Leben traf, seien es Prostituierte, die sich um ihn sorgten, oder seine Frau Cora, eine ehemalige (und spätere) Bordellbesitzerin, in deren Armen er im Juni 1900 in einem Sanatorium in Badenweiler im Schwarzwald an Tuberkulose starb.
In seinem kurzen Leben ungeheuer produktiv, hinterließ Crane alles in allem dreitausend Seiten Text. Paul Auster hat sie bis zum letzten Schnipsel sämtlich durchgekaut, von allen Seiten beleuchtet und in schönen Sätzen für seine Leser aufgearbeitet, inklusive privater Spielereien wie einer dadaähnlichen vierseitigen Zeitung voller Nonsensgeschichten, die das Ergebnis eines unbeschwerten Sommers mit Freunden in Twin Lakes im Pike County (Pennsylvania) waren, oder auch einer kurzen antisemitischen Skizze, die "glücklicherweise", wie Auster schreibt, unveröffentlicht blieb. Dazu hat er alles gelesen, was je über Crane geschrieben wurde und von Zeitgenossen, Weggefährten und Kollegen und Kolleginnen, die bei magerer Quellenlage nach Cranes frühem Tod - kein Tagebuch, nur wenige Briefe - darüber fabuliert worden ist, was sie nicht wissen konnten.
Die Gedenkschrift von Willa Cather etwa, die Crane verehrte, soll, Auster zufolge, zum großen Teil auf "frei Erfundenem" beruhen. Die "zwei besten amerikanischen Schriftsteller ihrer Generation" hätten einander im Alter von "einundzwanzig und dreiundzwanzig in einer kleinen Zeitungsredaktion in Lincoln, Nebraska, kennengelernt", wo Willa Cather lebte und Stephen Crane auf Reportagereise haltmachte, um über die fürchterliche Dürre und die Hungersnot des Jahres 1895 zu berichten. Crane kannte sich aus in den ärmeren und ganz armen sozialen Regionen; "Maggie, ein Mädchen von der Straße" spielt wie auch viele seiner Erzählungen an der New Yorker Bowery. Er selbst lebte jahrelang mit anderen jungen Männern in einer winzigen Wohnung an der Lower East Side und verspürte keinerlei Dünkel gegenüber den Armen. Eher verabscheute er die Hochnäsigkeit der Reichen, wie zwei komplementäre kurze Geschichten zeigen, die er für die "New York Press" schrieb: die eine über Obdachlosigkeit, wofür er selbst eine Nacht in einer entsprechenden Unterkunft verbrachte, die andere über einen Besuch in reichem Haus. Beide Geschichten finden sich in deutscher Erst- oder Neuübersetzung von Norbert Jakober in dem auch gerade erschienenen Erzählband "Geschichten eines New Yorker Künstlers", wobei die Parallelität der Originaltitel - "An Experiment in Misery" und "An Experiment in Luxury" - unverständlicherweise aufgegeben wurde und die kurzen Stücke nun "Armut auf Probe" und "Der fahle Schein des Reichtums" heißen.
Dieser Prosaband (wie gesagt: am besten vor der Biographie lesen) enthält zwei der besten Kurzromane Cranes ("Maggie" und "Georges Mutter") sowie einige Szenen, die dessen geniale Beobachtungsgabe und sein vorübergehendes Credo belegen, der gelebten Erfahrung Vorrang vor der Phantasie zu geben. Außerdem findet sich hier die erst nach Cranes Tod veröffentlichte short story "Der kleine braune Hund", in der Crane auf wenigen Seiten immer wieder die Perspektive wechselt, mit einer Montagetechnik, wie sie später im Film verwendet wurde. Er lässt seinen Blick von einem kleinen Jungen, der einen streunenden Hund aufliest, zu dem Hund springen, der sein neues Zuhause erkundet, zum Vater, der das Tier betrunken aus dem Fenster wirft, hin zu den Nachbarn und Fußgängern, die den Flug des Hundes erschrocken verfolgen, und wieder zurück zu dem Jungen, der auf die Straße eilt: "klein, wie er war, musste er die Treppe rückwärts nach unten steigen, eine Stufe nach der anderen, mit beiden Händen an der oberen Stufe". Eine ähnlich perfekte Kurzgeschichte hat erst J. D. Salinger wieder geschrieben.
Mit "The Red Badge of Courage" begann eine neue Phase in Cranes Werk. Denn die Geschichte des Soldaten, der sich vor der Schlacht drückt und einen verletzten Kameraden im Stich lässt, speist sich allein aus Cranes Vorstellungskraft - ein Roman, damals vergleichbar nur dem wenige Jahre zuvor in Norwegen erschienenen "Hunger" von Knut Hamsun. Wie dieses Buch ist "The Red Badge of Courage" ein "Drama des Bewusstseins", nicht des Schlachtfelds. Jeder Satz atmet Angst, so er von Männern handelt, und Gleichgültigkeit, wenn die Natur beschrieben wird. Auster widmet diesem Buch mehr als sechzig zusammenhängende Seiten - der Roman selbst hat kaum mehr als zweihundert - und kommt später immer wieder auf ihn zu sprechen. Das ist der Bedeutung des Werks als Vorläufer von Joyce und Proust zwar durchaus angemessen, aber am Ende liegt die "Rote Tapferkeitsmedaille" ausgeweidet da, tatsächlich fast wie tot.
Während Crane noch auf die Veröffentlichung des Romans wartet, erscheint im selben Jahr 1895 sein Gedichtband "The Black Riders" - in Versalien gedruckt wie Schlagzeilen, eine Gestaltungsentscheidung des Verlags Copeland and Day, die Crane aufmerksamkeitsstark und großartig fand (der Auster allerdings in seinen Zitaten nicht folgt). "Ist das Poesie?", fragte ein anonymer Kritiker, und ein anderer bemerkte: "Verglichen damit war Whitmans 'Leaves of Grass' geradezu ein Feuerwerk." Crane hatte die Gedichte in wenigen Wochen herausgehauen, zur Verblüffung aller, die in ihm keinen Dichter gesehen hatten. Auster vermutet als Grund hinter dieser zweimonatigen ununterbrochenen Gedichtproduktion - die dem deutschen Publikum vermutlich noch unbekannter ist als Cranes Prosawerk - eine Art "lodernde Ekstase" zum Exorzismus der "Stimmen seiner dogmatisch strengen Vorfahren", in deren Augen Crane beständig sündigte, beim Trinken, Huren, Spielen. Tatsächlich gehören die Gedichte zum Erstaunlichsten, das Paul Auster ausbreitet: "In der Wüste / Sah ich ein Geschöpf, nackt, tierisch, / Das, auf der Erde hockend, / Sein Herz in den Händen hielt / Und davon fraß. / Ich sagte: ,Schmeckt es, Freund?' / ,Es ist bitter - bitter', sprach es: / ,Doch ich mag es, / Weil's bitter ist / Und weil es mein Herz ist.'"
Die rote Tapferkeitsmedaille" brachte Stephen Crane zwar erst einmal wenig Geld ein, aber er wurde berühmt. "Ehrfürchtiges Staunen durchlief die amerikanische wie die britische Gesellschaft, als immer mehr Leser dahinterkamen, dass einem so jungen und so unbekannten Autor ein so radikal neuartiges Bravourstück gelungen war. ,The Red Badge of Courage' war mehr als nur ein Roman, das Buch war eine Sensation, eines jener raren Kunstwerke, die über die Kunst hinausgehen und sie zu einem kulturellen Wegzeichen machen, zu etwas, das die Zeitläufte in zwei Hälften teilt: in eine Zeit davor und eine danach", so Auster - ein Vorgang, der die Generationen, denen er dieses Buch von Crane nahebringen will, aufs Tiefste erstaunen dürfte. Nur ein anderer junger Schriftsteller habe je "das Land so im Sturm erobert", fügt Auster an, nämlich F. Scott Fitzgerald mit "Diesseits vom Paradies" 25 Jahre später. Wird Auster sich bald gezwungen sehen, auch diesen Autor biographisch und werkkritisch anzugehen?
Was genau machte Stephen Crane zu einem aus seiner Zeit herausragenden Schriftsteller? Sein Stoff, die Rückseite des amerikanischen Lebens im aufstrebenden Industriezeitalter. Seine Themen und sein Personal, die Armen, die Ungewaschenen, die Betrunkenen. Sein Blick, genau, ironisch oft, sarkastisch auch, dem unter Umständen die Löffel auf einer Untertasse ebenso bedeutsam erscheinen wie die Gäste eines Cafés. Seine Technik des Perspektivwechsels, der jede Melodramatisierung unterläuft und ihn unbedingt als Mann der Moderne ausweist. Die nie nachlassende Energie in seinen Sätzen, "der extreme innere Druck, der ständig in seiner Prosa brodelt, als ob seine Sätze aus den Nähten zu platzen und wie Geschosse in die Luft zu fliegen drohen". Mit solchen Formulierungen, geschrieben aus der "Bewunderung eines alten Schriftstellers für das Genie eines jungen", hält Auster sein Publikum über weite Strecken bei der Stange.
Begraben ist Stephen Crane in Hillside, New Jersey, wohin sein Sarg von Badenweiler über London gebracht wurde. Die Trauerfeier fand in Manhattan statt. Kaum jemand war gekommen, nur einige Journalisten, unter ihnen der Dichter Wallace Stevens. "Das Ganze war furchtbar", schrieb er später in sein Tagebuch: "Als der Leichenwagen in der drückenden Hitze, von keiner Menschenseele beachtet und nur von vier oder fünf Kutschen gefolgt, lärmend über das Pflaster davonrollte, wurde mir vieles klar, was ich bisher nur zweifelnd vermutet hatte - es gibt wenige Heldenverehrer. Und daher wenige Helden."
Ausgerechnet dies lässt Auster unkommentiert. Dabei liegt in diesem Satz von Stevens und dem Gelächter, mit dem Stephen Crane auf ihn vermutlich reagiert hätte, ein Stück Wahrheit darüber, warum wir ihn heute unbedingt wieder lesen sollten. VERENA LUEKEN
Paul Auster: "In Flammen". Leben und Werk von Stephen Crane.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 1184 S., geb., 34,- Euro.
Stephen Crane: "Geschichten eines New Yorker Künstlers".
Aus dem Englischen von Norbert Jakober. Hrsg. von Günther Butkus. Pendragon Verlag, Bielefeld 2022. 286 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erst unerkannt, dann von vielen bewundert, von anderen verachtet, schließlich vergessen, doch immer wieder neu entdeckt: der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane. Sein Kollege Paul Auster erkundet nun Leben und Werk.
Stephen Crane liebte Hunde, Pferde, Kinder, Zigaretten, Bier und Lily - Letztere vergeblich, obwohl auch sie ihm zugetan war, aber nicht fürs Leben. Was zwischen den beiden geschah, wenn niemand zuschaute, ist nicht überliefert. Paul Auster vermutet, eine verheiratete Frau wie Lily sei im späten neunzehnten Jahrhundert für Sex offener gewesen als eine noch unverheiratete. Mehr gibt es in der Sache, soweit sie Lily betrifft, nicht zu sagen, und das ist eine der wenigen, wenn nicht die einzige Leerstelle in Austers umfassender Biographie des von ihm hochverehrten Stephen Crane, der von 1871 bis 1900 lebte und zur Verwunderung wie auch zur Pein von Auster auf dem Weg in die Vergessenheit ist.
Was ein Mann liebte, der im Alter von 28 Jahren starb, gehört zu den wesentlichen Dingen, die über sein Leben überliefert werden sollten. Bei einem Schriftsteller wie Stephen Crane sind sie Beiwerk seiner größten Liebe, des Schreibens. Aus ihr wuchs ein erstaunlich breit angelegtes literarisches Werk, das Skizzen und Glossen, Reportagen und Kurzgeschichten, Gedichte, Novellen und Romane umfasst, darunter einen der berühmtesten aus der Blütezeit der amerikanischen Literatur, nämlich "The Red Badge of Courage", erschienen 1895 (und 1951 von John Huston verfilmt). In Deutschland kam das Buch erstmals 1954 von Hans Umstätter übersetzt als "Das Blutmal" heraus; ein Jahr später übertrugen es Milo Dor und Elisabeth Moltkau und nannten es "Die Flagge des Muts" - was den Titel nicht trifft, denn tatsächlich meint die "rote Tapferkeitsmedaille" sarkastisch eine nur vermeintliche Verletzung aus einer Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg. Bei Volk und Welt folgte 1961 die Übersetzung von Eduard Klein und Klaus Marschke, diesmal hieß das Buch "Das rote Siegel". Diese Fassung blieb lange die geläufige, bis Bernd Gockel den Roman im Jahr 2020 für Pendragon unter dem Originaltitel "Die rote Tapferkeitsmedaille" neu übersetzte.
Für einen Mann im Alter von Paul Auster, der in diesem Jahr 75 geworden ist, war es unvorstellbar, dass heute Generationen heranwachsen, die dieses Buch nicht kennen. Den Titel nicht, den Autor nicht. Für viele Jahrzehnte stand es auf den Lehrplänen der amerikanischen Highschools, heute lesen es möglicherweise noch Doktoranden im Fach englischsprachige Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Eine kleine Gemeinschaft mit Spezialinteressen also, und das bei einem Buch, das für immer zur literarischen Erziehung möglichst aller Amerikaner gehören sollte! Davon ist Auster überzeugt, und so stemmt sich seine Stephen-Crane-Biographie, im Deutschen annähernd 1200 Seiten dick, dem Verschwinden des Werks von Crane aus dem Gedächtnis des Landes und der Welt entgegen, und zwar mit Wucht, Emphase und sehr langem Atem.
Als er den Plan fasste, hatte Auster seinen letzten Roman "4 3 2 1" (seinerseits fetter als 1200 Seiten) vollendet und dachte über einen kurzen biographischen Essay zu Crane nach. Dass das Buch ungleich umfangreicher wurde, liegt nicht etwa an der ausufernden Quellenlage (sie ist eher dünn), sondern an Austers Lust am genauen Lesen und seinem Ehrgeiz, sich mit Haut und Haar in dieses fremde Leben zu versenken. Das fängt damit an, dass er in den ersten Sätzen aufzählt, welche Zukunft Crane durch seinen frühen Tod verpasste (Autos und Flugzeuge, das Kino, das Radio), gefolgt von einer Reihe der Neuerungen, die er noch mitbekam (Stacheldraht, Blue Jeans, Telefon, Budweiser und den Transcontinental Express zum Beispiel), und einer Kette inneramerikanischer Ereignisse wie des Chinese Exclusion Acts oder der großen Streiks, wobei Auster deutlich Fahrt aufnimmt, je tiefer er in die historischen Verheerungen der letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts eintaucht.
Stephen Crane war meistens pleite und lebte fast sein ganzes Leben lang unter dem Druck, mit dem Schreiben Geld verdienen zu müssen, was der erhebliche Umfang seiner Arbeiten für die Nachrichtenpresse belegt. Dabei kam er aus einem keineswegs ärmlichen Elternhaus. Sein Vater, ein Methodistenprediger, der theologische Studien verfasste und an den sich Crane als "großartigen, feinen, schlichten Mann" erinnerte, war gestorben, als der Sohn acht Jahre alt war, zwei von dessen zahlreichen Geschwistern ebenso. Cranes Mutter war ebenfalls Akademikerin und eine aktive Frau im Dienst sozialer und religiöser Bewegungen, und auch sie schrieb regelmäßig für Zeitschriften: "Falls Crane sonst nichts von seinen Eltern gelernt haben sollte, eins lehrte ihn ihr Beispiel, dass nämlich die Welt ein Ort war, wo mündige Erwachsene am Schreibtisch saßen und schrieben", schreibt Auster. Übereinstimmend wird berichtet, Crane hätte mit vier bereits zu lesen begonnen. Mit acht verfasste er seine erste Geschichte.
"In Flammen" ist nicht nur die Biographie eines Schriftstellers, geschrieben von einem anderen Schriftsteller mit scharfem Blick auch auf die journalistischen Arbeiten Cranes, der als Kriegsreporter in Kuba und Mexiko unterwegs war und als Berichterstatter aus sozialen Katastrophengebieten im Osten wie im Westen der Vereinigten Staaten. Das Buch ist eine Ode ans Lesen selbst. Allerdings stellt Auster Cranes Werk derart ausführlich vor, mit langen Zitaten, Interpretationen, Erklärungen, Leseanleitungen, Hinweisen auf biographische Spuren, Verweisen auf andere Werke, literaturhistorischen Einordnungen und Kontexten, dass die Bücher, von denen da die Rede ist, selbst kaum mehr Luft zum Atmen haben. Spräche nicht aus nahezu jedem Satz, den Auster über Crane schreibt, Liebe und Bewunderung für diesen Mann wie für sein Werk, man könnte das als einen Akt der Auslöschung und Überschreibung missverstehen.
Ist das ein Einwand gegen die Biographie? Nicht unbedingt. Nur ein Hinweis, bei Interesse erst mal Crane und dann erst Auster zu lesen. Denn dessen Biographie ist erschöpfend in jedem Sinn des Worts. Gleichzeitig ist sie aber auch eine vorbildliche Studie zur Kunst des Lesens einschließlich Handreichungen zur korrekten Sitzposition und der Einstimmung. Der Lektüre von "Maggie, ein Mädchen von der Straße" etwa, Cranes erstem Roman von 1893, der seinerzeit großen Unwillen und Unverständnis bei Publikum und Kritik auslöste, sollte laut Auster unbedingt das Studium von Fotobänden von Jacob Riis ("How the Other Half Lives") aus dem New York der Neunzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts vorangehen; auch das Betrachten von Schnappschüssen von Alice Austen aus dem Jahr 1896 und Alfred Stieglitz' Foto "The Terminal" könnten hilfreich zum Verständnis sein.
Betreutes Lesen? So kann man das sehen. Aber auch beflissene Fürsorge eines phantastisch gebildeten Mannes für alle, die etwas lernen wollen (dass sie es sollten, davon ist Auster überzeugt) - nicht nur über Stephen Crane, sondern über dessen Zeit, den Zustand New Yorks, die damals gängigen Tonlagen, die Verlagslandschaft, die Entwicklung des Zeitungswesens, den Charakter von Männerfreundschaften, die Trinkgewohnheiten in den Slums, die Landschaften des Westens, die Geschlechterbeziehungen, die Ressentiments selbst eines aufgeklärten Mannes wie Crane, die Auster "tiefsitzende Stammesvorurteile" nennt gegenüber Schwarzen, Juden, Mexikanern, Indern, amerikanischen Ureinwohnern, Iren, Italienern und letztlich gegen alle, die nicht englischsprachig und protestantisch waren. Klar wird in dieser genauen Lektüre, dass Stephen Crane in seinem Schreiben der Zeit, in der er lebte, tatsächlich voraus war. Was Kollegen wie Joseph Conrad, Willa Cather oder H. G. Wells damals durchaus erkannten.
Crane brachte "Maggie, ein Mädchen von der Straße" 1893 im Selbstverlag unter dem Pseudonym Johnston Smith heraus - der "gewöhnlichste Name", der ihm einfiel. Auster bemerkt, dies sei das Jahr gewesen, in dem Edvard Munch den "Schrei" malte. Der Einband von "Maggie" war gelb, "die Farbe des Neuen und Radikalen jener Epoche". Das Buch hätte Cranes Ruhm begründen können, wäre es gelesen worden. Das geschah aber erst sehr viel später, als es für Crane längst keine große Rolle mehr spielte. Er hatte der Veröffentlichung dieses Werks mit der Hoffnung auf Aufmerksamkeit und Anerkennung entgegengefiebert. Als beides ausblieb - möglicherweise, weil seine Art des "ultravisuellen" Erzählens damals ebenso neu war wie seine Technik, Wesentliches gleichsam im Off, zwischen zwei Sätzen geschehen zu lassen, er also filmisch erzählte vor der Verbreitung des Films -, verstand er die Welt nicht mehr: "Maggie war schließlich meine erste Liebe!" Möglicherweise waren seine Figuren seinem Herzen tatsächlich näher als jene Frauen (mit Ausnahme von Lily), die er in seinem wirklichen Leben traf, seien es Prostituierte, die sich um ihn sorgten, oder seine Frau Cora, eine ehemalige (und spätere) Bordellbesitzerin, in deren Armen er im Juni 1900 in einem Sanatorium in Badenweiler im Schwarzwald an Tuberkulose starb.
In seinem kurzen Leben ungeheuer produktiv, hinterließ Crane alles in allem dreitausend Seiten Text. Paul Auster hat sie bis zum letzten Schnipsel sämtlich durchgekaut, von allen Seiten beleuchtet und in schönen Sätzen für seine Leser aufgearbeitet, inklusive privater Spielereien wie einer dadaähnlichen vierseitigen Zeitung voller Nonsensgeschichten, die das Ergebnis eines unbeschwerten Sommers mit Freunden in Twin Lakes im Pike County (Pennsylvania) waren, oder auch einer kurzen antisemitischen Skizze, die "glücklicherweise", wie Auster schreibt, unveröffentlicht blieb. Dazu hat er alles gelesen, was je über Crane geschrieben wurde und von Zeitgenossen, Weggefährten und Kollegen und Kolleginnen, die bei magerer Quellenlage nach Cranes frühem Tod - kein Tagebuch, nur wenige Briefe - darüber fabuliert worden ist, was sie nicht wissen konnten.
Die Gedenkschrift von Willa Cather etwa, die Crane verehrte, soll, Auster zufolge, zum großen Teil auf "frei Erfundenem" beruhen. Die "zwei besten amerikanischen Schriftsteller ihrer Generation" hätten einander im Alter von "einundzwanzig und dreiundzwanzig in einer kleinen Zeitungsredaktion in Lincoln, Nebraska, kennengelernt", wo Willa Cather lebte und Stephen Crane auf Reportagereise haltmachte, um über die fürchterliche Dürre und die Hungersnot des Jahres 1895 zu berichten. Crane kannte sich aus in den ärmeren und ganz armen sozialen Regionen; "Maggie, ein Mädchen von der Straße" spielt wie auch viele seiner Erzählungen an der New Yorker Bowery. Er selbst lebte jahrelang mit anderen jungen Männern in einer winzigen Wohnung an der Lower East Side und verspürte keinerlei Dünkel gegenüber den Armen. Eher verabscheute er die Hochnäsigkeit der Reichen, wie zwei komplementäre kurze Geschichten zeigen, die er für die "New York Press" schrieb: die eine über Obdachlosigkeit, wofür er selbst eine Nacht in einer entsprechenden Unterkunft verbrachte, die andere über einen Besuch in reichem Haus. Beide Geschichten finden sich in deutscher Erst- oder Neuübersetzung von Norbert Jakober in dem auch gerade erschienenen Erzählband "Geschichten eines New Yorker Künstlers", wobei die Parallelität der Originaltitel - "An Experiment in Misery" und "An Experiment in Luxury" - unverständlicherweise aufgegeben wurde und die kurzen Stücke nun "Armut auf Probe" und "Der fahle Schein des Reichtums" heißen.
Dieser Prosaband (wie gesagt: am besten vor der Biographie lesen) enthält zwei der besten Kurzromane Cranes ("Maggie" und "Georges Mutter") sowie einige Szenen, die dessen geniale Beobachtungsgabe und sein vorübergehendes Credo belegen, der gelebten Erfahrung Vorrang vor der Phantasie zu geben. Außerdem findet sich hier die erst nach Cranes Tod veröffentlichte short story "Der kleine braune Hund", in der Crane auf wenigen Seiten immer wieder die Perspektive wechselt, mit einer Montagetechnik, wie sie später im Film verwendet wurde. Er lässt seinen Blick von einem kleinen Jungen, der einen streunenden Hund aufliest, zu dem Hund springen, der sein neues Zuhause erkundet, zum Vater, der das Tier betrunken aus dem Fenster wirft, hin zu den Nachbarn und Fußgängern, die den Flug des Hundes erschrocken verfolgen, und wieder zurück zu dem Jungen, der auf die Straße eilt: "klein, wie er war, musste er die Treppe rückwärts nach unten steigen, eine Stufe nach der anderen, mit beiden Händen an der oberen Stufe". Eine ähnlich perfekte Kurzgeschichte hat erst J. D. Salinger wieder geschrieben.
Mit "The Red Badge of Courage" begann eine neue Phase in Cranes Werk. Denn die Geschichte des Soldaten, der sich vor der Schlacht drückt und einen verletzten Kameraden im Stich lässt, speist sich allein aus Cranes Vorstellungskraft - ein Roman, damals vergleichbar nur dem wenige Jahre zuvor in Norwegen erschienenen "Hunger" von Knut Hamsun. Wie dieses Buch ist "The Red Badge of Courage" ein "Drama des Bewusstseins", nicht des Schlachtfelds. Jeder Satz atmet Angst, so er von Männern handelt, und Gleichgültigkeit, wenn die Natur beschrieben wird. Auster widmet diesem Buch mehr als sechzig zusammenhängende Seiten - der Roman selbst hat kaum mehr als zweihundert - und kommt später immer wieder auf ihn zu sprechen. Das ist der Bedeutung des Werks als Vorläufer von Joyce und Proust zwar durchaus angemessen, aber am Ende liegt die "Rote Tapferkeitsmedaille" ausgeweidet da, tatsächlich fast wie tot.
Während Crane noch auf die Veröffentlichung des Romans wartet, erscheint im selben Jahr 1895 sein Gedichtband "The Black Riders" - in Versalien gedruckt wie Schlagzeilen, eine Gestaltungsentscheidung des Verlags Copeland and Day, die Crane aufmerksamkeitsstark und großartig fand (der Auster allerdings in seinen Zitaten nicht folgt). "Ist das Poesie?", fragte ein anonymer Kritiker, und ein anderer bemerkte: "Verglichen damit war Whitmans 'Leaves of Grass' geradezu ein Feuerwerk." Crane hatte die Gedichte in wenigen Wochen herausgehauen, zur Verblüffung aller, die in ihm keinen Dichter gesehen hatten. Auster vermutet als Grund hinter dieser zweimonatigen ununterbrochenen Gedichtproduktion - die dem deutschen Publikum vermutlich noch unbekannter ist als Cranes Prosawerk - eine Art "lodernde Ekstase" zum Exorzismus der "Stimmen seiner dogmatisch strengen Vorfahren", in deren Augen Crane beständig sündigte, beim Trinken, Huren, Spielen. Tatsächlich gehören die Gedichte zum Erstaunlichsten, das Paul Auster ausbreitet: "In der Wüste / Sah ich ein Geschöpf, nackt, tierisch, / Das, auf der Erde hockend, / Sein Herz in den Händen hielt / Und davon fraß. / Ich sagte: ,Schmeckt es, Freund?' / ,Es ist bitter - bitter', sprach es: / ,Doch ich mag es, / Weil's bitter ist / Und weil es mein Herz ist.'"
Die rote Tapferkeitsmedaille" brachte Stephen Crane zwar erst einmal wenig Geld ein, aber er wurde berühmt. "Ehrfürchtiges Staunen durchlief die amerikanische wie die britische Gesellschaft, als immer mehr Leser dahinterkamen, dass einem so jungen und so unbekannten Autor ein so radikal neuartiges Bravourstück gelungen war. ,The Red Badge of Courage' war mehr als nur ein Roman, das Buch war eine Sensation, eines jener raren Kunstwerke, die über die Kunst hinausgehen und sie zu einem kulturellen Wegzeichen machen, zu etwas, das die Zeitläufte in zwei Hälften teilt: in eine Zeit davor und eine danach", so Auster - ein Vorgang, der die Generationen, denen er dieses Buch von Crane nahebringen will, aufs Tiefste erstaunen dürfte. Nur ein anderer junger Schriftsteller habe je "das Land so im Sturm erobert", fügt Auster an, nämlich F. Scott Fitzgerald mit "Diesseits vom Paradies" 25 Jahre später. Wird Auster sich bald gezwungen sehen, auch diesen Autor biographisch und werkkritisch anzugehen?
Was genau machte Stephen Crane zu einem aus seiner Zeit herausragenden Schriftsteller? Sein Stoff, die Rückseite des amerikanischen Lebens im aufstrebenden Industriezeitalter. Seine Themen und sein Personal, die Armen, die Ungewaschenen, die Betrunkenen. Sein Blick, genau, ironisch oft, sarkastisch auch, dem unter Umständen die Löffel auf einer Untertasse ebenso bedeutsam erscheinen wie die Gäste eines Cafés. Seine Technik des Perspektivwechsels, der jede Melodramatisierung unterläuft und ihn unbedingt als Mann der Moderne ausweist. Die nie nachlassende Energie in seinen Sätzen, "der extreme innere Druck, der ständig in seiner Prosa brodelt, als ob seine Sätze aus den Nähten zu platzen und wie Geschosse in die Luft zu fliegen drohen". Mit solchen Formulierungen, geschrieben aus der "Bewunderung eines alten Schriftstellers für das Genie eines jungen", hält Auster sein Publikum über weite Strecken bei der Stange.
Begraben ist Stephen Crane in Hillside, New Jersey, wohin sein Sarg von Badenweiler über London gebracht wurde. Die Trauerfeier fand in Manhattan statt. Kaum jemand war gekommen, nur einige Journalisten, unter ihnen der Dichter Wallace Stevens. "Das Ganze war furchtbar", schrieb er später in sein Tagebuch: "Als der Leichenwagen in der drückenden Hitze, von keiner Menschenseele beachtet und nur von vier oder fünf Kutschen gefolgt, lärmend über das Pflaster davonrollte, wurde mir vieles klar, was ich bisher nur zweifelnd vermutet hatte - es gibt wenige Heldenverehrer. Und daher wenige Helden."
Ausgerechnet dies lässt Auster unkommentiert. Dabei liegt in diesem Satz von Stevens und dem Gelächter, mit dem Stephen Crane auf ihn vermutlich reagiert hätte, ein Stück Wahrheit darüber, warum wir ihn heute unbedingt wieder lesen sollten. VERENA LUEKEN
Paul Auster: "In Flammen". Leben und Werk von Stephen Crane.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 1184 S., geb., 34,- Euro.
Stephen Crane: "Geschichten eines New Yorker Künstlers".
Aus dem Englischen von Norbert Jakober. Hrsg. von Günther Butkus. Pendragon Verlag, Bielefeld 2022. 286 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Verena Lueken findet auch, dass wir Stephen Crane unbedingt wieder lesen sollten. Der amerikanische Autor, der bereits 1900 mit 29 Jahren starb, wäre beinahe in Vergessenheit versunken, wenn ihn Paul Auster mit einer 1200 Seiten schweren Biografie nicht vor diesem unverdienten Schicksal bewahrt hätte. Im vorliegenden Band seien zwei von Cranes besten Geschichten versammelt, versichert Lueken, die in ihnen auch das Credo des Autors erkennt, eher der Erfahrung zu vertrauen als der Fantasie. Ähnlich perfekte Stories, meint Lueken, habe erst wieder J.D. Salinger geschrieben.
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»Stephen Crane ist ein Hemingway vor Hemingway. Knappe, lakonische Sätze, Landschaften wie von der Palette der Impressionisten, ein Aushorchen der Empfindungen wie aus einem Psychiater-Logbuch. Im Zentrum: die Angst. Vor dem Krieg, vor dem Versagen. Das ist alles andere als ein patriotisches Geläute, das ist die Desillusionierung kriegerischer Romantik durch die Realität.« Leipziger Volkszeitung Norbert Wehrstedt (über Die rote Tapferkeitsmedaille)