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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
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Das Gefängnis ist ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändert: Die Historikerin Annelie Ramsbrock erzählt die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik
Im "Lichtblick", der Gefängniszeitschrift der größten deutschen Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel, erscheint 1972 ein Artikel, der sich kritisch mit der Situation der Häftlinge auseinandersetzt und dabei die Systemfrage stellt: Ist der deutsche Strafvollzug überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar? "Der Einschluss in die Strafanstalt", heißt es dort, "annulliert die menschliche Existenz des Gefangenen und verleiht ihm eine befristete Scheinexistenz in einer Scheinwelt."
Der Satz taucht jetzt in einem Buch wieder auf, das die Geschichte des Gefängnisses in der Bundesrepublik erzählt und dabei die Frage nach dem Verhältnis des Strafvollzugs zur Demokratie weiter zuspitzt. Die Göttinger Historikerin Annelie Ramsbrock hat Akten aus den Archiven der Gefängnisse studiert, Häftlingszeitungen gelesen und Zeitzeugen getroffen, um vor allem die Jahre 1960 bis 1985 zu rekonstruieren. In dieser Zeit hielt der Resozialisierungsbegriff Einzug in die deutsche Debatte; nach dem Vorbild der Kriminalsoziologie in den Vereinigten Staaten beschäftigte man sich vermehrt mit den Möglichkeiten, Straftäter wieder in die demokratische Gesellschaft einzugliedern. Doch das Resümee von Ramsbrocks Buch "Geschlossene Gesellschaft" ist ernüchternd: Der Versuch, das Grundgesetz in der Eigenwelt der Justizvollzugsanstalten zur Geltung zu bringen, sei in vielerlei Hinsicht gescheitert.
Warum ist das so? Eines der Kernprobleme sieht Ramsbrock darin, dass das Gefängnis eine "totale Institution" sei. Mit dem von dem Soziologen Erving Goffman entwickelten Begriff stellt sie das Gefängnis als ein geschlossenes System dar, in dem die Insassen sich an Normen und Autoritäten (dem Aufsichtspersonal) orientieren, die von denen der Gesellschaft draußen sehr abweichen. Ramsbrocks Zeugenberichte machen den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einer Erziehung der Gefangenen zu Mitgliedern der demokratischen Gesellschaft und der autoritären Übermacht des Gefängnisses als Institution deutlich. So beklagten Berliner Häftlinge 1968 gegenüber dem "Lichtblick" nicht nur die triste Atmosphäre und die Monotonie der Tagesabläufe; sie beschrieben vor allem die schleichende Gewöhnung an das Gefängnismilieu, die das Bild von der Außenwelt immer abstrakter werden lässt: "Die administrative Struktur ist so ausgeklügelt bürokratisiert, dass sich der Gefangene wie ein schmutziges Wäschestück in der Mangel vorkommen muss."
Die Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt, der Verlust von Gewohnheiten, die Rollenmuster und die Anpassung an die Regeln der Gefängnisgesellschaft macht Ramsbrock mit dafür verantwortlich, dass in deutschen Gefängnissen bis heute Gewalt, kriminelles Verhalten und Rückfälle weit verbreitet sind. Das Gefängnis sei ein Mikrokosmos, der seine Insassen psychisch verändere.
Dies liege auch am oft problematischen Verhältnis zwischen Aufsichtspersonal und Gefangenen. Besonders in der Anfangsphase des bundesdeutschen Justizvollzugs seien häufig gewalttätige Exzesse gegenüber Gefangenen vorgekommen. Im Kölner Gefängnis Klingelpütz wurden in den Sechzigern Häftlinge gefoltert und missbraucht; zwei von ihnen starben an den Folgen. Erst ein Artikel im Kölner "Express" machte die Fälle 1965 publik.
Auch bei der "freiheitsähnlichen Ausgestaltung der Gefangenenarbeit" gab es Versäumnisse. Ramsbrock zeigt, wie bis in die Achtziger Arrest und verschlechterte Haftbedingungen folgten, wenn sich Gefangene der Arbeit verweigerten. Der Übergang vom Be- zum Entlohnungssystem, die Einführung tatsächlicher Gehälter für die Arbeit im Gefängnis, ist in Deutschland bis heute nicht vollständig vollzogen.
Skeptisch beurteilt Ramsbrock auch die Freizeit- und Kulturprogramme. Eine soziologische Abhandlung aus den späten Fünfzigern, die als Reformgrundlage der Innenministerien genutzt wurde, gab das Leitbild aus, dass der Insasse zu einem "echten, eigengesetzlichen Freizeitverhalten" erzogen werden soll. Doch viele Maßnahmen provozierten eher Gegenwehr, wie eine Reaktion auf die Musiktherapie in einer süddeutschen JVA in den Siebzigern zeigt: "Es wurde uns nun erklärt, dass dies eigentlich gar kein Musikunterricht sein soll, sondern Musiktherapie, Händchen anfassen, Kreis bilden, Reigen machen; lachhaft und unter jeder Manneswürde." Ein düsteres Kapitel stellen die fehlende psychologische Betreuung von Gefangenen und der problematische Umgang mit Pädophilen dar; selbst in der Reformperiode wurden sie noch zur chemischen Kastration gedrängt.
Der Berichtszeitraum ihrer Untersuchung, schreibt Ramsbrock, sei der Höhepunkt des reformerischen Aufbruchs im Strafvollzug gewesen. Seither sei auf diesem Gebiet erst recht nicht mehr viel passiert. Jeder zweite ehemalige Gefängnisinsasse wird während der ersten neun Jahren in Freiheit rückfällig. Eine einfache Lösung, auch das macht das Buch deutlich, ist nicht in Sicht. Die akribische Rekonstruktion dieses Teils der bundesrepublikanischen Geschichte bringt das unaufgelöste Paradox des Gefängnisses im demokratischen Staat aber wieder in aller Schärfe ins Bewusstsein.
KEVIN HANSCHKE
Annelie Ramsbrock: "Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch - eine bundesdeutsche Geschichte". Verlag S. Fischer, 416 Seiten, 25 Euro
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