Extreme politische Ansichten haben Konjunktur. Auf der rechten und linken Seite des politischen Spektrums, aber auch in religiösen Milieus radikalisieren sich Positionen und stellen demokratische Werte und Institutionen infrage. Dieser Band gibt einen Überblick über die zentralen Aspekte dieses Phänomens: die Radikalisierung von Individuen, von Gruppen und von Gesellschaften, Deradikalisierung, Online- Radikalisierung und die Präventionsmaßnahmen. Außerdem werden eine Reihe wertvoller Handlungsempfehlungen für Politik und Zivilgesellschaft formuliert. Mit Beiträgen unter anderem von Naika Foroutan, Peter Neumann und Andreas Zick
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2020Kleiner, aber radikaler
Wie sich die Gesellschaft radikalisiert - und wohl trotzdem nicht zerbrechen wird
"Gesellschaft Extrem" - auch wenn der Titel zunächst anderes vermuten lässt, sorgt dieses Buch in Zeiten, in denen Weimar- oder Nazi-Vergleiche nie lange auf sich warten lassen, für Differenzierung. Denn jenseits der typischen Extremismus- und Radikalisierungsforschung traut sich diese Veröffentlichung zu, den Blick auf die Gesellschaft als Ganzes zu wenden. Radikalisiert sie sich? Die Antwort, die die Autoren der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung geben, ist zweischneidig: Einerseits haben sich die demokratischen Milieus gefestigt. Nach den Daten der Leipziger Mitte-Studien erstreckten sie sich im Jahr 2016 auf rund 60 Prozent der Gesellschaft, 2006 waren es nur knapp 37 Prozent gewesen.
Das vorurteilsgebundene Milieu und die antidemokratisch-autoritären Milieus haben sich somit deutlich verkleinert. Andererseits sei jedoch zu beobachten, dass sich die geschrumpften nichtdemokratischen Milieus radikalisieren. In den vergangenen zehn Jahren könne man verfolgen, wie sich Positionen immer stärker voneinander abgrenzen. Und mit zunehmender Polarisierung haben es extremistische Einstellungen leichter, den Weg in die sogenannte "Mitte" der Gesellschaft zu finden. Treiber dieser Entwicklung sind populistische Parteien. Die konnten jedoch auf der zunehmenden Normalisierung von islam- und migrationsfeindlichen Einstellungen aufbauen. Die Grenzen des Sagbaren hätten sich nicht "von heute auf morgen" verschoben. So seien etwa die Anschläge der Neunziger (u. a. Hoyerswerda) und die Popularität der Thesen von Thilo Sarrazin Wegmarken der zunehmenden Polarisierung. Gleichwohl habe Deutschland ein schwaches bis moderates Populismus-Potential. Es habe erst des "historischen Ausnahmeereignisses" der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 bedurft, um eine populistische Partei (die AfD) auf einen zweistelligen Prozentwert zu bekommen - europäischer Durchschnitt. Daher lasse sich vermuten, "dass eine weitere Radikalisierung des Parteiendiskurses bald an seine Grenzen stoßen könnte". Es hänge vom Umgang mit der AfD ab, "inwieweit sich eine wachsende Offenheit für repressive, antiplurale und diskriminierende Strukturen oder Handlungen verfestigen kann".
Das Forscherteam der Humboldt-Universität Berlin stellt die Frage, wie sich diese Radikalisierung durch ideologische Gemeinsamkeiten zwischen extremistischen Gruppen verstärkt. So beschreiben sie Antisemitismus als "Schnittmenge zwischen völkischem Nationalismus, linker Militanz und Islamismus". Anschlüsse und Allianzen ergäben sich über sogenannte "Brückennarrative" wie Antiimperialismus, Antimodernismus und Antiuniversalismus. Als gemeinsame Denkmuster der Neuen Rechten und des islamistischen Fundamentalismus erkennen die Autoren zudem ein heroisch-maskulines Weltbild und Antifeminismus. Die Übergänge zu nichtradikalisierten Milieus werden hier leider nur insofern angesprochen, als sich extreme Gruppen zunehmend einer popkulturellen Ansprache bedienen und nicht mehr als Subkulturen verstanden werden können. Hier wäre es interessant gewesen, inhaltliche Übergänge zur politischen Mitte wenigstens anzudeuten. Unter das "Widerstands-Dispositiv" radikalisierter Gruppen etwa fassen die Autoren, sich auf "eine höhere Sache" zu berufen, die über dem demokratischen Prozess steht. Kein Denkmodell, das der hochgebildeten Anhängerschaft etablierter Parteien fremd wäre - die zunehmenden Sympathien für rein wissenschaftlich hergeleitete Entscheidungen durch ungewählte Experten sind nur ein Beispiel.
Neben der gesellschaftlichen und der Gruppenebene umfasst die Publikation die Faktoren individueller Radikalisierung, die Herausforderungen der Deradikalisierung in Deutschland und die Schwierigkeiten der Evaluationsforschung, Programme, die der Radikalisierung vorbeugen sollen, zu bewerten.
Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Autoren eint, dass sie sich auf den Prozessbegriff "Radikalisierung" anstelle des starren "Extremismus" konzentrieren. Im ersten Kapitel, an dem die Herausgeber beteiligt sind, wird zudem davor gewarnt, Radikalisierung nur als eine Phase der Entwicklung hin zur Gewaltanwendung zu begreifen. Denn so gerieten auch potentiell emanzipatorische Prozesse in den Sog einer Sicherheitsdebatte, die ihnen ihre Legitimität abspreche: "Demokratische Gesellschaften müssen Radikalität aushalten, wenn nicht sogar fördern, um ihre Innovationsfähigkeit zu erhalten. Sie müssen aber dort präventiv ansetzen, wo Radikalisierung auf Kosten der Pluralität, Demokratie und Menschenwürde geht." Die Autoren unterscheiden daher zwischen Radikalisierung in die Gewalt, in der Gewalt und ohne Gewalt. Radikalisierung in der Gewalt liegt etwa vor, wenn eine Terrorgruppe zivile Ziele ins Visier nimmt, nachdem sie sich zuvor nur auf militärische beschränkt hat.
Wie sich die digitale Vernetzung auf die Radikalisierung Einzelner auswirkt und wie sie von Extremisten für Propaganda, Rekrutierung, Planung und Finanzierung genutzt wird, beschreibt das Kapitel zur "Rolle des Internets". Das habe zu "Filterblasen" geführt, Kommunikation schneller und günstiger gemacht und biete ein Gefühl der Anonymität. Trotzdem erscheint der Kapitelzuschnitt etwas aus der Zeit gefallen, da doch "Maßnahmen zur Bekämpfung von ,Online-Extremismus' nicht erfolgreich sein können, wenn nicht zugleich die dementsprechenden Offline-Erscheinungsformen verstanden werden". Die Autoren bringen es mit einem Zitat von David Benson auf den Punkt: "Es wäre seltsam, wenn die heutigen Terroristen nicht das Internet nutzen würden, genauso seltsam, wie wenn Terroristen früher nicht die Post oder Telefone genutzt hätten." Die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat (und wohl noch nie hatte, zwischen Online- und Offline-Extremismus zu unterscheiden, ist eigentlich trivial. Und doch tendieren Entscheidungsträger noch immer dazu, wie die Autoren selbst bemängeln - sind doch die "Digital Natives" in der Politik noch immer in der Unterzahl.
JANNIK WAIDNER
Christopher Daase/ Nicole Deitelhoff/ Julian Junk (Hrsg.): Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen.
Campus Verlag, Frankfurt 2019. 295 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie sich die Gesellschaft radikalisiert - und wohl trotzdem nicht zerbrechen wird
"Gesellschaft Extrem" - auch wenn der Titel zunächst anderes vermuten lässt, sorgt dieses Buch in Zeiten, in denen Weimar- oder Nazi-Vergleiche nie lange auf sich warten lassen, für Differenzierung. Denn jenseits der typischen Extremismus- und Radikalisierungsforschung traut sich diese Veröffentlichung zu, den Blick auf die Gesellschaft als Ganzes zu wenden. Radikalisiert sie sich? Die Antwort, die die Autoren der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung geben, ist zweischneidig: Einerseits haben sich die demokratischen Milieus gefestigt. Nach den Daten der Leipziger Mitte-Studien erstreckten sie sich im Jahr 2016 auf rund 60 Prozent der Gesellschaft, 2006 waren es nur knapp 37 Prozent gewesen.
Das vorurteilsgebundene Milieu und die antidemokratisch-autoritären Milieus haben sich somit deutlich verkleinert. Andererseits sei jedoch zu beobachten, dass sich die geschrumpften nichtdemokratischen Milieus radikalisieren. In den vergangenen zehn Jahren könne man verfolgen, wie sich Positionen immer stärker voneinander abgrenzen. Und mit zunehmender Polarisierung haben es extremistische Einstellungen leichter, den Weg in die sogenannte "Mitte" der Gesellschaft zu finden. Treiber dieser Entwicklung sind populistische Parteien. Die konnten jedoch auf der zunehmenden Normalisierung von islam- und migrationsfeindlichen Einstellungen aufbauen. Die Grenzen des Sagbaren hätten sich nicht "von heute auf morgen" verschoben. So seien etwa die Anschläge der Neunziger (u. a. Hoyerswerda) und die Popularität der Thesen von Thilo Sarrazin Wegmarken der zunehmenden Polarisierung. Gleichwohl habe Deutschland ein schwaches bis moderates Populismus-Potential. Es habe erst des "historischen Ausnahmeereignisses" der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 bedurft, um eine populistische Partei (die AfD) auf einen zweistelligen Prozentwert zu bekommen - europäischer Durchschnitt. Daher lasse sich vermuten, "dass eine weitere Radikalisierung des Parteiendiskurses bald an seine Grenzen stoßen könnte". Es hänge vom Umgang mit der AfD ab, "inwieweit sich eine wachsende Offenheit für repressive, antiplurale und diskriminierende Strukturen oder Handlungen verfestigen kann".
Das Forscherteam der Humboldt-Universität Berlin stellt die Frage, wie sich diese Radikalisierung durch ideologische Gemeinsamkeiten zwischen extremistischen Gruppen verstärkt. So beschreiben sie Antisemitismus als "Schnittmenge zwischen völkischem Nationalismus, linker Militanz und Islamismus". Anschlüsse und Allianzen ergäben sich über sogenannte "Brückennarrative" wie Antiimperialismus, Antimodernismus und Antiuniversalismus. Als gemeinsame Denkmuster der Neuen Rechten und des islamistischen Fundamentalismus erkennen die Autoren zudem ein heroisch-maskulines Weltbild und Antifeminismus. Die Übergänge zu nichtradikalisierten Milieus werden hier leider nur insofern angesprochen, als sich extreme Gruppen zunehmend einer popkulturellen Ansprache bedienen und nicht mehr als Subkulturen verstanden werden können. Hier wäre es interessant gewesen, inhaltliche Übergänge zur politischen Mitte wenigstens anzudeuten. Unter das "Widerstands-Dispositiv" radikalisierter Gruppen etwa fassen die Autoren, sich auf "eine höhere Sache" zu berufen, die über dem demokratischen Prozess steht. Kein Denkmodell, das der hochgebildeten Anhängerschaft etablierter Parteien fremd wäre - die zunehmenden Sympathien für rein wissenschaftlich hergeleitete Entscheidungen durch ungewählte Experten sind nur ein Beispiel.
Neben der gesellschaftlichen und der Gruppenebene umfasst die Publikation die Faktoren individueller Radikalisierung, die Herausforderungen der Deradikalisierung in Deutschland und die Schwierigkeiten der Evaluationsforschung, Programme, die der Radikalisierung vorbeugen sollen, zu bewerten.
Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Autoren eint, dass sie sich auf den Prozessbegriff "Radikalisierung" anstelle des starren "Extremismus" konzentrieren. Im ersten Kapitel, an dem die Herausgeber beteiligt sind, wird zudem davor gewarnt, Radikalisierung nur als eine Phase der Entwicklung hin zur Gewaltanwendung zu begreifen. Denn so gerieten auch potentiell emanzipatorische Prozesse in den Sog einer Sicherheitsdebatte, die ihnen ihre Legitimität abspreche: "Demokratische Gesellschaften müssen Radikalität aushalten, wenn nicht sogar fördern, um ihre Innovationsfähigkeit zu erhalten. Sie müssen aber dort präventiv ansetzen, wo Radikalisierung auf Kosten der Pluralität, Demokratie und Menschenwürde geht." Die Autoren unterscheiden daher zwischen Radikalisierung in die Gewalt, in der Gewalt und ohne Gewalt. Radikalisierung in der Gewalt liegt etwa vor, wenn eine Terrorgruppe zivile Ziele ins Visier nimmt, nachdem sie sich zuvor nur auf militärische beschränkt hat.
Wie sich die digitale Vernetzung auf die Radikalisierung Einzelner auswirkt und wie sie von Extremisten für Propaganda, Rekrutierung, Planung und Finanzierung genutzt wird, beschreibt das Kapitel zur "Rolle des Internets". Das habe zu "Filterblasen" geführt, Kommunikation schneller und günstiger gemacht und biete ein Gefühl der Anonymität. Trotzdem erscheint der Kapitelzuschnitt etwas aus der Zeit gefallen, da doch "Maßnahmen zur Bekämpfung von ,Online-Extremismus' nicht erfolgreich sein können, wenn nicht zugleich die dementsprechenden Offline-Erscheinungsformen verstanden werden". Die Autoren bringen es mit einem Zitat von David Benson auf den Punkt: "Es wäre seltsam, wenn die heutigen Terroristen nicht das Internet nutzen würden, genauso seltsam, wie wenn Terroristen früher nicht die Post oder Telefone genutzt hätten." Die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat (und wohl noch nie hatte, zwischen Online- und Offline-Extremismus zu unterscheiden, ist eigentlich trivial. Und doch tendieren Entscheidungsträger noch immer dazu, wie die Autoren selbst bemängeln - sind doch die "Digital Natives" in der Politik noch immer in der Unterzahl.
JANNIK WAIDNER
Christopher Daase/ Nicole Deitelhoff/ Julian Junk (Hrsg.): Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen.
Campus Verlag, Frankfurt 2019. 295 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Leider gibt es nur selten Forschungsbilanzen wie diese, hat man es hier doch mit einem überaus informativen Sammelband zu tun. Er kann als eine Einführung ins Thema gelesen werden, er macht aber auch den Experten viele Wissenslücken deutlich.« Armin Pfahl-Traughber, Humanistischer Pressedienst, 23.10.2019 »Dieses Buch [sorgt] in Zeiten, in denen Weimaroder Nazi-Vergleiche nie lange auf sich warten lassen, für Differenzierung.« Jannik Waidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.2020 »Der Band leistet mit einer Bestandsaufnahme zur Radikalisierungsforschung in den letzten 20 Jahren einen wichtigen Beitrag zur prozessorientierten Extremismusanalyse, -prävention und -repression.« Uwe Backes, Jahrbuch 'Extremismus & Demokratie', 32. Jahrgang 2020