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Theoriegeschichte mit Blick auf die Gegenwart: Armin Nassehi erläutert, was Grundbegriffe gesellschaftlicher Verfasstheit leisten
Das Streiten um Begriffe wird unterschätzt. Jede Diskussion, sei sie politisch, wissenschaftlich oder persönlich, muss sich auch zu den Kategorien verhalten, mit denen sie sich auf Phänomene bezieht. Jeder Sachverhalt ließe sich mit anderen Begriffen anders beschreiben, und auf diese Unterschiede kann es ankommen. Begriffliches hat einen schlechten Ruf, vielleicht auch weil es sich einer Logik des Eigenwerts von Daten (auch ein Begriff) nicht recht fügt. Denkt man zum Vergleich ein halbes Jahrhundert zurück, so machten damals mit den maßgeblich von Reinhart Koselleck organisierten "Geschichtlichen Grundbegriffen" und Joachim Ritters "Historischem Wörterbuch der Philosophie" zwei begrifflich ansetzende wissenschaftliche Großprojekte von sich reden, die nicht zuletzt miteinander verbindet, dass sie recht gut gealtert sind.
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi nimmt, ausdrücklich ohne sich mit ihnen messen zu wollen, den Faden beider Werke in seinem neuen Buch auf und macht sich an die Arbeit am Begriff. Dabei seien die von ihm untersuchten "Gesellschaftlichen Grundbegriffe", wie er in einer eingehenden und anspruchsvollen Einleitung erläutert, gleich nach zwei Kriterien relevant. Zum einen sollen sie als Kategorien der sozialwissenschaftlichen Beschreibung dienen, zum anderen in der öffentlichen Debatte Bedeutung beanspruchen. Die Frage, die Nassehi dann an diese Begriffe richtet, ist nach seinem Verständnis funktional: Es geht nicht um ihre richtige Bedeutung, sondern um ihre Funktion sowohl in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung als auch in den Sozialwissenschaften. Mit anderen Worten: Welches ist das Problem, für das der Begriff eine Lösung anbieten soll? Die Auswahl der insgesamt neunzehn Begriffe - von Demokratie, Freiheit und Gleichheit über Identität, Kontrolle, Kritik und Kultur bis zu Öffentlichkeit, Populismus, Technik und Wissen - spannen ein breites Netz über gegenwärtige Debatten.
Nassehi zitiert sich in den Artikeln, die in der Regel um die zwanzig Seiten lang sind, weit und häufig aufschlussreich durch die Theoriegeschichte seit Aristoteles, ausdrücklich auch mithilfe der beiden als Vorbild dienenden großen Wörterbücher - und doch erscheint das, was die alten Lexika leisteten, die konsequente historische Spurensuche von Begriffen, bei ihm nicht immer zwingend, zumal eine der Lieblingsreferenzen Nassehis Nassehi selbst ist. So lernen die Leser in den Artikeln von der Rezeption neuerer wissenschaftlicher Debattenbeiträge viel, während die Bezugnahme auf theoretische Klassiker auch ganz anders hätten ausfallen können. Im Zusammenspiel der beiden Artikel zu "Demokratie" und "Populismus" hätte er beispielsweise, statt eine Menge Gegenwartsreferenzen zu bemühen, auch daran erinnern können, dass die Debatte über Demokratie und Liberalismus schon das ganze neunzehnte Jahrhundert durchzieht. Das, was heute als linker Populismus bezeichnet wird, findet sich schon in erstaunlicher Reinform bei revolutionären Politikern wie Thomas Paine, Thomas Jefferson oder Andrew Jackson. Dass Nassehi dabei immer wieder auf die "sozialwissenschaftliche Herkunft" seiner Kategorien hinweist, zeugt von einem (leider selten gewordenen) Stolz des Wissenschaftlers auf die eigene Disziplin. Überzeugend ist es freilich nur, wenn man aus Aristoteles den ersten Soziologen machen will.
Bleibt die ideenhistorische Seite der Grundbegriffe etwas beliebig, so wirkt der theoretische Hintergrund kompakter, wird dafür aber selten ausdrücklich. Alle Artikel sind methodisch vergleichsweise streng aufgebaut und ziehen die Frage nach der Funktion konsequent durch. Weniger deutlich wird, was die Theorie hinter der Methode ist. Wenn man eine Ansammlung von Begriffen nicht historisch, sondern funktional analysiert, dann setzt das eigentlich eine Theorie voraus, die ja nichts anderes ist als eine systematische Anordnung von Begriffen. Im Ergebnis kann man sich auch keinen Artikel ohne seinen Hintergrund in der soziologischen Systemtheorie vorstellen, den der Autor aber bemerkenswert selten erwähnt, so, als wolle er sich nicht festlegen lassen, ohne sich doch wirklich losmachen zu können. Dennoch ist dieser Rahmen Bedingung dafür, dass es sich lohnt, alle Aufsätze zu lesen: Ausführungen zu Demokratie, die passende Probleme für ihre Lösungen finden muss, zu Freiheit als Lücke in einem System ausdifferenzierter Gesellschaft, zum Fremden, der die Gesellschaft davon entlastet, sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich zusammenhält, zur starken Bindung, die Parteien im Konflikt beieinanderhält, oder zur Unterstellung von Öffentlichkeit als einer Sphäre, in der die Gesellschaft sich selbst in den Blick bekommt, gewinnen erst so ihre bemerkenswerte Stringenz.
Der sachliche Ton der Artikel, Nassehis freundlich distanzierte Art des Schreibens, seine Enthaltsamkeit mit Werturteilen, die Strategie, den eigenen Gedanken ihren durch Reflexion kontrollierten Lauf zu lassen, um zu sehen, was herauskommt, weisen allesamt darauf hin, dass es dem Autor ums Beschreiben, nicht ums Vorschreiben geht. So sieht er es ausdrücklich auch selbst. Aber wie bei funktionalen Argumenten nicht selten und sicherlich nicht ungewollt entfaltet sich im Buch eine hintergründige Normativität. Das Funktionale und das Dysfunktionale sind eben doch nicht einfach gleichwertig, und hinter dieser verdeckt bleibenden Unterscheidung strebt das Buch danach, ein Stück soziologische Aufklärung zu bieten: Wenn Nassehi zeigt, dass im Begriff der Demokratie die widerstrebenden Elemente politischer Handlungsfähigkeit und sozialer Inklusion eine schwierige Verbindung eingehen, dann wird damit auch festgestellt, dass mit diesem Begriff nicht einfach beliebige Erwartungen an politische Selbstbestimmung verbunden werden können - das ist schon deswegen nicht trivial, weil es zugleich unmöglich scheint, solche Erwartungen ohne den Begriff der Demokratie zu formulieren. Schließlich beruft sich noch der letzte ausdrücklich liberalismusfeindliche Potentat heute unvermeidlich auf den Willen seines Volkes. Wer den Begriff der Demokratie verwendet, stellt also nicht bloß einen politischen Anspruch, sondern verweist zugleich, ob gewollt oder nicht, auf dessen Grenzen. Der Begriff vermittelt die gesellschaftlich realen Beschränkungen seines Gegenstands.
Mit der Form eines "Essays, der in zwei Welten funktionieren sollte - in der soziologisch-wissenschaftlichen und der öffentlichen" - hat sich der Verfasser viel vorgenommen, und er ist damit erstaunlich weit gekommen. Manches an dem Buch ist nicht neu, aber alles ist frisch gedacht und hält dadurch die Leser auch bei schwierigen Überlegungen bei der Stange. Freilich hätte man dem Publikum des Buchs mitunter eine etwas deutlichere Emanzipation vom wissenschaftlichen Anspruch und mehr Hinwendung zur eigentlichen öffentlichen Debatte gewünscht. Denn als ein "Glossar öffentlicher Rede", so auch der Untertitel, das über die wissenschaftliche Begriffsanalyse zu realen Auseinandersetzungen kommt, funktioniert das Buch nur beschränkt. Beispiele für öffentliche Debatten, die nicht schon wieder in eine abstrahierte Form gebracht werden, sind selten. Die rhetorische Seite öffentlicher Auseinandersetzung, mit der das Buch anhebt, bleibt im weiteren Verlauf liegen. Vielleicht hätte Nassehi nicht so strikt auf die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und öffentlicher Debatte bestehen, sondern sich gleich ausdrücklich für die Übergänge interessieren sollen.
So ist ein Buch entstanden, das es erlaubt, einem Sozialtheoretiker beim Denken zuzuschauen und dabei selbst ins Denken zu geraten. Sein Ziel hat es erreicht, wenn seine Leser in einer schönen Formulierung Nassehis damit beginnen, "das Begriffliche am Begriff zu begreifen". Das würde bedeuten, ein Verantwortungsbewusstsein für den eigenen Begriffsgebrauch zu entwickeln - und damit die Einsicht zu beherzigen, dass nicht nur die viel beklagten falschen Faktenbehauptungen ein Problem sind, sondern ebenso der inkonsequente Gebrauch von Begriffen. CHRISTOPH MÖLLERS
Armin Nassehi: "Gesellschaftliche Grundbegriffe". Ein Glossar der öffentlichen Rede.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 399 S., geb.,
29,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung, Hans Hütt
"Essenzielle Grundlagenlektüre, um besser zu verstehen und selbst präziser zu formulieren."
taz FUTURZWEI, Peter Unfried
"Ein Buch, das es erlaubt, einem Sozialtheoretiker beim Denken zuzuschauen und dabei selbst ins Denken zu geraten"
Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Armin Nassehis Glossar ist ein anregendes, erhellendes und zugleich amüsantes Handbuch zum Verständnis gegenwärtiger Debatten."
Berliner Zeitung, Harry Nutt
"Wie es gelingen kann, Debatten rationaler machen zu können, ist Thema seines neuen Buches."
Bayern 2 Diwan, Marie Schoeß
"Enthält alle wichtigen Zielwörter, die die Gesellschaft zur Beschreibung ihrer selbst benötigt. Deshalb ist es große, spannende Literatur."
Der Standard, Ronald Pohl
"Nassehis glossatorische Analysen sind besonders stark, wenn sie aus der bisweilen zirkulären rhetorischen Innerlichkeit der Systemtheorie ausbrechen und die Ankündigung, Begriffe praktisch zu befragen, umsetzen."
Berliner Morgenpost, Sophie Klieeisen
"Uneingeschränkt jedem dringend zu empfehlen, der sich in gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten mitunter verloren vorkommt."
spektrum.de, Josef König