Die "Gespräche" des Konfuzius sind ein Grundtext des Konfuzianismus und ein weltweit gelesener Leitfaden der Menschenbildung. Hans van Ess geht mit seiner kommentierten Neuübersetzung weit über die bisherigen Übertragungen hinaus, indem er den Texten ihren historischen Kontext zurückgibt und sie dadurch nur umso klarer und direkter zu uns sprechen lässt. Ein Meilenstein der Konfuzius-Forschung, der für die Lektüre der "Gespräche" neue Maßstäbe setzt. Die "Gespräche" des Konfuzius, eines der berühmtesten Werke der chinesischen Literatur, geben viele Rätsel auf: Wer hat die Sätze zusammengestellt? Stammen sie alle vom Meister Kong Qiu selbst, der um 500 v.Chr. im Staate Lu lebte? Bisher war man sich weitgehend einig, dass es sich um eine eher zufällig entstandene Sammlung von mehr oder weniger verständlichen Sprüchen handelt. Hans van Ess zeigt dagegen, dass sich die Bedeutung am klarsten erschließt, wenn man von einem durchkomponierten Text ausgeht und konsequent den historischen und inhaltlichen Kontext beachtet. Erstmals in deutscher Sprache überwindet er so die christliche und humanistische Rede von "Güte", "Tugend" oder "Riten", die auch noch jüngeren Neuübersetzungen anhaftet, und lässt uns ein Werk neu verstehen, dem es stattdessen um Sensibilität, Persönlichkeit und Höflichkeit ging. Seine instruktiven Kommentare erklären die Übersetzung und lassen die Lehre des Konfuzius in neuem Licht erscheinen.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Mit großem Interesse, insbesondere für die Aktualitätsbezüge, begegnet Rezensent Mark Siemons zwei sehr unterschiedlichen Büchern zu Konfuzius: eine kommentierte Neuübersetzung der "Gespräche" vom Münchner Sinologen Hans van Ess, und ein mit kritischen Begleittexten versehener Vortrag des berühmten amerikanischen Konfuzius-Forschers Tu Weiming. Während in Tu Weimings Vortrag die westliche Perspektive Konfuzius' Gedanken zu überspülen droht, geht es in van Ess' Neuübersetzung deutlich penibler und mit philologischer Detailtreue zu, so Siemons. Manchmal vielleicht etwas zu penibel, lässt er durchblicken, wenn der Sinologe etwa ein Schriftzeichen, das bisher meist mit "Menschlichkeit" übersetzt worden war, etwas krampfhaft zur "Fähigkeit, mit Menschen umgehen zu können" ausdehnt. Das dahintersteckende Anliegen aber, nämlich gerade nicht westliche Kategorien und Begriffe auf das Denken des chinesischen Philosophen zu projizieren, sondern eng am Original zu bleiben, rechnet der Kritiker dem Autor hoch an. Durch van Ess' genauen Begründungen werde die Übersetzung außerdem "überprüfbar" und so sehr nützlich für die weitere internationale Forschung. Was für den Kritiker in Bezug auf die Gegenwart aus dem Text hervorgeht, ist der Gedanke einer "relationalen Menschlichkeit", die je nach Situation anders, mitunter auch widersprüchlich, ausfallen kann und sich so einer Nachahmung durch KI widersetzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2023Klug reden ist noch nicht menschlich
Kann Konfuzius gegen die Verunsicherungen unserer Spezies durch Künstliche Intelligenz helfen? Zwei Neuerscheinungen von Hans van Ess und Tu Weiming geben Anlass, die "Gespräche" wie ein gegenwärtiges Buch zu lesen.
Von Mark Siemons
Vielleicht hätte man von vornherein auf Konfuzius hören sollen, dann hätte man sich einen Teil der Irritation durch ChatGPT erspart. Gerade solche mit Verstand und Sprache verbundenen Fähigkeiten nämlich, die in der westlichen Tradition als Wesensmerkmale des Menschen gelten und deren Nachahmung durch die Künstliche Intelligenz so sehr verunsichert, hält der Meister gar nicht für "menschlich". Gewandte Reden, so heißt es gleich zu Beginn der ihm zugeschriebenen "Gespräche", seien "selten ein Zeichen für Menschlichkeit". Vielmehr zeichne den exemplarischen Menschen, wie er ihn unter dem Titel des "Edlen" vorstellt, aus, dass er zu unterscheiden vermag, wozu er etwas zu sagen hat und wozu er besser schweigt. Konfuzius selbst sagte zum Beispiel ausdrücklich nichts über "Übernatürliches, Körperkraft, über Aufruhr und über Geister". Der Edle lasse sich auch nicht, heißt es anderer Stelle, "wie ein Gefäß hinstellen". Er ist also kein Werkzeug und lässt sich auch nicht als solches benutzen.
Wie diese verstreut wirkenden Sentenzen zusammenhängen, ist erst einmal nicht leicht zu fassen. Doch man ahnt, dass eine andere Art, über Menschliches zu reden, dahinter steht, als man es von den europäischen Versuchen her gewohnt ist, ein Wesen des Menschen zu definieren. Dann wäre diese historische Figur, die 479 vor Christus gestorben sein soll, nicht nur wegen ihres ungeheuren Einflusses auf die Geschichte Chinas interessant, nicht nur als Konfuzianismus also, der ein ganzes System bürokratischer Verwaltung und gesellschaftlicher Normierung hervorgebracht hat - sondern auch für das Verständnis der Gegenwart, als Beitrag zur Frage, was es zwischen Sprachmodellen und Identitätsdiskursen heißen könnte, ein "Mensch" zu sein". "Man empfindet es als ein modernes Buch", hatte schon Elias Canetti über die "Gespräche" gesagt. Zwei Neuerscheinungen, wie sie gegensätzlicher kaum sein können, geben jetzt Gelegenheit, das zu prüfen.
Der Münchener Sinologe Hans van Ess legt im Beck-Verlag eine ausführlich kommentierte und prächtig aufgemachte Neuübersetzung der "Gespräche" vor. Und der in Taipeh lehrende Philosoph Kai Marchal gibt bei Matthes & Seitz unter dem Titel "Menschsein lernen" einen Vortrag von Tu Weiming heraus, einem der berühmtesten amerikanischen Konfuzius-Interpreten. Der 1940 im chinesischen Kunming geborene Philosoph, der in Taiwan aufgewachsen ist und Professor in Harvard, Princeton und Berkeley war, hat in zahlreichen Büchern den Konfuzianismus als einen anschlussfähigen "geistigen Humanismus" vorgestellt. Das Problem ist nur, dass er aus Konfuzius dabei einen westlichen Philosophen macht, der allen Erwartungen an eine anständige westliche Philosophie oder im Zweifel auch Religion entspricht. Für einige der konfuzianischen Motive findet er glückliche Formeln, etwa wenn er die sozialen und familiären Beziehungen, in denen ein Mensch steht, als "ermöglichende Einschränkungen" bezeichnet. Doch an anderen Stellen benutzt er ohne weitere Erklärung voraussetzungsreiche Begriffe der europäischen Tradition, für die es bei Konfuzius gar keine Entsprechung gibt - etwa wenn er behauptet, einer der elementarsten "Grundsätze" des Denkers sei, "Person" werden zu lernen. "Würde, Unabhängigkeit und Autonomie des Selbst" seien im Konfuzianismus hochgeschätzte Werte, und letztlich gehe es ihm um den "Sinn des Lebens" - alles Wörter, die im Westen gleich Vertrauen erwecken, die aber mit den in den "Gesprächen" entwickelten Kategorien nichts zu tun haben.
Tu Weimings Philosophie funktioniert wie ein Katalysator: Dem westlichen Denken werden da mit dessen eigenen Begriffen alte chinesische Motive wie Lernethos und kosmische Verbundenheit schmackhaft gemacht, und gleichzeitig wird die chinesische Gesellschaft mit Konfuzius geködert, um sie an Individualismus und Pluralismus heranzuführen - gewiss ein ehrenwertes Programm, bei dem aber das, was bei Konfuzius eigen ist, ganz unterzugehen droht.
So kommt es nicht von ungefähr, dass unter den kommentierenden Texten, die dem Vortrag von Tu Weiming beigegeben sind, derjenige des Konfuzius-Forschers Hans van Ess besonders kritisch ist. "Tu Weimings Konfuzianismus ist ein Konstrukt", schreibt er, das historischen und philologischen Maßstäben nicht genüge. Er sei bloß eine Utopie, die am ehesten für eine Gelehrtenrepublik tauge. Damit benennt van Ess zugleich die Anforderungen, denen er sich in seinem eigenen Übersetzungswerk stellt: historische und philologische Genauigkeit.
Die zahllosen Konfuzius-Sprüche, die im öffentlichen Raum herumgeistern, seien oft entweder frei erfunden oder durch freie Wiedergabe entstellt, "so dass man sie in China nicht wiedererkennen würde". Um ihnen ihren ursprünglichen Ort wiederzugeben, fügt van Ess jeder einzelnen Sentenz einen Kommentar bei, der die historische Situation rekonstruiert und chinesische Kommentatoren aus verschiedenen Jahrhunderten zu Wort kommen lässt. Anders als die meisten Übersetzer vor ihm hält van Ess die "Gespräche" nicht für eine unzusammenhängende Aphorismensammlung, sondern für einen "bis ins kleinste Detail durchkomponierten Text", was er durch ein Nachwort zu jedem Kapitel zu belegen versucht. Und statt wie früher meist üblich die einzelnen Begriffe je nach Kontext und persönlicher Intuition immer wieder anders zu übersetzen, legt sich van Ess auf immer gleich bleibende Übertragungen fest, die er sorgfältig begründet.
Die Übersetzung wird auf diese Weise überprüfbar, auch für den Austausch mit chinesischen Forschern - ein Vorteil, der dieses Werk für die künftige historische Erhellung des Konfuzius und für alle, die sich ernsthaft mit ihm beschäftigen wollen, unverzichtbar machen dürfte. Doch für die Beantwortung der Frage, was der Meister für das Europa des Jahres 2023 beizutragen hätte, ist es nicht immer hilfreich. Die philologische Detailtreue geht manchmal auf Kosten der thematischen Nachvollziehbarkeit für gegenwärtige Leser. Das wird vor allem bei einem zentralen Schriftzeichen deutlich, das frühere Übersetzer mit "Menschlichkeit" oder "Güte" wiedergegeben haben, van Ess aber mit "Fähigkeit, mit Menschen umgehen zu können". Er kann gute Gründe dafür anführen: Zum einen ist das Zeichen aus den Elementen "Mensch" und "zwei" zusammengesetzt, zum anderen ergibt die Bedeutung der sozialen Kompetenz an all den vielen verschiedenen Stellen, an denen das Zeichen auftaucht, einen plausiblen Sinn. Auch will van Ess zu Recht die christlichen und metaphysischen Überformungen überwinden, die viele frühere Übersetzer wie die Missionare James Legge und Richard Wilhelm dem Text unterworfen haben, und Konfuzius so wieder auf den Boden zurückholen.
Doch selbst wenn die "Gespräche" nun tatsächlich vor allem auf ein vermehrtes Fingerspitzengefühl im sozialen Umgang hinauslaufen sollten, fragt man sich, ob dies nicht erst ihr Resultat ist - und nicht ihr schon durch die Terminologie vorgegebener Ausgangspunkt, zumal die Bedeutung des Zeichens sonst nicht unbedingt auf eine so spezielle Kompetenz eingeengt ist. Die Emphase, mit der Konfuzius den Begriff immer wieder gebraucht, deutet jedenfalls darauf hin, dass es ihm da nicht um etwas Instrumentelles geht, also eine Fähigkeit, die man nach Belieben einsetzen kann, um mit anderen Leuten gut auszukommen, sondern um ein Merkmal, das anzeigt, wie wertvoll man als Mensch ist.
Auch wenn man nicht in die Falle westlicher Projektionen gehen will, braucht man die Kategorie des Menschlichen also nicht zu vermeiden - sie ist gerade das, was Konfuzius heute interessant macht. Wohl aber muss man die Vorstellung vermeiden, dass es ihm dabei um eine Idee oder um ein Prinzip gehe. Wenn man die "Gespräche" wie einen gegenwärtigen Text liest, fällt auf, wie beiläufig, lakonisch und unsystematisch die dort geäußerten Anschauungen vorgebracht werden. An einer Stelle heißt es ausdrücklich: "Der Meister schloss vier Dinge aus: Habt nicht feste Meinungen, wollt nichts unbedingt, seid nicht starr, seid nicht auf euch selbst bezogen!" Von übertriebenem Denken hatte er ohnehin keine hohe Meinung. Als man ihm von jemandem erzählte, der immer dreimal nachdachte, bevor er handelte, sagte er nur: "Zweimal hätte es auch getan." Mit den Weisheiten für alle Lebenslagen, für die Konfuzius heute gemeinhin verantwortlich gemacht wird, hat diese Lockerheit nicht viel zu tun, und auch nicht mit dem erstarrten Hierarchiedenken des späteren Staatskonfuzianismus.
Negativ gesagt, setzen sich seine Lehren nicht der systematischen Begründungspflicht aus, wie sie für die westliche Philosophie selbstverständlich ist. Doch daraus folgt keine Beliebigkeit, erst recht kein Opportunismus. Wenn Konfuzius sagt: "Einen guten Menschen, den habe ich nie zu Gesicht bekommen", geht er offensichtlich von hohen moralischen Maßstäben aus, die er dann allerdings schon im nächsten Satz mit der vorgefundenen Wirklichkeit vermittelt: "Könnte ich einen zu Gesicht bekommen, der Beständigkeit aufweist, wäre das auch schon etwas." Was hält diese disparaten Elemente zusammen? Die Dialoge und Sentenzen wechseln ab mit knappen Auskünften über die Person des Meisters, zum Beispiel: "Im Schlafzimmer lag er nicht wie ein Leichnam." Offenbar soll beides zusammengehören. Konfuzius begründet nicht Gedanken mit weiteren Gedanken, sondern das, was er sagt, mit dem, wie er es sagt, was er selber ist: Seine Art zu reden soll selbst ein Vollzug seiner Lehre sein. Menzius, der wichtigste Nachfolger des Konfuzius, schrieb einmal: "Worte über Menschlichkeit haben lange nicht eine so tiefe Wirkung auf Menschen wie Menschlichkeit, die in der Intonation der Stimme hörbar wird."
Statt also nach einem Prinzip der Menschlichkeit zu fahnden und daraus bestimmte moralische Forderungen abzuleiten, konfrontieren die "Gespräche" den Meister mit unterschiedlichen sozialen Konstellationen, aus denen jeweils fallweise hervorgeht, was menschlich ist. Kein einzelnes äußeres Kriterium, noch nicht einmal die von Konfuzius so geförderte Wertschätzung orientierender Sitten und "Rituale", gilt dabei absolut. Vielmehr liefern die jeweiligen Beziehungen selbst das Kriterium: Menschlich ist jemand, dessen Beziehungen verlässlich und echt sind, der oder die also die Eltern, die Geschwister, den Ehepartner, die Freunde, die Untergebenen und Vorgesetzten, den Fürsten so behandelt, wie es die Eigenart des Verhältnisses und die jeweilige Situation verlangen. Die nichtpathetische, alle Überspanntheiten abwehrende und dabei manchmal inkonsequente Art, mit der Konfuzius spricht, ist dabei selbst ein Beispiel, wie er das Verhältnis zu seinen Schülern aufrichtig ausfüllt. Erst die vielfältigen Beziehungen untereinander und die auf dieser Grundlage gemeinsam getragene Kultur scheinen für Konfuzius die Voraussetzungen für Menschlichkeit zu schaffen - und nicht eine isoliert an abstrakten Prinzipien orientierte Moral. Im Einzelfall kann es da sogar zum Konflikt kommen. Als ihm einmal von einem Mann berichtet wurde, der die Geradheit in Person sei, weil er bezeugte, dass sein Vater ein Schaf gestohlen hat, antwortete Konfuzius: "In meinem Sprengel versteht man etwas anderes unter Geradheit. Der Vater verbirgt die Fehler seines Sohnes, der Sohn diejenigen seines Vaters."
Wie immer man sich zu einer solch relationalen Menschlichkeit verhält - von einem Computer dürfte sie nicht kopiert werden können. Konfuzius würde sagen: Eine Intelligenz ohne Eltern stellt für das Selbstbewusstsein der Menschen kein Kränkungsrisiko dar.
Konfuzius: "Gespräche". Neu übersetzt und kommentiert von Hans van Ess. C.H.Beck, 816 Seiten, 48 Euro. Tu Weiming: "Menschsein lernen. Entwurf eines Humanismus im konfuzianischen Geist". Herausgegeben von Kai Marchal. Matthes & Seitz, 155 Seiten, 15 Euro.
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Kann Konfuzius gegen die Verunsicherungen unserer Spezies durch Künstliche Intelligenz helfen? Zwei Neuerscheinungen von Hans van Ess und Tu Weiming geben Anlass, die "Gespräche" wie ein gegenwärtiges Buch zu lesen.
Von Mark Siemons
Vielleicht hätte man von vornherein auf Konfuzius hören sollen, dann hätte man sich einen Teil der Irritation durch ChatGPT erspart. Gerade solche mit Verstand und Sprache verbundenen Fähigkeiten nämlich, die in der westlichen Tradition als Wesensmerkmale des Menschen gelten und deren Nachahmung durch die Künstliche Intelligenz so sehr verunsichert, hält der Meister gar nicht für "menschlich". Gewandte Reden, so heißt es gleich zu Beginn der ihm zugeschriebenen "Gespräche", seien "selten ein Zeichen für Menschlichkeit". Vielmehr zeichne den exemplarischen Menschen, wie er ihn unter dem Titel des "Edlen" vorstellt, aus, dass er zu unterscheiden vermag, wozu er etwas zu sagen hat und wozu er besser schweigt. Konfuzius selbst sagte zum Beispiel ausdrücklich nichts über "Übernatürliches, Körperkraft, über Aufruhr und über Geister". Der Edle lasse sich auch nicht, heißt es anderer Stelle, "wie ein Gefäß hinstellen". Er ist also kein Werkzeug und lässt sich auch nicht als solches benutzen.
Wie diese verstreut wirkenden Sentenzen zusammenhängen, ist erst einmal nicht leicht zu fassen. Doch man ahnt, dass eine andere Art, über Menschliches zu reden, dahinter steht, als man es von den europäischen Versuchen her gewohnt ist, ein Wesen des Menschen zu definieren. Dann wäre diese historische Figur, die 479 vor Christus gestorben sein soll, nicht nur wegen ihres ungeheuren Einflusses auf die Geschichte Chinas interessant, nicht nur als Konfuzianismus also, der ein ganzes System bürokratischer Verwaltung und gesellschaftlicher Normierung hervorgebracht hat - sondern auch für das Verständnis der Gegenwart, als Beitrag zur Frage, was es zwischen Sprachmodellen und Identitätsdiskursen heißen könnte, ein "Mensch" zu sein". "Man empfindet es als ein modernes Buch", hatte schon Elias Canetti über die "Gespräche" gesagt. Zwei Neuerscheinungen, wie sie gegensätzlicher kaum sein können, geben jetzt Gelegenheit, das zu prüfen.
Der Münchener Sinologe Hans van Ess legt im Beck-Verlag eine ausführlich kommentierte und prächtig aufgemachte Neuübersetzung der "Gespräche" vor. Und der in Taipeh lehrende Philosoph Kai Marchal gibt bei Matthes & Seitz unter dem Titel "Menschsein lernen" einen Vortrag von Tu Weiming heraus, einem der berühmtesten amerikanischen Konfuzius-Interpreten. Der 1940 im chinesischen Kunming geborene Philosoph, der in Taiwan aufgewachsen ist und Professor in Harvard, Princeton und Berkeley war, hat in zahlreichen Büchern den Konfuzianismus als einen anschlussfähigen "geistigen Humanismus" vorgestellt. Das Problem ist nur, dass er aus Konfuzius dabei einen westlichen Philosophen macht, der allen Erwartungen an eine anständige westliche Philosophie oder im Zweifel auch Religion entspricht. Für einige der konfuzianischen Motive findet er glückliche Formeln, etwa wenn er die sozialen und familiären Beziehungen, in denen ein Mensch steht, als "ermöglichende Einschränkungen" bezeichnet. Doch an anderen Stellen benutzt er ohne weitere Erklärung voraussetzungsreiche Begriffe der europäischen Tradition, für die es bei Konfuzius gar keine Entsprechung gibt - etwa wenn er behauptet, einer der elementarsten "Grundsätze" des Denkers sei, "Person" werden zu lernen. "Würde, Unabhängigkeit und Autonomie des Selbst" seien im Konfuzianismus hochgeschätzte Werte, und letztlich gehe es ihm um den "Sinn des Lebens" - alles Wörter, die im Westen gleich Vertrauen erwecken, die aber mit den in den "Gesprächen" entwickelten Kategorien nichts zu tun haben.
Tu Weimings Philosophie funktioniert wie ein Katalysator: Dem westlichen Denken werden da mit dessen eigenen Begriffen alte chinesische Motive wie Lernethos und kosmische Verbundenheit schmackhaft gemacht, und gleichzeitig wird die chinesische Gesellschaft mit Konfuzius geködert, um sie an Individualismus und Pluralismus heranzuführen - gewiss ein ehrenwertes Programm, bei dem aber das, was bei Konfuzius eigen ist, ganz unterzugehen droht.
So kommt es nicht von ungefähr, dass unter den kommentierenden Texten, die dem Vortrag von Tu Weiming beigegeben sind, derjenige des Konfuzius-Forschers Hans van Ess besonders kritisch ist. "Tu Weimings Konfuzianismus ist ein Konstrukt", schreibt er, das historischen und philologischen Maßstäben nicht genüge. Er sei bloß eine Utopie, die am ehesten für eine Gelehrtenrepublik tauge. Damit benennt van Ess zugleich die Anforderungen, denen er sich in seinem eigenen Übersetzungswerk stellt: historische und philologische Genauigkeit.
Die zahllosen Konfuzius-Sprüche, die im öffentlichen Raum herumgeistern, seien oft entweder frei erfunden oder durch freie Wiedergabe entstellt, "so dass man sie in China nicht wiedererkennen würde". Um ihnen ihren ursprünglichen Ort wiederzugeben, fügt van Ess jeder einzelnen Sentenz einen Kommentar bei, der die historische Situation rekonstruiert und chinesische Kommentatoren aus verschiedenen Jahrhunderten zu Wort kommen lässt. Anders als die meisten Übersetzer vor ihm hält van Ess die "Gespräche" nicht für eine unzusammenhängende Aphorismensammlung, sondern für einen "bis ins kleinste Detail durchkomponierten Text", was er durch ein Nachwort zu jedem Kapitel zu belegen versucht. Und statt wie früher meist üblich die einzelnen Begriffe je nach Kontext und persönlicher Intuition immer wieder anders zu übersetzen, legt sich van Ess auf immer gleich bleibende Übertragungen fest, die er sorgfältig begründet.
Die Übersetzung wird auf diese Weise überprüfbar, auch für den Austausch mit chinesischen Forschern - ein Vorteil, der dieses Werk für die künftige historische Erhellung des Konfuzius und für alle, die sich ernsthaft mit ihm beschäftigen wollen, unverzichtbar machen dürfte. Doch für die Beantwortung der Frage, was der Meister für das Europa des Jahres 2023 beizutragen hätte, ist es nicht immer hilfreich. Die philologische Detailtreue geht manchmal auf Kosten der thematischen Nachvollziehbarkeit für gegenwärtige Leser. Das wird vor allem bei einem zentralen Schriftzeichen deutlich, das frühere Übersetzer mit "Menschlichkeit" oder "Güte" wiedergegeben haben, van Ess aber mit "Fähigkeit, mit Menschen umgehen zu können". Er kann gute Gründe dafür anführen: Zum einen ist das Zeichen aus den Elementen "Mensch" und "zwei" zusammengesetzt, zum anderen ergibt die Bedeutung der sozialen Kompetenz an all den vielen verschiedenen Stellen, an denen das Zeichen auftaucht, einen plausiblen Sinn. Auch will van Ess zu Recht die christlichen und metaphysischen Überformungen überwinden, die viele frühere Übersetzer wie die Missionare James Legge und Richard Wilhelm dem Text unterworfen haben, und Konfuzius so wieder auf den Boden zurückholen.
Doch selbst wenn die "Gespräche" nun tatsächlich vor allem auf ein vermehrtes Fingerspitzengefühl im sozialen Umgang hinauslaufen sollten, fragt man sich, ob dies nicht erst ihr Resultat ist - und nicht ihr schon durch die Terminologie vorgegebener Ausgangspunkt, zumal die Bedeutung des Zeichens sonst nicht unbedingt auf eine so spezielle Kompetenz eingeengt ist. Die Emphase, mit der Konfuzius den Begriff immer wieder gebraucht, deutet jedenfalls darauf hin, dass es ihm da nicht um etwas Instrumentelles geht, also eine Fähigkeit, die man nach Belieben einsetzen kann, um mit anderen Leuten gut auszukommen, sondern um ein Merkmal, das anzeigt, wie wertvoll man als Mensch ist.
Auch wenn man nicht in die Falle westlicher Projektionen gehen will, braucht man die Kategorie des Menschlichen also nicht zu vermeiden - sie ist gerade das, was Konfuzius heute interessant macht. Wohl aber muss man die Vorstellung vermeiden, dass es ihm dabei um eine Idee oder um ein Prinzip gehe. Wenn man die "Gespräche" wie einen gegenwärtigen Text liest, fällt auf, wie beiläufig, lakonisch und unsystematisch die dort geäußerten Anschauungen vorgebracht werden. An einer Stelle heißt es ausdrücklich: "Der Meister schloss vier Dinge aus: Habt nicht feste Meinungen, wollt nichts unbedingt, seid nicht starr, seid nicht auf euch selbst bezogen!" Von übertriebenem Denken hatte er ohnehin keine hohe Meinung. Als man ihm von jemandem erzählte, der immer dreimal nachdachte, bevor er handelte, sagte er nur: "Zweimal hätte es auch getan." Mit den Weisheiten für alle Lebenslagen, für die Konfuzius heute gemeinhin verantwortlich gemacht wird, hat diese Lockerheit nicht viel zu tun, und auch nicht mit dem erstarrten Hierarchiedenken des späteren Staatskonfuzianismus.
Negativ gesagt, setzen sich seine Lehren nicht der systematischen Begründungspflicht aus, wie sie für die westliche Philosophie selbstverständlich ist. Doch daraus folgt keine Beliebigkeit, erst recht kein Opportunismus. Wenn Konfuzius sagt: "Einen guten Menschen, den habe ich nie zu Gesicht bekommen", geht er offensichtlich von hohen moralischen Maßstäben aus, die er dann allerdings schon im nächsten Satz mit der vorgefundenen Wirklichkeit vermittelt: "Könnte ich einen zu Gesicht bekommen, der Beständigkeit aufweist, wäre das auch schon etwas." Was hält diese disparaten Elemente zusammen? Die Dialoge und Sentenzen wechseln ab mit knappen Auskünften über die Person des Meisters, zum Beispiel: "Im Schlafzimmer lag er nicht wie ein Leichnam." Offenbar soll beides zusammengehören. Konfuzius begründet nicht Gedanken mit weiteren Gedanken, sondern das, was er sagt, mit dem, wie er es sagt, was er selber ist: Seine Art zu reden soll selbst ein Vollzug seiner Lehre sein. Menzius, der wichtigste Nachfolger des Konfuzius, schrieb einmal: "Worte über Menschlichkeit haben lange nicht eine so tiefe Wirkung auf Menschen wie Menschlichkeit, die in der Intonation der Stimme hörbar wird."
Statt also nach einem Prinzip der Menschlichkeit zu fahnden und daraus bestimmte moralische Forderungen abzuleiten, konfrontieren die "Gespräche" den Meister mit unterschiedlichen sozialen Konstellationen, aus denen jeweils fallweise hervorgeht, was menschlich ist. Kein einzelnes äußeres Kriterium, noch nicht einmal die von Konfuzius so geförderte Wertschätzung orientierender Sitten und "Rituale", gilt dabei absolut. Vielmehr liefern die jeweiligen Beziehungen selbst das Kriterium: Menschlich ist jemand, dessen Beziehungen verlässlich und echt sind, der oder die also die Eltern, die Geschwister, den Ehepartner, die Freunde, die Untergebenen und Vorgesetzten, den Fürsten so behandelt, wie es die Eigenart des Verhältnisses und die jeweilige Situation verlangen. Die nichtpathetische, alle Überspanntheiten abwehrende und dabei manchmal inkonsequente Art, mit der Konfuzius spricht, ist dabei selbst ein Beispiel, wie er das Verhältnis zu seinen Schülern aufrichtig ausfüllt. Erst die vielfältigen Beziehungen untereinander und die auf dieser Grundlage gemeinsam getragene Kultur scheinen für Konfuzius die Voraussetzungen für Menschlichkeit zu schaffen - und nicht eine isoliert an abstrakten Prinzipien orientierte Moral. Im Einzelfall kann es da sogar zum Konflikt kommen. Als ihm einmal von einem Mann berichtet wurde, der die Geradheit in Person sei, weil er bezeugte, dass sein Vater ein Schaf gestohlen hat, antwortete Konfuzius: "In meinem Sprengel versteht man etwas anderes unter Geradheit. Der Vater verbirgt die Fehler seines Sohnes, der Sohn diejenigen seines Vaters."
Wie immer man sich zu einer solch relationalen Menschlichkeit verhält - von einem Computer dürfte sie nicht kopiert werden können. Konfuzius würde sagen: Eine Intelligenz ohne Eltern stellt für das Selbstbewusstsein der Menschen kein Kränkungsrisiko dar.
Konfuzius: "Gespräche". Neu übersetzt und kommentiert von Hans van Ess. C.H.Beck, 816 Seiten, 48 Euro. Tu Weiming: "Menschsein lernen. Entwurf eines Humanismus im konfuzianischen Geist". Herausgegeben von Kai Marchal. Matthes & Seitz, 155 Seiten, 15 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sachbuch-Bestenliste von WELT, NZZ, RBB Kultur und ORF im Juni 2023: "Der Sinologe Hans van Ess geht mit seiner kommentierten Neuübersetzung weit über die bisherigen Übertragungen hinaus, indem er die Schlüsselbegriffe des Konfuzius neu deutet."
"Nichts weniger als eine, doch, man darf es so sagen: Sensation."
OE1 Kontext, Günter Kaindlstofer
"Ein Meilenstein in der deutschsprachigen Rezeption der großen chinesischen Weisheitslehren."
OE1 Salzburger Nachtstudio
"Die Gespräche lassen sich wie ein großer Katechismus lesen, und man ist verblüfft, wie überzeugend dieses Lektüreangebot ist."
Fachbuchjournal, Helwig Schmidt-Glintzer
"Das Unterfangen dieser Neuübersetzung verdient jedenfalls Applaus, die Lektüre verspricht auch ohne einschlägiges Vorwissen Erkenntnisgewinn."
Die Presse
"Eine Übertragung der konfuzianischen Gespräche, die neue Maßstäbe setzt."
NZZ Bücher am Sonntag, Manfred Pabst
"Eine ausführlich kommentierte und prächtig aufgemachte Neuübersetzung der 'Gespräche'."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Mark Siemons
"Nichts weniger als eine, doch, man darf es so sagen: Sensation."
OE1 Kontext, Günter Kaindlstofer
"Ein Meilenstein in der deutschsprachigen Rezeption der großen chinesischen Weisheitslehren."
OE1 Salzburger Nachtstudio
"Die Gespräche lassen sich wie ein großer Katechismus lesen, und man ist verblüfft, wie überzeugend dieses Lektüreangebot ist."
Fachbuchjournal, Helwig Schmidt-Glintzer
"Das Unterfangen dieser Neuübersetzung verdient jedenfalls Applaus, die Lektüre verspricht auch ohne einschlägiges Vorwissen Erkenntnisgewinn."
Die Presse
"Eine Übertragung der konfuzianischen Gespräche, die neue Maßstäbe setzt."
NZZ Bücher am Sonntag, Manfred Pabst
"Eine ausführlich kommentierte und prächtig aufgemachte Neuübersetzung der 'Gespräche'."
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Mark Siemons