Juri Felsen, dass dieser Name und sein Werk dem Vergessen einheim fielen und er nicht neben Nabukov oder Proust etwa in Erinnerung blieb, liegt wahrscheinlich daran, dass er in Auschwitz ermordet wurde und vielleicht auch, dass er trotz Emigration die russische Welt und Sprache nie verließ. Der
"russische Proust" ist ein Stempel auf seinem Werk, der sicherlich prägnant hängen bleibt, zumal…mehrJuri Felsen, dass dieser Name und sein Werk dem Vergessen einheim fielen und er nicht neben Nabukov oder Proust etwa in Erinnerung blieb, liegt wahrscheinlich daran, dass er in Auschwitz ermordet wurde und vielleicht auch, dass er trotz Emigration die russische Welt und Sprache nie verließ. Der "russische Proust" ist ein Stempel auf seinem Werk, der sicherlich prägnant hängen bleibt, zumal GETÄUSCHT in Paris spielt und auch Felsen in Paris lebte. Doch las ich den nun durch Rosemarie Tietze ins Deutsche übertragenen Roman mehr als Antwort auf die großen Erzählungen der gefallenen Frauen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Madamé Bovary kam mir in den Sinn, Effi Briest und vor allem Anna Karenina. Eine Gefallene ist die selbstbestimmte von dem namenlosen Tagebuchschreibenden heimgesuchte Ljolja aber nicht. 50 Jahre später als Anna Karenina lässt sie sich seine Gesellschaft gefallen, betont Freundschaft, windet sich auch aus dieser, hat einen launigen geliebten Künstler, einen langweiligen Ehemann hinter sich und vor den Augen des sich als erhabenen Künstler verstehenden Tagebuchschreibers beginnt sie eine Liaison mit einem einfältigen Geschäftsmann in der Pariser Diaspora, während ihre Tante aus Berlin über sie wacht. 50 Jahre später nach Wronskij verweilt der russische Adel nach der Revolution im Exil, umspielt die erworbene Armut mit Anmut und kompensiert sie mit großen sentimentalen Gefühlen. GETÄUSCHT ist diese Sehnsucht nach dem nach Hause kommen in die Arme einer schönen, klugen und schlagfertigen russischen Frau, die ebenso wenig erreichbar bleiben soll wie das vergangene russische Kaiserreich. Obsessiv, selbstmitleidig, nach männlichen Idealen suchend, schreibt sich die Figur durch GETÄUSCHT und lässt immer wieder Lücken, die stolpern lassen, Zweifel sähen, dass die liebestolle Sicht des Schreibenden so hinhaut oder er greift die Zweifel gleich direkt auf und schreibt auf sich herab. Er wäre gern ein charismatischer Liebhaber, manchmal fühlt er sich auch so, wenn er die attraktive und eigensinnige Ljolja umwirbt, insbesondere wenn er zuhause sitzt und wie ein Besessener alle Szenen der Begegnungen nachvollzieht, seinen Gedanken nachhängt über die Liebe, über seine Rivalen und über die Angebetete. Wie attraktiv er von außen betrachtet ist, bleibt der Phantasie der Lesenden überlassen, vielleicht ist er kein Incel, zumal er zwischendurch zwei Geliebte hat, die ihn aber kalt lassen, gerade weil sie ihm nahe kommen, denn das scheint der Figur bewusst, wenn Ljolja es wagen würde, sich außerhalb seiner Phantasie auf ihn einzulassen, würde sie fallen und seine Liebe erkalten. Wären da nicht die Lücken, die Felsen gekonnt setzt in den Tagebucheinträgen, die Zweifel und Distanz, die die Figur und das Publikum immer wieder auf die Frage zurück bringt, was Täuschung ist, wo die Figur sich bewusst und wo sie sich unbewusst etwas vormacht, ob sie überhaupt auf Erfüllung aus ist, oder sich in der Rolle der selbstmitleidigen, zu Bindung und Kontakt kaum fähigen Figur nur allzugut gefällt. Ljolja, eine nicht nur aus heutigem Blick selbstbestimmte, kluge und mit der Liebe spielende Frau, kann sich nicht entscheiden, ob sie sich der großen überhöhten schwierigen Liebe hingeben möchte oder sich in ihre beständige Sicherheit und nährende Form, die aber die Unzulänglichkeit respektieren muss. Doch spielt dabei der Erzähler keine Rolle, ist es der ferne Künstler Sergej, der sie überhöhte und fallen ließ, dann wieder zu sich rief, jedoch kein beständiges Glück bot, sowie ein verlassener verlässlich aber langweilender Ehemann und ein vom Erzähler als einfältig beschrieben und empfundener Rivale, der vor seinen Augen Ljolja nahe kommt, was den Erzähler in Eifersucht, Kampf, Rückzug, Erkalten und erneute Hitze bringt. Andere Frauen erleben ähnliches mit ihm, bei diesen ist er souverän und kalt, wie es vielleicht Ljolja bei ihm ist, weil, so drängt sich ihm auf, das fieberhafte Verliebtsein die Wahrnehmung trübt und schärft. Es steckt noch vieles mehr in diesem auch in Form und Sprache fast zeitlos fieberhaft fließenden und dennoch kalkuliert prazise gesetzten Roman, der im Aufbau streng einer Dreiaktstruktur eines Dramas folgt. Und ich stimme Dana Vowinckel mit ihrem begeisterten Nachwort zu, dass GETÄUSCHT etwas zeitloses hat oder hochaktuell wirkt, dass Felsen mehr zu erzählen weiß über fragile Männlichkeit und darin versteckte Feindseligkeiten gegenüber Frauen als aktuelle Spielarten. Dass sich der Roman trotz der Platzierung in einer russische Diaspora, in der der Autor selbst verkehrte nicht als Emigrationsroman liest, sehe ich etwas anders. Ob es eine jüdische Geschichte ist, verneint Vowinckel entschieden, wenn auch die Geschichte des Autors und seine Vergessenheit damit zu tun haben. Große begeisterte Empfehlung von mir.