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Clemens Meyer schreibt ein Tagebuch über die Gewalten unserer Zeit: Eine Stadt sucht ihren Mörder, Jubel beim Pferderennen, der beste Freund liegt im Hospiz. Ein Hund stirbt. Endlose Zahlenreihen fließen über einen Bildschirm in einer menschenleeren Fabrikhalle. Die psychiatrische Notaufnahme wird zur Endstation einer heillosen Nacht. Roh, unheimlich und geheimnisvoll ist die Welt, durch die wir täglich gehen. Clemens Meyer entwirft Szenen von großer poetischer Kraft und verstörender Klarheit. Ein Jahr lang erkundet er Seelenlandschaften, reale Orte und imaginäre Welten. Er erzählt von Alpträumen, jubelnder Euphorie und dem Irrwitz unseres Lebens.…mehr

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Produktbeschreibung
Clemens Meyer schreibt ein Tagebuch über die Gewalten unserer Zeit: Eine Stadt sucht ihren Mörder, Jubel beim Pferderennen, der beste Freund liegt im Hospiz. Ein Hund stirbt. Endlose Zahlenreihen fließen über einen Bildschirm in einer menschenleeren Fabrikhalle. Die psychiatrische Notaufnahme wird zur Endstation einer heillosen Nacht. Roh, unheimlich und geheimnisvoll ist die Welt, durch die wir täglich gehen. Clemens Meyer entwirft Szenen von großer poetischer Kraft und verstörender Klarheit. Ein Jahr lang erkundet er Seelenlandschaften, reale Orte und imaginäre Welten. Er erzählt von Alpträumen, jubelnder Euphorie und dem Irrwitz unseres Lebens.

Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.

Autorenporträt
Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman »Als wir träumten«, es folgten »Die Nacht, die Lichter. Stories« (2008), »Gewalten. Ein Tagebuch« (2010), der Roman »Im Stein« (2013), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Der Untergang der Äkschn GmbH« (2016) und die Erzählungen »Die stillen Trabanten« (2017). Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. »Im Stein« stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Roman »Die Projektoren« wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2024 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024. Für sein Gesamtwerk erhält Clemens Meyer den Lessing-Preis 2025 des Freistaates Sachsen. Literaturpreise: Lessing-Preis des Freistaates Sachsen 2025 Bayerischer Buchpreis 2024 Klopstock-Preis für neue Literatur 2020 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2018/2019 Premio Salerno Libro d'Europa 2017 Finalist Premio Gregor von Rezzori 2017 Longlist Man Booker International Prize 2017 Mainzer Stadtschreiber 2016 Bremer Literaturpreis 2013 Shortlist Deutscher Buchpreis 2013 Stahl-Literaturpreis, 2010 TAGEWERK-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung, 2009 Preis der Leipziger Buchmesse 2008 Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg, 2007 Märkisches Stipendium für Literatur, 2007 Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2007 Mara-Cassens-Preis, 2006 Rheingau-Literatur-Preis, 2006 Einladung zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, 2006 Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse, 2006 2. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2003 Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 2002 1. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2001
Rezensionen
Träume vom sächsischen Bergland

Öffnungen in die Dunkelheit - Clemens Meyer weiß noch eine Menge von dem, was in Deutschland nach der Wende schnell vergessen wurde

Seit der Hauptbahnhof in Leipzig in ein riesiges Einkaufszentrum umgebaut wurde, kann man dort ewig im Kreis gehen, ohne ein einziges Mal in die Nähe eines Zuges zu kommen. Man kann essen, eine Hose kaufen, man kann trinken oder sich einfach in der Menge verlieren. Gleich neben der großen Treppe, die auf die untere Ebene führt, gibt es eine Bar. Sie hat für niemanden geöffnet, außer für den Schriftsteller Clemens Meyer. Er trifft dort die Toten, seinen Freund Big Boy etwa, aber auch zwei zehnjährige Mädchen, die er nicht sofort zuordnen kann.

Eines der Mädchen weint. "Ich kenne das Gesicht, hab ich es nicht in einer Zeitung gesehen?, nicht nur einmal, aber ich will jetzt nicht drüber nachdenken, zu viel stimmt nicht mehr." Es gibt viele Tote in den Büchern von Clemens Meyer, sie geistern darin herum, tauchen mal hier auf und mal da, beinahe könnte man sagen, sie halten die Bücher zusammen mit ihren klapprigen Erscheinungen.

Der Text über die Bar trägt den Titel "Auf der Suche nach dem sächsischen Bergland". Ein Haus auf der Strecke nach Markkleeberg, das er irgendwann einmal gesehen hat, dieses Haus möchte Meyer wiedersehen. Ein wenig rausfahren aus der Stadt, aber das klappt nicht. Denn er landet immer wieder in dieser Bar. Das sächsische Bergland ist eine Gegend, die einem Paradies noch am nächsten kommt, das von Clemens Meyers Welt aus erreichbar wäre. Aber schon dieser Weg ist zu weit von einem Bahnhof aus, der im Grunde nur aus dieser Bar besteht, in der er eine physische Theologie des Ablasses predigt: "Du zahlst für deine Sünden mit deinem Körper." Das Buch, in dem die Bar das Zentrum ist, heißt "Gewalten". Ein Tagebuch mit einem explodierenden Subjekt. "Gewalten" enthält ein paar der wilderen Experimente mit Rollenprosa, die in deutscher Sprache in der letzten Zeit so angestellt wurden. Aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass dieser junge Mann aus der ehemaligen Zone sich niemals vollständig in die fremden Stimmen verliert. Von seinem großen Roman "Als wir träumten", mit dem Clemens Meyer 2006 debütierte, über den Band mit Storys "Die Nacht, die Lichter" (2008) bis zu "Gewalten" ist da etwas vernehmbar, was nach jemandem klingt, der eine Menge mit seinem Körper bezahlt, dabei aber eine Seele gewonnen hat. Eine Seele, die nicht totgesoffen, nicht kaputtgespritzt wurde, sondern sich so freigeschrieben hat, dass sie sich in "Gewalten" fast schon wieder verlieren kann.

Es gibt da einen Dialog mit einem Mädchenmörder, der an die Grenzen der Vorstellungskraft geht, dabei aber die Grenze zur Identifikation mit dem Sexualverbrecher haargenau nicht überschreitet. "Ich traue mich nicht mehr, mich umzudrehen in meinem Arbeitszimmer. (. . .) Und als ich mich dann doch umdrehe, ist alles leer, und ich höre dich in der Küche hantieren. Das sind Geräusche, die gehen durch Zeiten und Räume."

Diese Zeiten und Räume, auch wenn sie immer wieder nahezu ins Kosmische aufreißen, sind durchaus genau bestimmbar. Der Raum ist Leipzig, näherhin Reudnitz ("ne üble Gegend") im Osten der Stadt. Die Zeiten sind jene Jahre vor und nach der "großen Wende", die Clemens Meyer, Jahrgang 1977, selbst erlebt hat. Mit dem Danie Lenz, der in "Als wir träumten" erzählt, hat er wohl eine Menge gemeinsam.

Dieser Junge, der selbst einsteckt, mehr aber noch mitkriegt, wie andere vor die Hunde gehen, ist einer der großen Zeugen der Transformation im Osten. Seine Freunde heißen Rico oder Pitbull, sie sind Anhänger des Fußballvereins Chemie Leipzig, und während Danie erzählt und erzählt, sterben sie allmählich weg. Ihnen fehlt etwas, das Clemens Meyer in einem beiläufigen Detail über Danie preisgibt: Wenn er Scheiße gebaut hat, dann legt er ein T-Shirt in den Türspalt, denn er weiß, dass seine Mutter die Tür zuschlagen wird, nachdem sie ihn ausgescholten hat. Es ist ihr Versuch, auch ein wenig Härte zu zeigen, aber Danie fängt ihn ab. Die Tür fällt nicht zu, sie bleibt ein wenig offen, wie auch die Zukunft für Danie, der noch nicht ausdrücklich weiß, was der Clemens Meyer der "Gewalten" schon beeindruckend zelebriert: dass man sich in Sprache flüchten kann.

Man muss das wohl einmal verstanden haben, um sich dann in dieser Sprache auch wieder verlieren zu können. Denn das, was bei Meyer aus der "großen Wende" hervorgeht, ist keine einheitliche Welt, schon gar kein glücklich wiedervereinigtes Deutschland, es sind viele Paralleluniversen, zwischen denen er die Portale kennt, die sich manchmal für ihn öffnen. Dann entstehen Texte wie "Auf den Strömen", der in "Gewalten" ungefähr in der Mitte steht und in dem der Schriftsteller Besuch von einem Freund bekommt, der Neues von Trinker-Thilo weiß ("Lässt sich jetzt in den Arsch ficken und lutscht Schwänze") und der aus Deutschland verschwinden möchte. Wenig später rudert der Schriftsteller mit seinem Antiquar auf dem Elstermühlengraben, und dieses Leipzig, das sich von hier aus zu entdecken gibt, wird auf nur wenigen Seiten zu einer sagenhaft dichten, imaginär-historischen Landschaft. "Wie hier rauskommen?"

Es gibt kein Entkommen, nur eine Flucht nach vorn in die Kanalisation der Worte, ein Stapfen durch den Morast der Vorstellungen. Am Ende findet sich vielleicht ein Ausweg in ein "B-Movie der Extraklasse".

Aber auch diese Öffnung führt in die Dunkelheit, wie sich in der vielleicht schmerzhaftesten Szene erweist, die Meyer bisher veröffentlicht hat. Sie trägt den Titel "Palast-Theater" und findet sich in "Als wir träumten" ziemlich weit vorn. In den Trümmern des ausgebrannten Kinos, in das er mit seinem Freund Mark früher immer nachmittags gegangen war, um Filme wie "Der lange Ritt zur Schule", "Zwei außer Rand und Band" oder "Old Surehand" zu sehen, sucht er nun, viele Jahre später, nach dem seit einer Weile verschwundenen Mark. Es ist finster, nur ein Zippo-Feuerzeug wirft ein wenig Licht in das Stockdunkel. Was Meyer hier macht, lässt sich wohl am besten als literarische Überblendung bezeichnen: Er erinnert an den Tod von Winnetou, der in den Armen von Old Shatterhand stirbt, während im Palast-Theater in den hinteren Reihen die Trinker gerade eben mal so zusehen. "Sie klapperten mit den Flaschen und lachten und stanken bis zu uns vor."

Vorne aber sitzen Danie und Mark, zwei Kinder der DDR, die einander viele Jahre später in einer Brandruine noch einmal treffen zu einem letzten Gespräch in der Dunkelheit. Es ist eine Abschiedsszene zwischen einem, der auf "scheiß Zeug" geraten ist, und einem, der den Kopf freibekommen hat. "Weißt du noch, Danie . . ." - "Was?" - "Die Filme, die Fickfilme, Danie. Letzte Reihe." - "Klar, weiß ich noch."

Clemens Meyer weiß eine Menge noch, was in Deutschland schnell vergessen wurde, aber es wäre verfehlt, ihn einfach bei der Verlassenschaft der DDR einzuordnen. Denn dieses Wissen ist durch eine Bar am Leipziger Hauptbahnhof hindurchgegangen, von der aus man an jeden Ort des Universums gelangen kann. Und die vielen Geschäfte drum herum, die sehen plötzlich fremd und unheimlich aus. Zu viel stimmt nicht mehr.

BERT REBHANDL

Clemens Meyer: "Gewalten. Ein Tagebuch". S. Fischer 2010, 224 Seiten, 16,95 Euro. Mit Sascha Hawemann schrieb Meyer das Theaterstück "Sirk the East - Der Traum von Hollywood", das 2011 in Leipzig uraufgeführt wurde.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012

Träume vom sächsischen Bergland

Öffnungen in die Dunkelheit - Clemens Meyer weiß noch eine Menge von dem, was in Deutschland nach der Wende schnell vergessen wurde

Seit der Hauptbahnhof in Leipzig in ein riesiges Einkaufszentrum umgebaut wurde, kann man dort ewig im Kreis gehen, ohne ein einziges Mal in die Nähe eines Zuges zu kommen. Man kann essen, eine Hose kaufen, man kann trinken oder sich einfach in der Menge verlieren. Gleich neben der großen Treppe, die auf die untere Ebene führt, gibt es eine Bar. Sie hat für niemanden geöffnet, außer für den Schriftsteller Clemens Meyer. Er trifft dort die Toten, seinen Freund Big Boy etwa, aber auch zwei zehnjährige Mädchen, die er nicht sofort zuordnen kann.

Eines der Mädchen weint. "Ich kenne das Gesicht, hab ich es nicht in einer Zeitung gesehen?, nicht nur einmal, aber ich will jetzt nicht drüber nachdenken, zu viel stimmt nicht mehr." Es gibt viele Tote in den Büchern von Clemens Meyer, sie geistern darin herum, tauchen mal hier auf und mal da, beinahe könnte man sagen, sie halten die Bücher zusammen mit ihren klapprigen Erscheinungen.

Der Text über die Bar trägt den Titel "Auf der Suche nach dem sächsischen Bergland". Ein Haus auf der Strecke nach Markkleeberg, das er irgendwann einmal gesehen hat, dieses Haus möchte Meyer wiedersehen. Ein wenig rausfahren aus der Stadt, aber das klappt nicht. Denn er landet immer wieder in dieser Bar. Das sächsische Bergland ist eine Gegend, die einem Paradies noch am nächsten kommt, das von Clemens Meyers Welt aus erreichbar wäre. Aber schon dieser Weg ist zu weit von einem Bahnhof aus, der im Grunde nur aus dieser Bar besteht, in der er eine physische Theologie des Ablasses predigt: "Du zahlst für deine Sünden mit deinem Körper." Das Buch, in dem die Bar das Zentrum ist, heißt "Gewalten". Ein Tagebuch mit einem explodierenden Subjekt. "Gewalten" enthält ein paar der wilderen Experimente mit Rollenprosa, die in deutscher Sprache in der letzten Zeit so angestellt wurden. Aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass dieser junge Mann aus der ehemaligen Zone sich niemals vollständig in die fremden Stimmen verliert. Von seinem großen Roman "Als wir träumten", mit dem Clemens Meyer 2006 debütierte, über den Band mit Storys "Die Nacht, die Lichter" (2008) bis zu "Gewalten" ist da etwas vernehmbar, was nach jemandem klingt, der eine Menge mit seinem Körper bezahlt, dabei aber eine Seele gewonnen hat. Eine Seele, die nicht totgesoffen, nicht kaputtgespritzt wurde, sondern sich so freigeschrieben hat, dass sie sich in "Gewalten" fast schon wieder verlieren kann.

Es gibt da einen Dialog mit einem Mädchenmörder, der an die Grenzen der Vorstellungskraft geht, dabei aber die Grenze zur Identifikation mit dem Sexualverbrecher haargenau nicht überschreitet. "Ich traue mich nicht mehr, mich umzudrehen in meinem Arbeitszimmer. (. . .) Und als ich mich dann doch umdrehe, ist alles leer, und ich höre dich in der Küche hantieren. Das sind Geräusche, die gehen durch Zeiten und Räume."

Diese Zeiten und Räume, auch wenn sie immer wieder nahezu ins Kosmische aufreißen, sind durchaus genau bestimmbar. Der Raum ist Leipzig, näherhin Reudnitz ("ne üble Gegend") im Osten der Stadt. Die Zeiten sind jene Jahre vor und nach der "großen Wende", die Clemens Meyer, Jahrgang 1977, selbst erlebt hat. Mit dem Danie Lenz, der in "Als wir träumten" erzählt, hat er wohl eine Menge gemeinsam.

Dieser Junge, der selbst einsteckt, mehr aber noch mitkriegt, wie andere vor die Hunde gehen, ist einer der großen Zeugen der Transformation im Osten. Seine Freunde heißen Rico oder Pitbull, sie sind Anhänger des Fußballvereins Chemie Leipzig, und während Danie erzählt und erzählt, sterben sie allmählich weg. Ihnen fehlt etwas, das Clemens Meyer in einem beiläufigen Detail über Danie preisgibt: Wenn er Scheiße gebaut hat, dann legt er ein T-Shirt in den Türspalt, denn er weiß, dass seine Mutter die Tür zuschlagen wird, nachdem sie ihn ausgescholten hat. Es ist ihr Versuch, auch ein wenig Härte zu zeigen, aber Danie fängt ihn ab. Die Tür fällt nicht zu, sie bleibt ein wenig offen, wie auch die Zukunft für Danie, der noch nicht ausdrücklich weiß, was der Clemens Meyer der "Gewalten" schon beeindruckend zelebriert: dass man sich in Sprache flüchten kann.

Man muss das wohl einmal verstanden haben, um sich dann in dieser Sprache auch wieder verlieren zu können. Denn das, was bei Meyer aus der "großen Wende" hervorgeht, ist keine einheitliche Welt, schon gar kein glücklich wiedervereinigtes Deutschland, es sind viele Paralleluniversen, zwischen denen er die Portale kennt, die sich manchmal für ihn öffnen. Dann entstehen Texte wie "Auf den Strömen", der in "Gewalten" ungefähr in der Mitte steht und in dem der Schriftsteller Besuch von einem Freund bekommt, der Neues von Trinker-Thilo weiß ("Lässt sich jetzt in den Arsch ficken und lutscht Schwänze") und der aus Deutschland verschwinden möchte. Wenig später rudert der Schriftsteller mit seinem Antiquar auf dem Elstermühlengraben, und dieses Leipzig, das sich von hier aus zu entdecken gibt, wird auf nur wenigen Seiten zu einer sagenhaft dichten, imaginär-historischen Landschaft. "Wie hier rauskommen?"

Es gibt kein Entkommen, nur eine Flucht nach vorn in die Kanalisation der Worte, ein Stapfen durch den Morast der Vorstellungen. Am Ende findet sich vielleicht ein Ausweg in ein "B-Movie der Extraklasse".

Aber auch diese Öffnung führt in die Dunkelheit, wie sich in der vielleicht schmerzhaftesten Szene erweist, die Meyer bisher veröffentlicht hat. Sie trägt den Titel "Palast-Theater" und findet sich in "Als wir träumten" ziemlich weit vorn. In den Trümmern des ausgebrannten Kinos, in das er mit seinem Freund Mark früher immer nachmittags gegangen war, um Filme wie "Der lange Ritt zur Schule", "Zwei außer Rand und Band" oder "Old Surehand" zu sehen, sucht er nun, viele Jahre später, nach dem seit einer Weile verschwundenen Mark. Es ist finster, nur ein Zippo-Feuerzeug wirft ein wenig Licht in das Stockdunkel. Was Meyer hier macht, lässt sich wohl am besten als literarische Überblendung bezeichnen: Er erinnert an den Tod von Winnetou, der in den Armen von Old Shatterhand stirbt, während im Palast-Theater in den hinteren Reihen die Trinker gerade eben mal so zusehen. "Sie klapperten mit den Flaschen und lachten und stanken bis zu uns vor."

Vorne aber sitzen Danie und Mark, zwei Kinder der DDR, die einander viele Jahre später in einer Brandruine noch einmal treffen zu einem letzten Gespräch in der Dunkelheit. Es ist eine Abschiedsszene zwischen einem, der auf "scheiß Zeug" geraten ist, und einem, der den Kopf freibekommen hat. "Weißt du noch, Danie . . ." - "Was?" - "Die Filme, die Fickfilme, Danie. Letzte Reihe." - "Klar, weiß ich noch."

Clemens Meyer weiß eine Menge noch, was in Deutschland schnell vergessen wurde, aber es wäre verfehlt, ihn einfach bei der Verlassenschaft der DDR einzuordnen. Denn dieses Wissen ist durch eine Bar am Leipziger Hauptbahnhof hindurchgegangen, von der aus man an jeden Ort des Universums gelangen kann. Und die vielen Geschäfte drum herum, die sehen plötzlich fremd und unheimlich aus. Zu viel stimmt nicht mehr.

BERT REBHANDL

Clemens Meyer: "Gewalten. Ein Tagebuch". S. Fischer 2010, 224 Seiten, 16,95 Euro. Mit Sascha Hawemann schrieb Meyer das Theaterstück "Sirk the East - Der Traum von Hollywood", das 2011 in Leipzig uraufgeführt wurde.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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