Kollektive Gewalt ist Gewalt im Wir-Modus. Thema dieses Bandes sind solche Phänomene kollektiver Gewalt, die sich spontan und ungeplant ereignen. Die Frage lautet, wie "ganz normale" Männer und auch Frauen in Gruppen und Menschenmengen dazu kommen, gemeinsam Gewalt auszuüben, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben. Diese Prozesse zu untersuchen, haben sich Gewaltforscher/innen aus Soziologie, Geschichte, Ethnologie, Psychologie und Philosophie zur Aufgabe gemacht. Sie ergründen, in welcher Weise kollektive Erlebnisse Gewaltverläufe initiieren, welche gruppenbedingten Erfahrungen Gewalt zu einer selbstverständlichen oder gar "attraktiven" Handlungsoption machen, ob es typische (Verlaufs-)Formen von nicht organisierter Gewalt gibt und wie sich kollektive Gewaltroutinen einspielen. Das Spektrum der behandelten Phänomene reicht dabei von unblutigen Tumulten in einem Theater über Protestgewalt, Lynchmobs und Kriegsgräuel bis hin zu der Entstehung von Volksmilizen und der Radikalisierung von Untergrundorganisationen. In einer Welt, in der Gewalt in weiten Teilen zwar grundsätzlich verurteilt wird, sie aber gleichzeitig omnipräsent zu sein scheint, bietet der vorliegende multi-perspektivische Ansatz unter Einbeziehung sowohl der Ursachen als auch der Phänomenologie unterschiedlichster Gewaltereignisse einen Erklärungsansatz wie auch aktuelle Orientierung.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Licht ins Halbdunkel kollektiver Gewaltphänomene bringt für Rudolf Walther der Sammelband der Soziologen Axel T. Paul und Benjamin Schwalb, der 14 Beiträge und unterschiedliche Perspektiven auf das Thema vereint. Nach einer Definition der Begriffe Gewaltmassen und Massengewalt wird Walther bewusst, wie vielfältig die Formen kollektiver Gewalt und ebenso ihrer Analyseprobleme sind und dass dogmatisch-fundamentalistische Erklärungen allein nicht greifen. Wenig überzeugt zeigt sich der Rezensent, wenn einige der Beiträger das Phänomen allein aufgrund von Fotografien oder mit nur geringer analytischer Erfahrung zu erfassen versuchen. Fasziniert hingegen liest er den Beitrag des Soziologen Ferdinand Sutterlüty, der die sozialstrukturellen Bedingungen und Ursachen des Gewaltgeschehens bei urbanen Riots untersucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.02.2016„Tanz
in der Flamme“
Ein Sammelband analysiert die Gewalt der Massen
„Gewalt“ ist ein amorpher Begriff und „Masse“ nicht minder. Die Soziologen Axel T. Paul und Benjamin Schwalb präsentieren im ihrem Sammelband 14 Beiträge, die das Phänomen kollektiver Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Das Vorwort der Herausgeber und der einleitende Aufsatz von Axel T. Paul machen deutlich, wie die erste soziologische Untersuchung über Massen, diejenige unter dem Titel „Psychologie der Massen“ (1895) von Gustave Le Bon (1841 bis 1931), die rationale Diskussion über Massen mit reaktionären Vorurteilen und kulturpessimistischen Ressentiments belastet hat. Für Le Bons Annahmen einer genuin „irrationalen Massenseele“ oder einer „Entindividualisierung“ des Subjekts in und durch die Masse gibt es keine konsistente Begründung. Die heutige Soziologie kann damit so wenig anfangen wie mit rassistischen und elitären Untertönen in Le Bons Theorie.
Am Anfang des Bandes stehen deshalb abgrenzende Definitionen: „Unter Gewaltmassen verstehen wir nicht-organisierte, darum jedoch nicht unbedingt unstrukturierte Kollektive kopräsenter Akteure, die gemeinschaftlich, deswegen jedoch nicht planvoll, physische Gewalt gegenüber Dritten ausüben.“ Der Begriff meint „ein besonderes Täterkollektiv, auch wenn die Gewalt in der Regel mehr als nur ein einzelnes Opfer trifft, und indiziert zugleich, dass die gewalttätige Gruppe sich außerhalb formaler Strukturen bewegt oder zumindest über diese hinwegsetzt“.
Die Erforschung kollektiver Gewalt hat sich bis heute fast ausschließlich für die Ursachen für Gewalt- und Protestformen interessiert, aber nur sehr bedingt für die Entstehung, Praxis und Dynamik der Gewalt selbst. Wenn man die Bandbreite kollektiver Gewaltanwendung von unblutigen Demonstrationen über Tumulte, Lynchmobs bis zu Kriegsgräueln, Volksmilizen und Terrorbanden betrachtet, ahnt man schon, wie vielfältig sich die analytischen Probleme präsentieren. Die Beispiele zeigen auf jeden Fall, dass dogmatisch-fundamentalistische Erklärungsversuche, die die Vielfalt von Gewaltformen auf eine Wurzel reduzieren, zu kurz greifen.
Jack Katz analysiert in seinem Beitrag die Krawalle in Los Angeles im Jahr 1992, die aus Anlass eines skandalösen Freispruchs für prügelnde Polizisten ausbrachen. Die Unruhen begannen unmittelbar nach der Urteilsverkündung, dauerten vier Tage und forderten 53 Todesopfer. Katz legt den Schwerpunkt seiner Beschreibung der Plünderungen und Brandstiftungen auf das Phänomen der „Unsichtbarkeit“ der Täter, die deshalb in einen „fast magischen Geisteszustand“ versetzt wurden. Die Staatsmacht versteckte sich lange und tauchte erst nach drei Tagen mit einem massiven Aufgebot an Polizisten und Nationalgardisten wieder auf, und überließ so den Krawall seiner Eigendynamik.
Ein anderes Beispiel ist der Vorfall vom 23. Juli 1967 in Detroit, den Stephen Reicher untersucht. In den Streit in einer Bar griff die Polizei ein, was einen fünftägigen „Tanz in der Flamme“ auslöste, der 43 Menschenleben kostete und einen Sachschaden durch Plünderungen in der Höhe von 40 bis 60 Millionen Dollar anrichtete. Reicher interpretiert als teilnehmender Beobachter das Feuer als „Symbol“, an dem sich die „kollektive Identität“ der Menge aufbaute. Die Analyse Reichers ist zwar erzählerisch dicht, überzeugt aber nicht mit Erklärungskraft. Der Autor selbst räumt ein, „fast nichts darüber“ zu wissen, „welche Aspekte der kollektiven Erfahrung einen solchen Effekt“, nämlich die Schaffung einer kollektiven Identität, „hervorbringen“.
Randall Collins beruft sich in seiner Analyse nicht auf Beobachtungen und Zeugenaussagen, sondern auf etwa 1500 Fotos von Konflikt- und Gewaltsituationen, die in einer „Vorwärtspanik“ kulminieren. Das Phänomen, dass sich Demonstranten und Polizei in „Interaktionsrituale“ verwickeln, die die eine oder andere Seite panisch reagieren lassen, ist unbestreitbar. Ob man die Gründe dafür allein an Emotionen von Gesichtsausdrücken auf Fotos und anderen „kulturunabhängigen“ Mustern ablesen kann, erscheint jedoch eher fraglich.
Im Vergleich zu solchen Erklärungsversuchen überzeugt der luzide Beitrag des Soziologen Ferdinand Sutterlüty, der zwar auch von der je spezifischen Situation des Gewaltgeschehens bei urbanen Riots ausgeht, aber die Erklärung kollektiver Gewalt nicht allein daraus ableitet, sondern das Gewaltgeschehen auch auf sozialstrukturelle Bedingungen und Ursachen bezieht, die jenseits des Augenblicks der Gewaltanwendung liegen und die Handelnden mitlenken. Die „Situationsmetaphysik“ (Sutterlüty), wie sie etwa Wolfgang Sofsky betreibt, erschleicht sich ihre Plausibilität durch eine spekulative „schwarze Anthropologie“, für die alle Gewalt gleich ist. Sutterlüty macht dagegen klar, dass Gewalt „immer schon im Raum der Gründe und Rechtfertigungen“ stattfindet, die jenseits scheinbar sich selbst erklärender Gewalt liegen.
Eine Form kollektiver Gewalt dokumentiert auch der hervorragende Aufsatz von Bernd Greiner. Im Vietnamkrieg konnten kleine Gruppen der „Tiger Force“ im Schutz von „Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit“ außerhalb jeder Kontrolle als regelrechte „Killerkommandos“ gegen die vietnamesische Zivilbevölkerung operieren, weil die Vorgesetzten es zuließen: „Ihr seid die Tiger. Und ich erwarte, dass ihr euch wie Tiger benehmt.“ Fazit: Der Sammelband bringt Licht ins Halbdunkel kollektiver Gewalt.
RUDOLF WALTHER
Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband („Aufgreifen, begreifen, angreifen“) erschien 2014 (Oktober-Verlag).
„Ihr seid die Tiger.
Und ich erwarte, dass ihr
euch wie Tiger benehmt.“
Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hg.),
Gewaltmassen.
Über Eigendynamik
und Selbstorganisation
kollektiver Gewalt.
Hamburger Edition 2015. 415 Seiten, 35 Euro.
Als E-Book: 27,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in der Flamme“
Ein Sammelband analysiert die Gewalt der Massen
„Gewalt“ ist ein amorpher Begriff und „Masse“ nicht minder. Die Soziologen Axel T. Paul und Benjamin Schwalb präsentieren im ihrem Sammelband 14 Beiträge, die das Phänomen kollektiver Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven darstellen. Das Vorwort der Herausgeber und der einleitende Aufsatz von Axel T. Paul machen deutlich, wie die erste soziologische Untersuchung über Massen, diejenige unter dem Titel „Psychologie der Massen“ (1895) von Gustave Le Bon (1841 bis 1931), die rationale Diskussion über Massen mit reaktionären Vorurteilen und kulturpessimistischen Ressentiments belastet hat. Für Le Bons Annahmen einer genuin „irrationalen Massenseele“ oder einer „Entindividualisierung“ des Subjekts in und durch die Masse gibt es keine konsistente Begründung. Die heutige Soziologie kann damit so wenig anfangen wie mit rassistischen und elitären Untertönen in Le Bons Theorie.
Am Anfang des Bandes stehen deshalb abgrenzende Definitionen: „Unter Gewaltmassen verstehen wir nicht-organisierte, darum jedoch nicht unbedingt unstrukturierte Kollektive kopräsenter Akteure, die gemeinschaftlich, deswegen jedoch nicht planvoll, physische Gewalt gegenüber Dritten ausüben.“ Der Begriff meint „ein besonderes Täterkollektiv, auch wenn die Gewalt in der Regel mehr als nur ein einzelnes Opfer trifft, und indiziert zugleich, dass die gewalttätige Gruppe sich außerhalb formaler Strukturen bewegt oder zumindest über diese hinwegsetzt“.
Die Erforschung kollektiver Gewalt hat sich bis heute fast ausschließlich für die Ursachen für Gewalt- und Protestformen interessiert, aber nur sehr bedingt für die Entstehung, Praxis und Dynamik der Gewalt selbst. Wenn man die Bandbreite kollektiver Gewaltanwendung von unblutigen Demonstrationen über Tumulte, Lynchmobs bis zu Kriegsgräueln, Volksmilizen und Terrorbanden betrachtet, ahnt man schon, wie vielfältig sich die analytischen Probleme präsentieren. Die Beispiele zeigen auf jeden Fall, dass dogmatisch-fundamentalistische Erklärungsversuche, die die Vielfalt von Gewaltformen auf eine Wurzel reduzieren, zu kurz greifen.
Jack Katz analysiert in seinem Beitrag die Krawalle in Los Angeles im Jahr 1992, die aus Anlass eines skandalösen Freispruchs für prügelnde Polizisten ausbrachen. Die Unruhen begannen unmittelbar nach der Urteilsverkündung, dauerten vier Tage und forderten 53 Todesopfer. Katz legt den Schwerpunkt seiner Beschreibung der Plünderungen und Brandstiftungen auf das Phänomen der „Unsichtbarkeit“ der Täter, die deshalb in einen „fast magischen Geisteszustand“ versetzt wurden. Die Staatsmacht versteckte sich lange und tauchte erst nach drei Tagen mit einem massiven Aufgebot an Polizisten und Nationalgardisten wieder auf, und überließ so den Krawall seiner Eigendynamik.
Ein anderes Beispiel ist der Vorfall vom 23. Juli 1967 in Detroit, den Stephen Reicher untersucht. In den Streit in einer Bar griff die Polizei ein, was einen fünftägigen „Tanz in der Flamme“ auslöste, der 43 Menschenleben kostete und einen Sachschaden durch Plünderungen in der Höhe von 40 bis 60 Millionen Dollar anrichtete. Reicher interpretiert als teilnehmender Beobachter das Feuer als „Symbol“, an dem sich die „kollektive Identität“ der Menge aufbaute. Die Analyse Reichers ist zwar erzählerisch dicht, überzeugt aber nicht mit Erklärungskraft. Der Autor selbst räumt ein, „fast nichts darüber“ zu wissen, „welche Aspekte der kollektiven Erfahrung einen solchen Effekt“, nämlich die Schaffung einer kollektiven Identität, „hervorbringen“.
Randall Collins beruft sich in seiner Analyse nicht auf Beobachtungen und Zeugenaussagen, sondern auf etwa 1500 Fotos von Konflikt- und Gewaltsituationen, die in einer „Vorwärtspanik“ kulminieren. Das Phänomen, dass sich Demonstranten und Polizei in „Interaktionsrituale“ verwickeln, die die eine oder andere Seite panisch reagieren lassen, ist unbestreitbar. Ob man die Gründe dafür allein an Emotionen von Gesichtsausdrücken auf Fotos und anderen „kulturunabhängigen“ Mustern ablesen kann, erscheint jedoch eher fraglich.
Im Vergleich zu solchen Erklärungsversuchen überzeugt der luzide Beitrag des Soziologen Ferdinand Sutterlüty, der zwar auch von der je spezifischen Situation des Gewaltgeschehens bei urbanen Riots ausgeht, aber die Erklärung kollektiver Gewalt nicht allein daraus ableitet, sondern das Gewaltgeschehen auch auf sozialstrukturelle Bedingungen und Ursachen bezieht, die jenseits des Augenblicks der Gewaltanwendung liegen und die Handelnden mitlenken. Die „Situationsmetaphysik“ (Sutterlüty), wie sie etwa Wolfgang Sofsky betreibt, erschleicht sich ihre Plausibilität durch eine spekulative „schwarze Anthropologie“, für die alle Gewalt gleich ist. Sutterlüty macht dagegen klar, dass Gewalt „immer schon im Raum der Gründe und Rechtfertigungen“ stattfindet, die jenseits scheinbar sich selbst erklärender Gewalt liegen.
Eine Form kollektiver Gewalt dokumentiert auch der hervorragende Aufsatz von Bernd Greiner. Im Vietnamkrieg konnten kleine Gruppen der „Tiger Force“ im Schutz von „Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit“ außerhalb jeder Kontrolle als regelrechte „Killerkommandos“ gegen die vietnamesische Zivilbevölkerung operieren, weil die Vorgesetzten es zuließen: „Ihr seid die Tiger. Und ich erwarte, dass ihr euch wie Tiger benehmt.“ Fazit: Der Sammelband bringt Licht ins Halbdunkel kollektiver Gewalt.
RUDOLF WALTHER
Rudolf Walther ist freier Publizist. Sein vierter Essayband („Aufgreifen, begreifen, angreifen“) erschien 2014 (Oktober-Verlag).
„Ihr seid die Tiger.
Und ich erwarte, dass ihr
euch wie Tiger benehmt.“
Axel T. Paul/Benjamin Schwalb (Hg.),
Gewaltmassen.
Über Eigendynamik
und Selbstorganisation
kollektiver Gewalt.
Hamburger Edition 2015. 415 Seiten, 35 Euro.
Als E-Book: 27,99 Euro.
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