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Ein Besuch im Zoo: Anne Dreesbach hat sich die historischen Völkerschauen angesehen
Diese armen Menschen! Kann man ja immer sagen. Wenn man drübersteht, über denen. So Carl Hagenbeck, Tierhändler und Völkeraussteller im großen Stil. In einem Brief von 1882 sprach er von einigen ehemaligen Mitarbeitern als "5 von meinen guten armen Feuerländern". Die waren gerade alle gestorben. Europa hatte ihnen die Masern und die Schwindsucht gebracht. Hagenbeck zeigte sich geknickt: "Sie wissen, daß ich ein Menschenfreund bin", schrieb er einem Geschäftspartner, auch habe in den Zeitungen "nicht all zu Erfreuliches" über die Affäre gestanden. Das habe ihm "allen Muth genommen, mich ferner mit Menschen-Ausstellungen zu befassen".
Menschenfreund, wer wäre das nicht gern, da meldet sich jeder freiwillig in die bunte Schar. Ich und du und Frau Müller, die Kuh, irgendwie gehören wir doch alle zusammen. Der Mensch ist des Menschen Freund, und wenn es irgendwo welche auszuspiekern gibt, so tut man gerne mit: "Big Brother" durchlaufen lassen, eine Maß im Soester Bayernzelt stemmen, Dirndlgirls inklusive. Oder in den Nachrichten mal sich informieren, ob die jeweils aktuellen Katastrophenopfer wohl ihr authentisches Elend in die Kameras erzählen mögen. Im neunzehnten Jahrhundert gab es diese ganzen Errungenschaften noch nicht. Das Mensch-Mensch-Interesse war auf die heimische Ortschaft verwiesen. Manchmal kamen Fremde. Im Wirtshaus rückte man näher heran. Und an besonderen Jubeltagen konnte man in den Zoo oder auf den Jahrmarkt: Völkerschauen bestaunen. Original-Indianer aus Original-Amerika zogen ein und spielten Original-Amerikaner aus Original-Karl-May-Amerika, Flucht vom Marterpfahl garantiert. Rentiere kamen und brachten ihre Wartungslappen mit, und wer gewitzt war wie Hagenbeck, münzte die Wartungslappen zur Show um: echte Eßgewohnheiten vom Polarkreis! Echte Töpfe, Felle, Kinder. Afrikaner aus Afrika kamen, afrikanisch gewandet, zuzüglich afrikanerfarbener Trikots wegen der Warmhaltung. Sollten ja die Erkältungen fernbleiben von ihnen, die Lungenentzündungen und ähnliche Störanfälle.
Die Menschen wollten das sehen, und zwar in Massen. Die durchgeschleusten Exotikträger gehörten zum Alltag. Sie wurden bestaunt, begafft, gern gemocht, angepöbelt, bemitleidet. Wer sie sah, begann zu rotieren. Wer vom bunten Indien träumen mochte, weil er im öden Arbeitsleben stand, benutzte sie zum Träumen. Wer vierzehn war und wen anhimmeln wollte, himmelte die Südseemädchen an; etwa der junge Ringelnatz. Wer gewohnt war, Weltschmerz auszuposaunen, der tat das auch hier; die Rilke, Jahnn und Kerr reichten einander den waidwunden Griffel in die Hand. Letzterer brauchte sogar nur eine Pressemitteilung über einen Unglücksfall, um ins Mitleidsdelirium zu fallen. Als ein Ausstellungsteilnehmer namens Vangadosoppo in Berlin einem Lungenleiden erlag, phantasierte Kerr drauflos: "Er war ein Inder. Er fand das Klima hier zu ruppig. Schwer krank brachte man ihn in die Charité. An einem Lungenleiden verschied er. Fern von der Heimat, fern vom Ganges, fern von den Brüdern. Fern auch vom stillen, tiefen Gottesdienste der Brahmanen. (. . .) Wo Vangadosoppo begraben liegt, ist nicht gemeldet worden. Aber frieren wird er, wo er liegt. Vielleicht liegt er in Schöneberg, vielleicht mehr im Nordwesten, hinter der Chausseestraße. Frieren wird er. Lebe wohl, Vangadosoppo. Lebe wohl. Frieren wirst du."
Souverän demonstrierte hier Kerr, wie wir Europäer seit jeher mit den minderen Völkern umzugehen belieben: Ein kurzer Blick genügt, schon wissen wir alles. Es genügte eine karge Pressemeldung, um alle weltmännische Schreibtischromantik zum Klingen zu bringen: Ferne, Wärme, Brahmanenbrunst, Zivilisationstod. Nur scheinbar wurde der Verstorbene geehrt, faktisch aber binnen weniger Zeilen zu einem duzbaren Klischee umgearbeitet. Das vorliegende Buch stößt auf seinen Schwächepunkt: Nicht etwa kommt die Autorin hier auf die Schwierigkeiten zu sprechen, in die selbst der Bestmeinende sich verstrickt, wenn er alle Menschen ohne näheres Ansehen der Person zu umarmen sucht. Nicht etwa weist sie hier darauf hin, wie auch die Intellektuellenkaste ihre liebgewonnenen Wahrnehmungsverzerrungen hegt und pflegt. Anne Dreesbach konstatiert im Gegenteil: "Kerrs Phantasie und Sensibilität ermöglichten es ihm, sich in Vangadosoppo hineinzuversetzen. Und seine Trauer um jemanden, der so fern der Heimat unter so fremden Umständen gestorben ist, teilten nur wenige Zeitgenossen." So wiederholt sie Kerrs Anmaßung und verdoppelt den Mystizismus: Das Klischee vom armen Wilden erhält seine Legitimation durch das Klischee vom Autor, der qua edler Feinnervigkeit tiefere Einsichten erhält.
In ihrem Buch "Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung ,exotischer' Menschen in Deutschland 1870-1940" weist Anne Dreesbach mit großer Gründlichkeit den weitreichenden Einfluß nach, den die heute fast vergessenen Völkerschauen einst hatten: Es waren dies sehr beliebte Unternehmungen in Zeiten, da die Menschen noch nicht weit verreisten. Die Ausgestellten wurden folkloristische Botschafter ihrer Weltgegend. Heute tun ihre Nachfahren dasselbe: Kriegstänze aufführen, Elefanten reiten, Tomahawks schwingen. Nur können sie dafür zu Hause bleiben. Denn die Freizeitwilligen kommen zu ihnen, sie mögen ihre Phantasien gerne vor Ort projizieren statt in einer Zookulisse.
Sieben Menschentypen macht Anne Dreesbach aus, die seinerzeit erwartet und inszeniert wurden, vom primitiven Feuerländer über den kindlich-wilden Afrikaner bis hin zum mysteriösen Inder, alles sehr gängige Figuren, die wir heutigen, aufgeklärten Menschenfreunde längst durch einen neuen, globalisierten Typus ersetzt haben: das allgegenwärtige Opfer der Ersten Welt. Hier haben die einstmals Wilden ihre Nische in unserer Wahrnehmung gefunden, und ganz wie früher wird die unangefochtene Überlegenheit unserer westlichen Warenwelt vorausgesetzt. Dies ist die unterste Gefühlsebene des Buches, jener Estrich aus Unbehagen, der uns schon beim Wort "Menschenausstellung" überkommt: die Armen! Aus ihrer Heimat herausgerissen wurden sie, und so sie lebend zurückkehrten, führten sie Krankheit und Verderbnis mit sich.
Da ist natürlich manches Wahre dran. Überraschender, interessanter und würdevoller sind allerdings die Geschichten, die oft nur am Rande gestreift werden und die aus den vermeintlichen Opfern wieder Geschäftspartner machen. Keineswegs wurden ja die Auszustellenden aus ihrer Heimat verschleppt und zwangsweise vorgezeigt. Sondern sie handelten Verträge aus, kamen aus Neugierde oder aus Naivität oder weil sie sich überreden ließen. Häufig wurden Artistenfamilien geworben, weil sie das Herumreisen und Ausgestelltwerden schon kannten. Viele von ihnen hatten vielleicht keine ganz klare Vorstellung von den Strapazen, die auf sie zukamen, von den Gefahren. Doch um sie mit unserem süßen Mitleid verkleistern zu können, wissen wir nach diesem Buch zu wenig von ihrer Seite: Wurden die Präsentationen wirklich vorwiegend als demütigend empfunden? Wurde die Demütigung aus finanziellem Interesse bewußt in Kauf genommen? Wie sehr hat eine solche Unternehmung sich wirtschaftlich gelohnt für die Teilnehmer? Anne Dreesbach gibt Auskunft, es habe viele Krankheiten und viel Heimweh gegeben. Aber sie reißt auch Geschichten an, die von Pragmatismus, von ökonomischem Erfolg und von willigen Wiederholungswilden handeln. Über die hätten wir in diesem kennenswerten Buch gerne noch mehr erfahren.
KLAUS UNGERER
Anne Dreesbach: "Gezähmte Wilde". Die Zurschaustellung ,exotischer' Menschen in Deutschland 1870-1940. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005. 371 S., Abb., br., 39,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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"Mit großer Gründlichkeit weist die Autorin den weitreichenden Einfluß nach, den die heute fast vergessenen Völkerschauen einst hatten." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2005)