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Elektronischer Kontaktabbruch: Tina Soliman über Menschen, die verschwinden, und jene, die darunter leiden
Mit neuen Kommunikationsmitteln entstehen neue Wege, diese zu nutzen - und auszunutzen. Ein nicht vorher über Textnachricht angekündigter Telefonanruf wird von jüngeren Leuten mittlerweile oft als aufdringlich angesehen. Heute, wo viele Menschen nicht nur die Telefonnummer des anderen haben, sondern auch auf Instagram, Facebook, Telegram, WhatsApp, FaceTime, Snapchat, TikTok, vielleicht sogar auf LinkedIn, mit ihm verbunden sind, ist das Ablehnen der Kommunikation, wenn sie nicht mehr gewollt ist, komplizierter geworden. Sie muss konsequent auf mehreren Kanälen ignoriert werden, und dieses Verfahren hat einen Namen: "Ghosting".
Von ihm handelt Tina Solimans Buch. "Ghosts" sind Menschen, die untertauchen, aufhören zu kommunizieren, nicht mehr erreichbar sind - und somit einseitig das Ende einer Beziehung entscheiden. Soliman beschreibt anhand von Berichten "Betroffener" sowie Gesprächen mit Psychologen und Soziologen verschiedene Verhaltensmuster und Facetten von Beziehungsangst, die auf Narzissmus, Selbstschutz und einigen anderen Motiven beruhen. Zu Wort kommen Menschen, die verschwinden, wie auch jene, die unter dem Verschwinden leiden: Sie erzählen von den Ursachen eines solchen Kontaktabbruchs und den Folgen des Ghostings, das für manche schwer zu verarbeiten ist.
In pauschalisierendem Tonfall schreibt die Autorin von Beziehungen im digitalen Zeitalter, von denen viele auf Dating-Plattformen entstünden. Die Liebe sterbe einen "Erstickungstod", wenn Gefühle und Nähe durch Algorithmen kalkuliert und berechnet würden. Die "Liebe auf den ersten Blick" sei durch jene "auf den ersten Klick" ersetzt worden. Auf dem Partnermarkt sei das "virtuelle Regal" stets mit weiteren Möglichkeiten - vulgo: Menschen - gefüllt, es gelte das "Bestellprinzip" auch in Beziehungen und die Möglichkeit, eine unpassende Person "retour" zu senden. Laut Soliman und den meisten Wissenschaftlern und Psychologen, die sie bemüht, verbreitet sich Ghosting immer weiter und spiegle das Schicksal von Beziehungen in der Konsumkultur. Wessen Liebe über Online-Dating-Portale begonnen hat, ende oft auf dieselbe Weise: "ereignislos".
Soliman stolpert in ihrem Buch von einem kulturkritischen Gemeinplatz zum nächsten: "Die Liebe kennt keine Algorithmen", es gebe keine Instagram-Filter für das echte Leben, alle seien ständig auf der Suche nach immer besseren Partnern, Oberflächlichkeit und Unzuverlässigkeit seien die Konsequenzen. Dass Online-Dating "Nähe auf Knopfdruck" produziere, ist aber wohl eine bewusste Übertreibung der Autorin. Tinder, OkCupid und ähnliche Netzwerke sind erst mal Kommunikationsplattformen. Nähe entsteht, wenn überhaupt, im Aufeinandertreffen: Das Virtuelle simplifiziert die Verabredung im analogen Leben. Sicher können solche Kontexte das Phänomen des Ghostings vereinfachen und bedingen, doch ohne belastbare Studien und Zahlen wird das Buch mehr eine Sammlung privater Eindrücke denn eine wissenschaftliche Auseinandersetzung.
Vielleicht sind digitale und analoge Verhaltensmuster enger miteinander verwandt als oft angenommen wird. Oberflächlichkeit kann bei der Partnersuche in der Bar, im Freundeskreis oder eben im Internet eine Rolle spielen. Bilder, die Menschen auf Datingplattformen von sich hochladen, sind Selbstinszenierungen: Dass sie täuschen können und die Fotografierten nicht ihr Leben mit Champagnerglas im Whirlpool verbringen, wissen jedoch die meisten User. Und Beziehungspartner, die mal eben Zigaretten kaufen gingen und nie wieder auftauchten, gab es schon lange vor dem Internet.
LILI HERING
Tina Soliman: "Ghosting". Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2019.
358 S., br., 18,- [Euro].
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