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Als die Briten Europa überholten: Tim Blanning erweist sich als guter Führer durch das Zeitalter der Aufklärung.
Von Andreas Kilb
Die Epochendarstellung ist die Königsdisziplin der Geschichtswissenschaft. Sie verlangt nicht nur die umfassendste Recherche, sondern auch die größte Strenge bei der Auswahl des Materials; nirgendwo sonst muss von so viel Erlesenem so vieles wieder aussortiert werden. Auch die Frage der Form ist dabei keine äußerliche, sondern eine Vorentscheidung über den Inhalt. Man kann, wie Fernand Braudel in seiner Geschichte der Mittelmeerwelt unter Philipp II., ein ganzes Zeitalter von einem Ereignis - der Seeschlacht von Lepanto - aus beleuchten oder sich ihm, wie Jürgen Osterhammel in seiner "Verwandlung der Welt", mit einem dichten Netz von Begriffen nähern; je nachdem wird die Darstellung eher einem Wandgemälde mit Tiefensicht oder einem tausendteiligen Puzzle gleichen. Man kann aber auch versuchen, das Anekdotische und das Analytische in eine wie auch immer heikle Balance zu bringen, sodass keins von beiden ein Übergewicht gewinnt. So hält es der britische Historiker Tim Blanning in seinem Buch über den "Aufbruch Europas" zwischen 1648 und 1815, mit allen Vorzügen und Nachteilen, die dieser Mittelweg mit sich bringt. Ein entscheidender Vorzug sei hier gleich genannt: Es ist die unbedingte Lesbarkeit von Blannings Prosa.
Blanning hat seine Darstellung, die im Original bereits 2006 als Teil einer Buchreihe zur europäischen Geschichte erschienen ist, in vier Hauptteile gegliedert: "Leben und Sterben", "Macht", "Religion und Kultur" und "Krieg und Frieden". Es geht also um die Bedingungen des Alltagslebens, die Struktur der Herrschaft, die Vorstellungs- und Ausdruckswelt und die Realgeschichte vom späten siebzehnten bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert - und um die vielfältigen Verbindungen zwischen diesen Sphären. Nicht zufällig steht das Kapitel über "Schlösser und Gärten" im Abschnitt über die Kunst. Bei Blanning blättert man öfter einmal vor und zurück. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch.
Die Friedenskongresse von Osnabrück und Münster und von Wien, zwischen denen Blannings Panorama aufgespannt ist, hatten das Ziel gemeinsam, die europäische Mächtekonstellation nach längerer Zerrüttung wieder in einen stabilen Zustand zu versetzen. Den Vertragsparteien von 1815 ist das für mindestens vier Jahrzehnte gelungen, ihren Vorgängern von 1648 dagegen nicht. Sie hatten, wie Blanning in den Schlusskapiteln zeigt, den Expansionsdrang der französischen Monarchie unterschätzt, die nach der Niederwerfung des Fronde-Aufstands in die Offensive ging. Gut fünfzig Jahre dauerten die Eroberungskriege Ludwigs XIV., ehe mit den Verträgen von Utrecht und Rastatt die Territorien West- und Südeuropas abermals neu verteilt wurden.
Doch dieser Frieden war nicht mehr als ein Zwischenstand in jenem "zweiten Hundertjährigen Krieg" zwischen Frankreich und England, der das Rückgrat von Blannings Erzählung bildet. Als mit dem aufstrebenden Preußen unter Friedrich dem Großen ein neuer Akteur die Bühne betrat, weitete sich der Konflikt auf ganz Europa und durch die überseeischen Besitzungen der Westmächte auf die halbe Welt aus. Napoleon, der zuerst auf Wien, dann nach Berlin und schließlich nach Moskau marschierte, während seine Flotte sich mit den Briten schlug, folgte im Grunde den Spuren des "Sonnenkönigs". Die Französische Revolution hatte ihm den Weg gebahnt, indem sie nach anfänglichen Befreiungsparolen rasch zu einer Politik der militärischen Unterwerfung ihrer Nachbarn überging.
Aber Napoleon und mit ihm Frankreich verlor das hundertjährige Duell der westlichen Großmächte. Die Gründe dafür kann man in Blannings ersten beiden Hauptkapiteln nachlesen. In den anderthalb Jahrhunderten, die seine Darstellung umfasst, wurde Großbritannien vom insularen Außenposten zur politischen und ökonomischen Vormacht Europas. Ein Markstein auf diesem Weg waren die "Turnpike Acts", die die Bewirtschaftung und damit den raschen Ausbau der englischen Fernstraßen ermöglichten, ein weiterer war die Gründung der Bank of England zur Finanzierung der Staatsausgaben, ein dritter die Übernahme der niederländischen Handelsmonopole. Als Samuel Crompton die Spinn- und James Watt die erste Dampfmaschine baute, waren die Strukturen, die ihren Erfindungen zum Erfolg verhalfen, bereits vorhanden. In Spanien und Deutschland dagegen lähmte der Zustand des Straßennetzes, in Frankreich die schikanöse Besteuerung jedes Unternehmertum. Zuletzt zerstörten die Kriege Bonapartes den französischen Überseehandel, während Russland, eine Nation aus Fürsten und Leibeigenen, als Partner der Briten aufblühte.
Dass Blannings Weltbild anglozentristisch ist, lässt sich schwerlich übersehen. Von den Entwicklungen in Südosteuropa, etwa dem Niedergang der Osmanen, nimmt er kaum Notiz, und das politische Deutschland besteht für ihn vor allem aus dem Alten Fritz und seinem habsburgischen Rivalen Joseph II. (über beide hat er Biographien verfasst). Aber diese Mängel werden mehr als aufgewogen durch den souveränen Umgang des Autors mit seinen Quellen. Die Hierarchie des Zitierfähigen, die in der älteren Geschichtswissenschaft galt, ist bei Blanning aufgehoben, er erteilt Reisenden und Dichtern, Buchhändlern und Seuchenopfern gleichberechtigt das Wort und gibt seinem Geschichtstableau so die Farben des Alltags. Unvergesslich der Satz, mit dem ein britischer Flotteninspektor im Jahr 1667 die Überlegenheit der niederländischen Konkurrenz kommentierte: "Ich glaube, der Teufel scheißt Holländer!" Hundert Jahre später sollten es Engländer sein.
Die Schwäche des Buches sind seine Betrachtungen über Kunst und Glauben. Dass das Zeitalter der Aufklärung auch das der Empfindsamkeit war, dass neben den Salons die Höfe und Klöster blühten, dass neben Voltaires "Candide" auch Caserta und Melk entstanden, ist Allgemeinwissen, das durch Blannings Entgegensetzung von Vernunft- und Gefühlskultur nicht neu beleuchtet wird. An dieser Stelle merkt man dem Buch an, dass es schon einige Jahre alt ist. An allen anderen steht es noch immer an der Spitze seines Fachs.
Tim Blanning: "Glanz und Größe". Der Aufbruch Europas 1648 - 1815.
Aus dem Englischen von Richard Barth und Jörn Pinnow.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022. 928 S., Abb., geb., 49,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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