»Die heiligen Schriften der Religionen geben vielen Menschen Halt, Orientierung in Lebensfragen und im Alltag, Trost und Hoffnung. Selbst wenn der Inhalt der Schriften oft nur oberflächlich bekannt ist, stehen sie doch in besonderem Ansehen. Die Vorstellungen von Heiligkeit gehen allerdings weit auseinander, schwanken zwischen tiefer Achtung und vagem Respekt und setzen unterschiedliche Zugänge zu den Schriften voraus. Im Gespräch zwischen den Religionen, insbesondere den sogenannten Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam, sind die Fragen nach der Bedeutung der heiligen Schriften und dem Umgang mit ihnen unumgänglich, da nicht nur die jeweiligen Glaubensüberzeugungen, sondern auch ethische Maßstäbe und Verhaltensregeln aus ihnen gewonnen werden. Dass der Tanach (die Hebräische Bibel), die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament sowie der Koran miteinander »verwandt« sind (das Neue Testament ist ohne die Hebräische Bibel nicht wirklich zu verstehen, und der Koran greift auf beide zurück), macht das Gespräch zwischen den Religionen keineswegs einfacher, denn die Art und Weise des Zugriffs auf die Schriften und die dahinterstehende Hermeneutik unterscheiden sich zum Teil erheblich. Dies gilt auch für die normativen Schriften, die sich daran angelagert haben: die mündliche Tora im Judentum, Lehrschriften und Katechismen im Christentum und die Sunna im Islam. Weil ihnen allen in den jeweiligen Religionen hohe Bedeutung zugeschrieben wird, ist ihre Kenntnis für das interreligiöse Gespräch grundlegend wichtig. Das vorliegende Heft geht dabei nicht auf Einzelfragen ein, sondern befasst sich mit der Frage, was die Besonderheit dieser Schriften ausmacht. Im Kennwort befasst sich Peter Müller mit den beiden Elementen des Begriffs Heilige Schrift. Heiligkeit wird als Beziehungskategorie vorgestellt; sie eignet nicht Dingen, Vorgängen oder Personen als solchen, sondern erweist sich im Verhältnis zu ihnen und wird ihnen zugeschrieben. Dies gilt auch für heilige Schriften. Ihre Heiligkeit bezieht sich zum einen auf den Inhalt der Schriften, zum andere (und oft mehr) auf ihre materiale Existenz. Dies wird anhand der zentralen Texte der drei Religionen näher ausgeführt und auf ihre Vermittlung hin zugespitzt. Auch Konrad Schmid zeigt in seinem Beitrag, dass die Heiligkeit der jüdischen und der christlichen Bibel als Rezeptionsphänomen zu verstehen ist. Bernhard Uhde erinnert in seinem Beitrag zunächst an einen grundlegenden Sachverhalt: »Um den Umgang mit den >Heiligen Schriften< von Religionen zu verstehen, ist die Kenntnis der jeweiligen Religion Voraussetzung«, denn nur aus dieser Kenntnis heraus wird erkennbar, was sich jeweils unterschiedlich mit diesem Begriff verbindet. Nur unter dieser Voraussetzung kann er angemessen verwendet werden. Dies wird an den heiligen Schriften von Judentum und Islam dargelegt. Für die jüdischen Schriften, insbesondere die Tora, ist die Aufforderung zur Vergegenwärtigung zentral: Als Weisung Gottes wird sie als Ansprache an den Menschen verstanden, die nicht lediglich erinnernd gilt, sondern in die jeweils eigene Gegenwart der Lesenden und Hörenden hinein ergeht und aktualisiert werden soll. Für den Koran ist dagegen der Wiederholungsbefehl zentral. DAS Buch enthält nach islamischer Auffassung das vollkommene und zeitlose Wort Gottes, das deswegen keiner Vergegenwärtigung bedarf, sondern der wiederholenden Rezitation. Einen ganz anderen, literarisch orientierten Zugang zum Alten Testament zeigt Yael Almog in ihrem Beitrag auf, und zwar am Beispiel von Johann Gottfried Herders Kommentar zur Hebräischen Bibel. Dieser Kommentar ist charakteristisch für eine Idealisierung der hebräischen Sprache und Poesie, mit der ein Aufschwung der literarischen Interpretation des Alten Testaments einherging. Neben der theologischen Auslegung gewann damit die ästhetische Annäherung an die Schrift Bedeutung. Die »sublime Schönheit« der hebräischen Sprache und die »Strahlkraft« der hebräischen Poesie wurden maßgebend für eine säkulare Hermeneutik, die das Alte Testament als kulturelles Erbe versteht und schätzt.« (Aus dem Vorwort von Peter Müller)
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