Freiheit und Gleichheit sind die zentralen Werte der Moderne. Mit der Französischen Revolution setzt sich die Auffassung durch, dass sie nur gemeinsam bestehen können: Die Möglichkeitsbedingungen der Gleichheit sind auch die der Freiheit; wird die Freiheit unterdrückt, dann auch die Gleichheit. Dieser politischen Denkfigur spürt der französische Philosoph Étienne Balibar in seinen bahnbrechenden Studien nach. Er entwickelt dabei eine ganz neue Sicht der Französischen Revolution, die er nicht auf geschichtliche Vorläufer zurückführt, sondern als tatsächlich revolutionäres Ereignis denkt. Dort wird zum ersten Mal die wechselseitige Bedingtheit von Freiheit und Gleichheit behauptet, die Balibar mit dem Begriff »Gleichfreiheit« (»égaliberté«) zu fassen versucht. Die Idee der Gleichfreiheit wird zum zentralen politischen Motor der Moderne, indem die Menschen gegen die liberale Verkürzung der Freiheit auf Marktbeziehungen Gleichheit oder gegen die sozialistische Bevormundung im Namen der Gleichheit Freiheit einfordern. Mit der Gleichfreiheit ist somit kein bestimmter Endzustand in Aussicht gestellt, sondern ein unauflösliches Spannungsverhältnis in die Welt gesetzt, das immer wieder zur Überschreitung bestehender politischer Ordnungen antreibt. Eine fulminante Analyse der politischen Moderne.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit großem Interesse hat Rezensent Robin Celikates Etienne Balibars neues Buch "Gleichfreiheit" gelesen. In seinen politischen Essays gehe der französische Philosoph und Marxist der Frage nach, was es heiße, heute Bürger zu sein, berichtet der Kritiker. Balibar konstatiere eine nicht aufzulösende Spannung zwischen konstituierender und konstituierter Macht, so Celikates, der hier erfährt, dass der autonome Bürger nicht nur demokratisch regiert werden wolle, sondern auch auf sein Recht auf Selbstbestimmung bestehe. Dies führe nach Balibar zu einer Politik des Aufstands und einer Politik der Verfassung. Darüber hinaus liest der Rezensent hier interessante Thesen zur modernen Verschränkung zwischen Gleichheit und Freiheit: Die nur "formelle Gleichheit" der Vertragsparteien unter kapitalistischen Bedingungen verschleiere etwa deren faktische Ungleichheit und lasse auch die Freiheit der Arbeiter nicht unberührt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2013Staat und Revolution
Passiv, wütend, global – was heißt es heute, Bürger zu sein? Zwei Antworten, zwei Bücher aus Frankreich
Was kann es heute heißen, Bürger zu sein? Hin- und hergerissen zwischen dem postdemokratischen Passivbürger, dem hyperengagierten Wutbürger und dem transkontinentalen Weltbürger, scheinen sich die Subjekte moderner Demokratien in einer Identitätskrise zu befinden. Diagnosen und Therapien finden sich in der zeitgenössischen politischen Theorie – zwei aktuelle kommen aus Frankreich, also jenem Land, in dem der moderne Bürger am Ende des 18. Jahrhunderts die politische Bühne betrat. Étienne Balibar ist dort bereits in jungen Jahren zu einem der wichtigsten Protagonisten der Neuausrichtung des Marxismus geworden. Dabei hat er Marx auf umstrittene Weise die Treue gehalten und dessen Bezugsrahmen zugleich von innen aufgesprengt, indem er als Nebenwidersprüche oder Überbauphänomene klassifizierte Probleme ins Zentrum seines umfangreichen Oeuvres rückte: Nationalismus und Rassismus, die Identität Europas sowie die Menschenrechte, die immer mehr als bloße Schutzvorrichtungen für die Privatinteressen der Bourgeoisie waren.
Für das Verständnis des Schicksals des Citoyen nach 1789 ist dabei vor allem Balibars Diagnose einer Spannung zwischen konstituierender und konstituierter Macht von Bedeutung, also zwischen der Macht der versammelten Bürger, die das alte Regime stürzen und eine neue Ordnung errichten, und den Institutionen des Staates und des Rechts. Diese Spannung lässt sich nicht auflösen: weder in einer etatistischen und legalistischen Verabsolutierung der konstitutierten Macht noch in einer anarchistischen Verabsolutierung der konstituierenden Macht. Bürgerschaft ist für Balibar daher stets mehr als ein von staatlicher Seite verliehener Status. Sie ist zugleich eine kollektive Praxis, in der autonome Bürger, oft zum Schrecken der Machthaber, an die Stelle loyaler Untertanen treten. Der Bürger ist dann nicht nur jemand, der das Recht hat, auf bestimmte Weise – nämlich gut, im Interesse aller etc. – regiert zu werden (und eventuell dagegen zu protestieren, wenn das nicht der Fall ist). Zentral ist vielmehr das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Selbstbestimmung, auf kollektive Selbstregierung. Dieses Recht kann allerdings nie institutionell realisiert werden, es bleibt ein Projekt: Die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht bleibt offen oder muss offen gehalten werden.
Die Bürgerinnen und Bürger sind also immer zugleich Glieder des Staates und mögliche Akteure des Aufstandes gegen den Staat(und insofern revolutionäre Subjekte). Balibar zufolge gibt es aus diesem Grund ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Formen der Politik: einer Politik des Aufstands und einer Politik der Verfassung. Oder, wenn man so will, einer Politik der permanenten, wenn auch meist latenten Revolution und einer Politik des Staates als institutioneller Ordnung, mit der stets auch massive Formen der Marginalisierung und Exklusion einhergehen. Man muss sich nur die Situation in den Ländern des „arabischen Frühlings“ vor Augen führen, um zu wissen, was hier gemeint ist.
Die Figur des Bürgers ist auch der Ort einer zweiten für die politische Moderne charakteristischen Verschränkung: der zwischen Gleichheit und Freiheit. Diese Verschränkung ist so eng, dass Balibar mit dem titelgebenden „Gleichfreiheit“ sogar ein neues Wort einführt, um ihr Rechnung zu tragen. Sie lässt sich allerdings nur ex negativo erkennen: Freiheit und Gleichheit werden immer zusammen negiert. So kaschiert die bloß formelle Gleichheit der Vertragsparteien unter kapitalistischen Bedingungen nicht nur deren faktische Ungleichheit, sondern lässt auch die Freiheit der Arbeiter nicht unangetastet; und die Missachtung der Freiheit im real existierenden Sozialismus unterminierte auch die Gleichheit und schuf eine Ordnung der Privilegien. Diskriminierung, also Verletzungen der Gleichheit, und Unterwerfung, also Verletzungen der Freiheit, gehen stets Hand in Hand.
„Gleichfreiheit“ steht mithin für das, was politische Akteure einklagen, wenn sie Unfreiheit und Ungleichheit bekämpfen. Damit erweisen sich jene Formen sowohl des Liberalismus als auch des Sozialismus als inadäquat, denen zufolge Freiheit und Gleichheit einen Gegensatz bilden. Im unabgeschlossenen Prozess der Demokratisierung der Demokratie bildet die „Gleichfreiheit“ so etwas wie den Horizont emanzipatorischer Kämpfe. Aber auch diese Kämpfe sind Balibar zufolge nicht gegen die Formen der Barbarei gefeit, gegen die sie sich richten, und bedürfen insofern der permanenten Selbstkritik. Gegenstand dieser Kritik muss auch der mit der Idee der Bürgerschaft eng verbundene Mythos des „souveränen Volkes“ sein, der eine Art homogenes Kollektiv mit einheitlichem Willen suggeriert.
Eben dieses Problem – dass unklar bleibt, wer das Subjekt der Demokratie ist – steht auch im Zentrum von Catherine Colliot-Thélènes Buch, das sich zum Ziel setzt, die Demokratie vom demos, also vom Volk zu befreien. Ihres Erachtens lässt sich Demokratie heute nur ohne Volkssouveränität denken. Denn weder existiert das Volk als homogene Einheit noch der Staat als einheitlicher Rahmen für dessen Selbstbestimmung. Der überzeugenden Kritik gemeinschaftszentrierter Demokratievorstellungen stellt sie die Multiplikation der Instanzen und Orte unter- und oberhalb des Staates zur Seite, durch die wir heute beherrscht werden: Expertenkommissionen, globale Unternehmen, EU und Weltbank. Colliot-Thélènes Analyse gerät jedoch zu einer im Gewand des Realismus daherkommenden Verabschiedung des radikalen Versprechens der Demokratie. Ihre durch Max Weber inspirierte Diagnose der Rationalisierung von Herrschaft entzaubert die Demokratie und erkennt dort, wo andere Normen und Werte am Werke sehen, nichts als idealistische Selbsttäuschungen und Mythen.
Aber was bleibt dann noch? An die Stelle der Fiktion des Volkes tritt bei Colliot-Thélène der Bürger als Rechtsperson: Haben wir die Unmöglichkeit demokratischer Selbstbestimmung und die Unvermeidbarkeit von Herrschaft erst einmal anerkannt, so scheint es allein noch möglich, dem Individuum Rechte zuzuerkennen, die es ihm erlauben, sich gegen die Willkür von Herrschaft zur Wehr zu setzen. Positiv zu verbuchen ist dabei die von Colliot-Thélène ins Zentrum gestellte Entgrenzung von Bürgerschaft im Namen gleicher Rechte: Um zum Beispiel hier lebende „Ausländer“ von diesem Status auszuschließen, bedarf es nun eines erhöhten (wenn auch anscheinend nicht ganz so hohen) Begründungsaufwandes. Insofern ist das Rechtssubjekt ohne Zweifel eine emanzipatorische Figur.
Aber die Umstellung hat ihren Preis: Den Bürgern kommt nun eine bloß reaktive (und höchstens in Ausnahmesituationen und sporadisch rebellische) Rolle zu, als kollektiver Akteur haben sie die Bühne der Politik verlassen (oder vielleicht auch nie betreten). Die Forderung nach Gleichheit der Rechte erscheint dann als „der ganze Sinn der modernen Demokratie“. Der ganze Sinn? Hier wird man mit Balibar Einspruch erheben: Demokratische Politik ist immer auch kollektive Praxis und eröffnet als solche Möglichkeiten, den demos jenseits von Einheit und Identität – in seinen verschiedenen Gestalten von Stuttgart über Occupy Wall Street bis zum Tahrir-Platz – zu denken, die bei Colliot-Thélène nur am Rande vorkommen. Demokratie kann es nur im Spannungsverhältnis einer Politik der Konstitution und einer Politik der Insurrektion geben, die sich nicht auf das Verhältnis von Herrschaftsinstanz und Rechtssubjekt reduzieren lassen. Die „Dialektik von Staat und Revolution“ bleibt offen, solange die pluralen Gestalten des demos sie offen halten – auch das ist eine Lektion des Realismus.
ROBIN CELIKATES
Wer aber ist das,
das Subjekt der Demokratie?
Étienne Balibar: Gleichfreiheit. Politische Essays. Aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 258 Seiten, 24,95 Euro.
Catherine Colliot-Thélène: Demokratie ohne Volk. Aus dem Französischen von Ilse Utz. Hamburger Edition, Hamburg 2011.
240 Seiten, 28 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Passiv, wütend, global – was heißt es heute, Bürger zu sein? Zwei Antworten, zwei Bücher aus Frankreich
Was kann es heute heißen, Bürger zu sein? Hin- und hergerissen zwischen dem postdemokratischen Passivbürger, dem hyperengagierten Wutbürger und dem transkontinentalen Weltbürger, scheinen sich die Subjekte moderner Demokratien in einer Identitätskrise zu befinden. Diagnosen und Therapien finden sich in der zeitgenössischen politischen Theorie – zwei aktuelle kommen aus Frankreich, also jenem Land, in dem der moderne Bürger am Ende des 18. Jahrhunderts die politische Bühne betrat. Étienne Balibar ist dort bereits in jungen Jahren zu einem der wichtigsten Protagonisten der Neuausrichtung des Marxismus geworden. Dabei hat er Marx auf umstrittene Weise die Treue gehalten und dessen Bezugsrahmen zugleich von innen aufgesprengt, indem er als Nebenwidersprüche oder Überbauphänomene klassifizierte Probleme ins Zentrum seines umfangreichen Oeuvres rückte: Nationalismus und Rassismus, die Identität Europas sowie die Menschenrechte, die immer mehr als bloße Schutzvorrichtungen für die Privatinteressen der Bourgeoisie waren.
Für das Verständnis des Schicksals des Citoyen nach 1789 ist dabei vor allem Balibars Diagnose einer Spannung zwischen konstituierender und konstituierter Macht von Bedeutung, also zwischen der Macht der versammelten Bürger, die das alte Regime stürzen und eine neue Ordnung errichten, und den Institutionen des Staates und des Rechts. Diese Spannung lässt sich nicht auflösen: weder in einer etatistischen und legalistischen Verabsolutierung der konstitutierten Macht noch in einer anarchistischen Verabsolutierung der konstituierenden Macht. Bürgerschaft ist für Balibar daher stets mehr als ein von staatlicher Seite verliehener Status. Sie ist zugleich eine kollektive Praxis, in der autonome Bürger, oft zum Schrecken der Machthaber, an die Stelle loyaler Untertanen treten. Der Bürger ist dann nicht nur jemand, der das Recht hat, auf bestimmte Weise – nämlich gut, im Interesse aller etc. – regiert zu werden (und eventuell dagegen zu protestieren, wenn das nicht der Fall ist). Zentral ist vielmehr das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Selbstbestimmung, auf kollektive Selbstregierung. Dieses Recht kann allerdings nie institutionell realisiert werden, es bleibt ein Projekt: Die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht bleibt offen oder muss offen gehalten werden.
Die Bürgerinnen und Bürger sind also immer zugleich Glieder des Staates und mögliche Akteure des Aufstandes gegen den Staat(und insofern revolutionäre Subjekte). Balibar zufolge gibt es aus diesem Grund ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Formen der Politik: einer Politik des Aufstands und einer Politik der Verfassung. Oder, wenn man so will, einer Politik der permanenten, wenn auch meist latenten Revolution und einer Politik des Staates als institutioneller Ordnung, mit der stets auch massive Formen der Marginalisierung und Exklusion einhergehen. Man muss sich nur die Situation in den Ländern des „arabischen Frühlings“ vor Augen führen, um zu wissen, was hier gemeint ist.
Die Figur des Bürgers ist auch der Ort einer zweiten für die politische Moderne charakteristischen Verschränkung: der zwischen Gleichheit und Freiheit. Diese Verschränkung ist so eng, dass Balibar mit dem titelgebenden „Gleichfreiheit“ sogar ein neues Wort einführt, um ihr Rechnung zu tragen. Sie lässt sich allerdings nur ex negativo erkennen: Freiheit und Gleichheit werden immer zusammen negiert. So kaschiert die bloß formelle Gleichheit der Vertragsparteien unter kapitalistischen Bedingungen nicht nur deren faktische Ungleichheit, sondern lässt auch die Freiheit der Arbeiter nicht unangetastet; und die Missachtung der Freiheit im real existierenden Sozialismus unterminierte auch die Gleichheit und schuf eine Ordnung der Privilegien. Diskriminierung, also Verletzungen der Gleichheit, und Unterwerfung, also Verletzungen der Freiheit, gehen stets Hand in Hand.
„Gleichfreiheit“ steht mithin für das, was politische Akteure einklagen, wenn sie Unfreiheit und Ungleichheit bekämpfen. Damit erweisen sich jene Formen sowohl des Liberalismus als auch des Sozialismus als inadäquat, denen zufolge Freiheit und Gleichheit einen Gegensatz bilden. Im unabgeschlossenen Prozess der Demokratisierung der Demokratie bildet die „Gleichfreiheit“ so etwas wie den Horizont emanzipatorischer Kämpfe. Aber auch diese Kämpfe sind Balibar zufolge nicht gegen die Formen der Barbarei gefeit, gegen die sie sich richten, und bedürfen insofern der permanenten Selbstkritik. Gegenstand dieser Kritik muss auch der mit der Idee der Bürgerschaft eng verbundene Mythos des „souveränen Volkes“ sein, der eine Art homogenes Kollektiv mit einheitlichem Willen suggeriert.
Eben dieses Problem – dass unklar bleibt, wer das Subjekt der Demokratie ist – steht auch im Zentrum von Catherine Colliot-Thélènes Buch, das sich zum Ziel setzt, die Demokratie vom demos, also vom Volk zu befreien. Ihres Erachtens lässt sich Demokratie heute nur ohne Volkssouveränität denken. Denn weder existiert das Volk als homogene Einheit noch der Staat als einheitlicher Rahmen für dessen Selbstbestimmung. Der überzeugenden Kritik gemeinschaftszentrierter Demokratievorstellungen stellt sie die Multiplikation der Instanzen und Orte unter- und oberhalb des Staates zur Seite, durch die wir heute beherrscht werden: Expertenkommissionen, globale Unternehmen, EU und Weltbank. Colliot-Thélènes Analyse gerät jedoch zu einer im Gewand des Realismus daherkommenden Verabschiedung des radikalen Versprechens der Demokratie. Ihre durch Max Weber inspirierte Diagnose der Rationalisierung von Herrschaft entzaubert die Demokratie und erkennt dort, wo andere Normen und Werte am Werke sehen, nichts als idealistische Selbsttäuschungen und Mythen.
Aber was bleibt dann noch? An die Stelle der Fiktion des Volkes tritt bei Colliot-Thélène der Bürger als Rechtsperson: Haben wir die Unmöglichkeit demokratischer Selbstbestimmung und die Unvermeidbarkeit von Herrschaft erst einmal anerkannt, so scheint es allein noch möglich, dem Individuum Rechte zuzuerkennen, die es ihm erlauben, sich gegen die Willkür von Herrschaft zur Wehr zu setzen. Positiv zu verbuchen ist dabei die von Colliot-Thélène ins Zentrum gestellte Entgrenzung von Bürgerschaft im Namen gleicher Rechte: Um zum Beispiel hier lebende „Ausländer“ von diesem Status auszuschließen, bedarf es nun eines erhöhten (wenn auch anscheinend nicht ganz so hohen) Begründungsaufwandes. Insofern ist das Rechtssubjekt ohne Zweifel eine emanzipatorische Figur.
Aber die Umstellung hat ihren Preis: Den Bürgern kommt nun eine bloß reaktive (und höchstens in Ausnahmesituationen und sporadisch rebellische) Rolle zu, als kollektiver Akteur haben sie die Bühne der Politik verlassen (oder vielleicht auch nie betreten). Die Forderung nach Gleichheit der Rechte erscheint dann als „der ganze Sinn der modernen Demokratie“. Der ganze Sinn? Hier wird man mit Balibar Einspruch erheben: Demokratische Politik ist immer auch kollektive Praxis und eröffnet als solche Möglichkeiten, den demos jenseits von Einheit und Identität – in seinen verschiedenen Gestalten von Stuttgart über Occupy Wall Street bis zum Tahrir-Platz – zu denken, die bei Colliot-Thélène nur am Rande vorkommen. Demokratie kann es nur im Spannungsverhältnis einer Politik der Konstitution und einer Politik der Insurrektion geben, die sich nicht auf das Verhältnis von Herrschaftsinstanz und Rechtssubjekt reduzieren lassen. Die „Dialektik von Staat und Revolution“ bleibt offen, solange die pluralen Gestalten des demos sie offen halten – auch das ist eine Lektion des Realismus.
ROBIN CELIKATES
Wer aber ist das,
das Subjekt der Demokratie?
Étienne Balibar: Gleichfreiheit. Politische Essays. Aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2012. 258 Seiten, 24,95 Euro.
Catherine Colliot-Thélène: Demokratie ohne Volk. Aus dem Französischen von Ilse Utz. Hamburger Edition, Hamburg 2011.
240 Seiten, 28 Euro.
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