Eigentlich will Isabelle, die Abteilungsleiterin eines Altersheims, nur zum Flughafen, um einer Freundin in den Urlaub nach Stromboli nachzureisen. Doch dann geschieht etwas, das ihre Pläne und ihr Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. Denn der höfliche ältere Herr, der ihr am Bahnhof zum Flughafen anbietet, ihren Koffer die Treppe zu den Gleisen hochzutragen, bricht, oben angekommen, plötzlich tot zusammen. Isabelle muss daraufhin ihren Abflug notgedrungen verschieben. Wieder zuhause in ihrer Wohnung angekommen, merkt sie allerdings, dass sie im Grunde gar nicht mehr verreisen möchte. Denn sie fühlt sich dem toten Mann verpflichtet, über den sie gerne mehr erfahren möchte. Überdies hat sie in ihrer Verwirrung am Bahnsteig versehentlich eine Mappe des Verstorbenen mitgenommen, in der sich das Handy des Toten befindet. Und während sie noch überlegt, ob sie das Telefon nicht schnellstens zur Polizei bringen sollte, fängt es plötzlich an zu klingeln ... Nach seinem großen Erfolg Es klopft hat Franz Hohler mit Gleis 4 wieder einen höchst raffinierten Roman voller überraschender Kehren und Wendungen geschrieben - ein Lesevergnügen ersten Ranges.
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Franz Hohler geißelt die Schweiz von gestern
Was für unabsehbare Folgen aus harmlosen Alltäglichkeiten entstehen können, beschrieb Franz Kafka prägnant wie kaum ein anderer: Wer einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke folgt, so weiß es sein "Landarzt", gerät in Verstrickungen, die niemals wieder aufzulösen sind. Ganz so fatal geht es bei Franz Hohler zwar nicht zu, doch beginnt sein neuer Roman mit einer Wendung, die an Kafkas geheimnisvolle Szenerien erinnert: ",Darf ich Ihnen den Koffer tragen?' Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden."
Es dauert keine vier Seiten, bis offenbar wird, warum die Altenpflegerin Isabelle die Bitte des freundlichen älteren Herrn im Nachhinein lieber ausgeschlagen hätte: Denn kaum hat er ihren Koffer im Zürcher Vorortbahnhof Oerlikon die Treppe hinaufgetragen, fällt der Fremde auf dem Bahnsteig tot um. Natürlich fühlt sich Isabelle für den Tod des Mannes, der keinerlei Papiere bei sich trägt, verantwortlich. Das Handy des Toten gelangt zufällig in ihr eigenes Gepäck, und als wenig später verschiedene Drohanrufe eintreffen, wird die Szenerie immer geheimnisvoller. So beginnen Kriminalgeschichten, Spionagethriller oder düstere Parabeln.
Freilich wird Franz Hohler auch in seinem jüngsten Roman weder zu einem späten Kafka-Adepten noch zu einem helvetischen Hitchcock. Auch im Jahr seines siebzigsten Geburtstags bleibt er der aufklärerische und kritische Erzähler, als den man ihn kennt. Wieder geht er, wie in so vielen seiner früheren Romane und Erzählungen, streng mit seiner Heimat ins Gericht, geißelt Fremdenhass, bürgerliche Engstirnigkeit und Inhumanität, die im Namen von Sitte und Anstand ausgeübt wird. Stärker noch als mit der eigenen Gegenwart - das heutige Zürich gewinnt in Hohlers Schilderung durchaus sympathische, weltoffene Züge - rechnet er diesmal mit der schweizerischen Sozialpolitik vergangener Zeiten ab.
Denn bald stellt sich heraus, dass der kürzlich Verstorbene in der Schweiz aufwuchs, in jungen Jahren aber illegal nach Kanada ging und sich dort eine solide Existenz aufbaute, ohne je etwas über seine Jugend zu erzählen. Als seine Witwe in Zürich eintrifft, freundet sie sich schnell mit Isabelle an, die zur unfreiwilligen Zeugin seines Todes wurde. Gemeinsam mit Isabelles Tochter, der dunkelhäutigen Jurastudentin Sarah, machen sich die beiden Frauen nun daran, die Lebensgeschichte des Toten aufzudecken.
Die Identitätssuche auf Schweizer Art führt zu Sozialämtern, Bürgerämtern und Bezirksgerichten. Sperrige Begriffe wie "Vormundschaftsbehörde" und "Verschollenheitserklärung" spielen eine wichtige Rolle, eine sympathische Helferin stellt sich als veritable "Gerichtsschreiberstellvertreterin" vor. Bei so viel Bürokratie sorgen ein paar fiese Gestalten - Nachkommen eines noch fieseren Mannes - für Spannung, und schließlich gibt es sogar etwas Voodoo-Zauber und Gegenzauber im genossenschaftlichen Wohnungsbau.
Aber Franz Hohler geht es nicht um das bisschen ethnographischen Hokuspokus, den er als Erzähler selbst nicht allzu ernst nimmt. Stattdessen deckt er Schritt für Schritt die Etappen eines traurigen Lebenslaufs auf. Am Schicksal des Kanadiers Martin Blancpain, der in der Schweiz als Marcel Wyssbrod zur Welt kam, schildert der Erzähler die inhumanen Folgen jener schweizerischen Fürsorgepolitik, die noch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ledigen Müttern ihre Kinder wegnahm, um ihnen die angeblich drohende Verwahrlosung zu ersparen. Im Medium der Detektivgeschichte verbindet Hohler das Anliegen des Sozialaufklärers, der er seit langem ist, mit einigen spannenden, streckenweise auch amüsanten Passagen. Dass etwa die Urne mit den Überresten des Verstorbenen am Ende auf dem Zürcher Flughafen in die Zuständigkeit der Terrorabwehr fällt, ist ein ironisch-makabrer Seitenhieb auf das moderne Sicherheitsbedürfnis.
Sein Lesepublikum stellt Franz Hohler sich offenbar als überwiegend weiblich vor, dafür spricht allein schon das muntere Trio der helvetisch-kanadischen Detektivinnen. Die Männer, von denen der Roman erzählt, sind hingegen entweder üble Spießbürger oder bleiben blasse Nebenfiguren. Der einzige wirklich sympathische unter ihnen, der hilfsbereite Kofferträger, stirbt ja, kaum dass der Roman begonnen hat: schlechte Zeiten für Gentlemen.
SABINE DOERING
Franz Hohler: "Gleis 4". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013. 220 S., geb., 17,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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