In seinem fesselnden Buch, das international für Furore gesorgt hat, wirft Quinn Slobodian einen neuen Blick auf die Geschichte von Freihandel und neoliberaler Globalisierung. Im Mittelpunkt steht dabei eine Gruppe von Ökonomen um Friedrich von Hayek und Wilhelm Röpke, die aus einer Außenseiterposition heraus die Deutungshoheit eroberten. Getrieben von der Angst, nationale Massendemokratien könnten durch Zölle oder Kapitalverkehrskontrollen das reibungslose Funktionieren der Weltwirtschaft stören, bestand ihre Vision darin, den Markt auf der globalen Ebene zu verrechtlichen und so zu schützen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2020Wirklich global sollte der Markt sein
Pläne schmieden, selbst wenn man von Plänen nicht viel hält: Quinn Slobodian untersucht die Gründerväter des Neoliberalismus
"Neoliberalismus" bezeichnet ebenso die Selbstbeschreibung einer Gruppe politischer Ökonomen, die sich 1938 in Paris konstituierte (F.A.Z. vom 29. November 2019), wie einen etwas pauschalen politischen Vorwurf gegen den gegenwärtigen Stand des Kapitalismus und schließlich auch einen Forschungsgegenstand von Ideenhistorikern und Sozialwissenschaftlern, die den Versuch unternehmen, die erste und die zweite Bedeutung miteinander in Verbindung zu bringen. In dieser Arbeitsteilung ist, wie Quinn Slobodian zu Beginn seines Buchs bemerkt, eine Lücke entstanden, weil sich Historiker mehr für die nationale, Sozialwissenschaftler mehr für die internationale Dimension neoliberalen Denkens interessieren. Diese Lücke, die historische Frage, was die Gruppe von Autoren um Mises, Hayek und Röpke zur internationalen Ordnung zu sagen hatte, beansprucht das vorliegende Buch zu schließen - und es erfüllt diesen Anspruch überzeugend.
Dabei ist die Ausgangsthese, entgegen konventioneller Ansicht seien die Neoliberalen gar nicht gegen eine starke Staatsgewalt angetreten, sondern nur gegen demokratische Politik, welche durch internationale Organisationen aufgehalten werden sollte, nicht ganz so neu wie behauptet. Dass die Neoliberalen keine Anti-Etatisten waren, zeigt schon oberflächliche Lektüre und ist als Einsicht erst in politischen Auseinandersetzungen seit den 1980er Jahren und der staatskritischen Rhetorik derer untergegangen, die sich auf diese Autoren berufen haben.
Nichtsdestotrotz will man diese Zusammenhänge genauer kennenlernen, und dieses Bedürfnis bedient Slobodian mit Gründlichkeit und Eleganz. Besonders geglückt ist die Abfolge der Darstellung, in der er die Orte des Geschehens, die Epochen und thematischen Schwerpunkte der Diskussion zwischen den 1920er und den 1990er Jahren schlüssig miteinander verbindet. Mises' in Wien begonnenes Projekt einer Denationalisierung der Wirtschaftspolitik, wandelte sich zwischenzeitlich zu einem massiv empirischen Vorhaben der Erhebung gesamtwirtschaftlicher Daten über das, was man ab einem bestimmten Punkt viel zu selbstverständlich als "Weltwirtschaft" bezeichnet, bevor es dann wieder unter Hayeks Einfluss zu einem vornehmlich institutionellen Anliegen wird, das in den folgenden Generationen Juristen mehr ansprechen wird als Ökonomen. Nicht zuletzt als verklärte Reminiszenz an ein imaginiertes Habsburgerreich, in dem sich verschiedene Nationen unter einem gemeinsamen Eigentumsregime verbunden haben sollen, gerät das Entwerfen von im weitesten Sinne föderalen Strukturen zu einer aggressiven Institutionenpolitik, die sich vom selbstkultivierten Misstrauen gegenüber politischer Planung nicht beirren lässt.
Die institutionellen Projekte, denen sich die Beteiligten namentlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zuwenden, stehen dabei allesamt, so eine für das Buch zentrale Beobachtung, im Schatten der Dekolonialisierung. Der Aufbau einer Welthandelsordnung, gipfelnd in der Gründung der WTO, die Einrichtung eines Systems von Investitionsschutzabkommen, die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und auch die Auseinandersetzung mit der sozial- und entwicklungspolitischen Programmatik der Vereinen Nationen sind durch die Front zwischen Nord und Süd geprägt. Für unterschiedliche Vertreter der neoliberalen Bewegung ergeben sich hier unterschiedliche Anliegen und Kritikpunkte.
Auf der einen Seite sollen die Staaten des Südens durch Einbeziehung in ein globales Marktsystem in ihrer Entwicklung befördert werden. Die hieraus folgende Kritik an der europäischen Agrarpolitik traf damals wie heute zu, ließ sich von manchen Neoliberalen sogar gegen die aus globaler Sicht marktfragmentierende europäische Integration im Ganzen wenden. Auf der anderen Seite war man sich einig, dass die Demokratisierung der Staaten des Südens nicht wünschenswert sei. Die alte liberale Skepsis gegen die Weisheit der Massendemokratie wurde mit rassistischen Stereotypen verstärkt, die namentlich den von den Nationalsozialisten verfolgten Röpke zu einem leidenschaftlichen Befürworter der südafrikanischen Apartheid werden ließen. Diese Asymmetrie ist nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch angelegt, sollte die globale Arbeitsteilung doch nicht etwa zur Industrialisierung des Südens führen, sondern eben vor allem zur Erschließung von Agrarmärkten, während der Norden die Industrie dazu liefert.
Slobodians materialreiche Darstellung, die auch dadurch gewinnt, dass sie, soweit möglich, den baulichen und bildlichen Kontext der Debatten einbezieht, beginnt kompakter, als sie endet. Dies hängt mit dem Verlust an Übersichtlichkeit zusammen, der sich auf dem langen Weg vom frühen Mises und einer kleinen Gruppe von Globalisten, die in Genf Pläne schmiedeten, bis zu den frühen neunziger Jahren einstellt, in denen nicht nur die Welt der Institutionen, sondern auch die Zahl der bekennenden Neoliberalen größer geworden war. Darum geraten die im Buch analysierten Diskussionen im Laufe der Darstellung selbstbezüglicher, namentlich die Frage, was denn der makroökonomische Mainstream mit Problemen und Lösungen der Neoliberalen anfangen kann, kommt aus dem Blick. Am Ende klammert sich Slobodian stark an die Darstellung von Hayeks theoretischem Spätwerk, das als Stück reiner Ideengeschichte durchaus bemerkenswert ist, in dieser politischen Diskurshistoriographie aber etwas erratisch wirkt.
Einige Nachfragen betreffen nicht allein das Buch, sondern die im Moment in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft wieder aufblühende politische Diskursgeschichte im Ganzen. Da wäre zum einen das schwierige Problem der Zurechnung von ideologischem Einfluss auf den konkreten Institutionenaufbau. Waren die Neoliberalen so einflussreich, wie im Buch insinuiert wird, oder hatte die institutionelle Entwicklung andere Ursachen? Offen bleibt auch die Frage nach politischen Bewertungskriterien. Slobodian ist im Ton angenehm zurückhaltend, aber doch in einer Art, die unterstellt, man wisse schon, dass es sich hier letztlich allesamt um böse Buben handle.
Das wird oft plausibel, erscheint aber mitunter auch als Produkt eines unterstellten Konsenses mit seinen Lesern, deren politische Überzeugungen sich der Verfasser zwar ganz anders als, aber ähnlich homogen wie die der beschriebenen Neoliberalen vorzustellen scheint. Schließlich bleibt die Frage nach historischen Vorläufern. Historiker amüsieren sich oft darüber, wie unhistorisch Philosophen Begriffe wie "Liberalismus" ausbuchstabieren. Aber umgekehrt droht mitunter in der neueren Ideengeschichte die Behauptung, theoretische Figuren seien in einem bestimmten Kontext neu oder zumindest anders entstanden, längere Kontinuitäten aus den Augen zu verlieren. Vieles von dem, was Slobodian am neoliberalen Denken für bemerkenswert hält, dürfte sich jedenfalls so, wie er es darstellt, deutlich früher finden. Dass die Neoliberalen Freiheit letztlich instrumentalistisch verstehen, verbindet sie nicht zuletzt mit von ihnen verabscheuten Regulierern wie John Stuart Mill.
Das alles ändert nichts an dem vorzüglichen Eindruck, den ein Buch hinterlässt, das zu einem großen Teil aus deutschsprachigen Quellen schöpft und so zum Schluss noch eine ganz andere Frage provoziert: Was macht eigentlich die deutsche Ideengeschichte?
CHRISTOPH MÖLLERS
Quinn Slobodian: "Globalisten". Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 522 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pläne schmieden, selbst wenn man von Plänen nicht viel hält: Quinn Slobodian untersucht die Gründerväter des Neoliberalismus
"Neoliberalismus" bezeichnet ebenso die Selbstbeschreibung einer Gruppe politischer Ökonomen, die sich 1938 in Paris konstituierte (F.A.Z. vom 29. November 2019), wie einen etwas pauschalen politischen Vorwurf gegen den gegenwärtigen Stand des Kapitalismus und schließlich auch einen Forschungsgegenstand von Ideenhistorikern und Sozialwissenschaftlern, die den Versuch unternehmen, die erste und die zweite Bedeutung miteinander in Verbindung zu bringen. In dieser Arbeitsteilung ist, wie Quinn Slobodian zu Beginn seines Buchs bemerkt, eine Lücke entstanden, weil sich Historiker mehr für die nationale, Sozialwissenschaftler mehr für die internationale Dimension neoliberalen Denkens interessieren. Diese Lücke, die historische Frage, was die Gruppe von Autoren um Mises, Hayek und Röpke zur internationalen Ordnung zu sagen hatte, beansprucht das vorliegende Buch zu schließen - und es erfüllt diesen Anspruch überzeugend.
Dabei ist die Ausgangsthese, entgegen konventioneller Ansicht seien die Neoliberalen gar nicht gegen eine starke Staatsgewalt angetreten, sondern nur gegen demokratische Politik, welche durch internationale Organisationen aufgehalten werden sollte, nicht ganz so neu wie behauptet. Dass die Neoliberalen keine Anti-Etatisten waren, zeigt schon oberflächliche Lektüre und ist als Einsicht erst in politischen Auseinandersetzungen seit den 1980er Jahren und der staatskritischen Rhetorik derer untergegangen, die sich auf diese Autoren berufen haben.
Nichtsdestotrotz will man diese Zusammenhänge genauer kennenlernen, und dieses Bedürfnis bedient Slobodian mit Gründlichkeit und Eleganz. Besonders geglückt ist die Abfolge der Darstellung, in der er die Orte des Geschehens, die Epochen und thematischen Schwerpunkte der Diskussion zwischen den 1920er und den 1990er Jahren schlüssig miteinander verbindet. Mises' in Wien begonnenes Projekt einer Denationalisierung der Wirtschaftspolitik, wandelte sich zwischenzeitlich zu einem massiv empirischen Vorhaben der Erhebung gesamtwirtschaftlicher Daten über das, was man ab einem bestimmten Punkt viel zu selbstverständlich als "Weltwirtschaft" bezeichnet, bevor es dann wieder unter Hayeks Einfluss zu einem vornehmlich institutionellen Anliegen wird, das in den folgenden Generationen Juristen mehr ansprechen wird als Ökonomen. Nicht zuletzt als verklärte Reminiszenz an ein imaginiertes Habsburgerreich, in dem sich verschiedene Nationen unter einem gemeinsamen Eigentumsregime verbunden haben sollen, gerät das Entwerfen von im weitesten Sinne föderalen Strukturen zu einer aggressiven Institutionenpolitik, die sich vom selbstkultivierten Misstrauen gegenüber politischer Planung nicht beirren lässt.
Die institutionellen Projekte, denen sich die Beteiligten namentlich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zuwenden, stehen dabei allesamt, so eine für das Buch zentrale Beobachtung, im Schatten der Dekolonialisierung. Der Aufbau einer Welthandelsordnung, gipfelnd in der Gründung der WTO, die Einrichtung eines Systems von Investitionsschutzabkommen, die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und auch die Auseinandersetzung mit der sozial- und entwicklungspolitischen Programmatik der Vereinen Nationen sind durch die Front zwischen Nord und Süd geprägt. Für unterschiedliche Vertreter der neoliberalen Bewegung ergeben sich hier unterschiedliche Anliegen und Kritikpunkte.
Auf der einen Seite sollen die Staaten des Südens durch Einbeziehung in ein globales Marktsystem in ihrer Entwicklung befördert werden. Die hieraus folgende Kritik an der europäischen Agrarpolitik traf damals wie heute zu, ließ sich von manchen Neoliberalen sogar gegen die aus globaler Sicht marktfragmentierende europäische Integration im Ganzen wenden. Auf der anderen Seite war man sich einig, dass die Demokratisierung der Staaten des Südens nicht wünschenswert sei. Die alte liberale Skepsis gegen die Weisheit der Massendemokratie wurde mit rassistischen Stereotypen verstärkt, die namentlich den von den Nationalsozialisten verfolgten Röpke zu einem leidenschaftlichen Befürworter der südafrikanischen Apartheid werden ließen. Diese Asymmetrie ist nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch angelegt, sollte die globale Arbeitsteilung doch nicht etwa zur Industrialisierung des Südens führen, sondern eben vor allem zur Erschließung von Agrarmärkten, während der Norden die Industrie dazu liefert.
Slobodians materialreiche Darstellung, die auch dadurch gewinnt, dass sie, soweit möglich, den baulichen und bildlichen Kontext der Debatten einbezieht, beginnt kompakter, als sie endet. Dies hängt mit dem Verlust an Übersichtlichkeit zusammen, der sich auf dem langen Weg vom frühen Mises und einer kleinen Gruppe von Globalisten, die in Genf Pläne schmiedeten, bis zu den frühen neunziger Jahren einstellt, in denen nicht nur die Welt der Institutionen, sondern auch die Zahl der bekennenden Neoliberalen größer geworden war. Darum geraten die im Buch analysierten Diskussionen im Laufe der Darstellung selbstbezüglicher, namentlich die Frage, was denn der makroökonomische Mainstream mit Problemen und Lösungen der Neoliberalen anfangen kann, kommt aus dem Blick. Am Ende klammert sich Slobodian stark an die Darstellung von Hayeks theoretischem Spätwerk, das als Stück reiner Ideengeschichte durchaus bemerkenswert ist, in dieser politischen Diskurshistoriographie aber etwas erratisch wirkt.
Einige Nachfragen betreffen nicht allein das Buch, sondern die im Moment in der angelsächsischen Geschichtswissenschaft wieder aufblühende politische Diskursgeschichte im Ganzen. Da wäre zum einen das schwierige Problem der Zurechnung von ideologischem Einfluss auf den konkreten Institutionenaufbau. Waren die Neoliberalen so einflussreich, wie im Buch insinuiert wird, oder hatte die institutionelle Entwicklung andere Ursachen? Offen bleibt auch die Frage nach politischen Bewertungskriterien. Slobodian ist im Ton angenehm zurückhaltend, aber doch in einer Art, die unterstellt, man wisse schon, dass es sich hier letztlich allesamt um böse Buben handle.
Das wird oft plausibel, erscheint aber mitunter auch als Produkt eines unterstellten Konsenses mit seinen Lesern, deren politische Überzeugungen sich der Verfasser zwar ganz anders als, aber ähnlich homogen wie die der beschriebenen Neoliberalen vorzustellen scheint. Schließlich bleibt die Frage nach historischen Vorläufern. Historiker amüsieren sich oft darüber, wie unhistorisch Philosophen Begriffe wie "Liberalismus" ausbuchstabieren. Aber umgekehrt droht mitunter in der neueren Ideengeschichte die Behauptung, theoretische Figuren seien in einem bestimmten Kontext neu oder zumindest anders entstanden, längere Kontinuitäten aus den Augen zu verlieren. Vieles von dem, was Slobodian am neoliberalen Denken für bemerkenswert hält, dürfte sich jedenfalls so, wie er es darstellt, deutlich früher finden. Dass die Neoliberalen Freiheit letztlich instrumentalistisch verstehen, verbindet sie nicht zuletzt mit von ihnen verabscheuten Regulierern wie John Stuart Mill.
Das alles ändert nichts an dem vorzüglichen Eindruck, den ein Buch hinterlässt, das zu einem großen Teil aus deutschsprachigen Quellen schöpft und so zum Schluss noch eine ganz andere Frage provoziert: Was macht eigentlich die deutsche Ideengeschichte?
CHRISTOPH MÖLLERS
Quinn Slobodian: "Globalisten". Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 522 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Im Zentrum dieses klugen, oft überraschenden und pointenreichen Buches stehen nicht Milton Friedman und die Chicago Boys, nicht die Berater der Reagan- und Thatcher-Jahre, sondern die Genfer Schule. Dazu zählten Intellektuelle wie Wilhelm Röpke, Ludwig von Mises, Michael A. Heilperm, Friedrich August von Hayek, Gottfried Haberler ... « Jens Bisky Süddeutsche Zeitung 20200220