Ironisch-humoristisch, anrührend, ohne Sentimentalität oder Sarkasmus erzählt Christoph Hein ein beispiellos-beispielhaftes Leben in mehr als sechzig Jahren deutscher Zustände.
Was verdankt ein von der Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Seit seiner Geburt im Jahr 1945 versucht Konstantin Boggosch, in der entstehenden DDR lebend, aus dem Schatten seines kriegsverbrecherischen toten Vaters zu treten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend – Glückskind eben –, in den späten DDR-Jahren bis zum Rektor einer Oberschule – fast.
Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind. Gerade dadurch verkörpert Boggosch wie in einem Brennspiegel die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen.
Was verdankt ein von der Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Seit seiner Geburt im Jahr 1945 versucht Konstantin Boggosch, in der entstehenden DDR lebend, aus dem Schatten seines kriegsverbrecherischen toten Vaters zu treten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend – Glückskind eben –, in den späten DDR-Jahren bis zum Rektor einer Oberschule – fast.
Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind. Gerade dadurch verkörpert Boggosch wie in einem Brennspiegel die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der späte Christoph Hein schreibt einfacher und das steht ihm gut, findet Rezensentin Judith von Sternburg nach der Lektüre des neuen Romans "Glückskind mit Vater". Die Geschichte, die Hein erzählt, ist ohnehin kompliziert genug, meint die Kritikerin: Konstantin, Sohn eines NS-Verbrechers, den er nie kennenlernte, entgeht durch einige Glücksfälle zwar der "Sippenhaft" in der DDR, wird aber weder zum Abitur zugelassen, noch darf er ein Filmstudium beginnen. Trotz privatem Unglück verbittert Heins Held nie, fährt die Rezensentin fort. Ein wunderbarer,"Wilhelm-Meister-mäßiger" Roman, der das DDR-Leben vor Augen führt, schließt die Kritikerin, die gern die ein oder andere zu tiefenpsychologisch geratene Passage verzeiht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Die Akte Konstantin Boggosch
In Christoph Heins raffiniertem Schelmenroman gibt es für das "Glückskind mit Vater" keine Rettung vor der Bürde der deutschen Vergangenheit.
Von Rose-Maria Gropp
Da ist eine Exposition, einer Traumsequenz ähnlich. Ein Mann wie aus einer anderen Welt in weißer Uniform mit Frack tänzelt durch ein Wäldchen junger Birken. Er köpft sie mit seiner schlanken Peitsche, selbstzufrieden verschwindet er. Was kann er sein? Er muss die personifizierte Nonchalance der Gewalt sein, über alle Zeiten und Regimes hin. Die mysteriöse Erscheinung geht einem Rechenschaftsbericht voran, den ein Mann, jetzt in unseren Tagen Ende seiner Sechziger, vor sich selbst ablegt, nicht vor den gerade Herrschenden. Diesen Mann hat das Gespenst seines Vaters lebenslang verfolgt.
Er wird im Mai 1945 geboren, in der kleinen ostdeutschen Stadt G., seinen Vater hat er nie gekannt. Er kam nicht aus dem Krieg zurück, ein Schicksal, das Konstantin Boggosch, seine Mutter und der zwei Jahre ältere Bruder Gunthard mit anderen Altersgenossen teilen. Doch sein Erzeuger war der Industrielle Gerhard Müller, der Mann seiner Mutter Erika, Herr über die Gummi- und Reifenfabrik "Vulcano" in G., und er war ein hochrangiger SS-Scherge, von den Nationalsozialisten autorisierter Vollstrecker, der noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begann, ein Arbeits- und Konzentrationslager auf seinem Werksgelände zu errichten. Vor dessen Vollendung wird Gerhard Müller in Polen als Kriegsverbrecher verurteilt und gehenkt. Als die Russen 1945 - Konstantin ist erst wenige Tage alt - nach G. kommen, rettet der Säugling seine Mutter vor dem Schlimmsten; deshalb wird sie ihn ihr "Glückskind" nennen. Der soziale Niedergang der gebildeten Bürgerstochter, die sich in den schneidigen Jungunternehmer Müller verliebt hatte, ist unaufhaltsam, aus der Lehrerin für Fremdsprachen wird eine Frau, die in der Deutschen Demokratischen Republik für den Rest ihres Lebens anderer Leute Wohnungen putzt.
Denn die Sippenhaft schlägt zu, das ärgste Übel, dessen perverse Struktur die beiden Regimes verbindet, das untergegangene der Nationalsozialisten mit dem neu zu errichtenden, sozialistischen System. Zwar gelingt es der Mutter, den Namen Müller zu tilgen, sie und ihre Söhne tragen fortan ihren Mädchennamen Boggosch. Doch die vermaledeite Vergangenheit insistiert. Was das bedeutet für Konstantin Boggosch, davon handelt Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater". Dass schon im Namen Konstantin, was ja "der Beständige" heißt, eine Bürde liegt, aber auch eine Aufgabe und Hoffnung, muss Hein nicht eigens erwähnen. Erst als er zehn Jahre alt ist, erfahren er und sein Bruder von der Mutter, wer sein Vater war. Kurz darauf realisiert er, dass er als Sohn Gerhard Müllers weder eine Sportschule besuchen noch sein Abitur machen darf.
Der Vater, begreift Konstantin, "war das Pech meines Lebens, und er klebte lebenslang an mir wie Pech". Mit vierzehn haut er von daheim ab, schlägt sich über das Aufnahmelager Sandbostel bei Bremen bis nach Marseille durch, weil er sich dort der Fremdenlegion anschließen will. Woraus naturgemäß nichts wird, ihn hatte die falsche romantische Vorstellung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit getrogen. Dafür bringt ihn, den kleinen boche, das Schicksal in die Obhut von vier einstigen Résistancekämpfern, die ihn, der von der Mutter Französisch, Italienisch und Englisch gelernt hat, Übersetzungen für ihre Geschäfte anfertigen lassen und auf die Abendschule schicken. Dennoch verlässt Konstantin Frankreich, um heimzukehren in sein Vaterland, zu seiner Mutter. Was für eine verrückte Idee; es ist August 1961, gerade wird die Mauer errichtet.
Auch in diesem Roman konkurriert Hein nicht mit den grands recits der Moderne, den großen Erzählungen über Humanität und Politik, von denen er ohnehin glaubt, dass sie längst abgedankt haben; diese Erkenntnis zieht sich durch sein gesamtes Werk. Und er versucht gar nicht, eine exemplarische Vita zu konstruieren. Er folgt den individuellen Fährnissen seines Konstantin Boggosch. Damit schafft er eine zeitgenössische Variante des Bildungsromans, in dem er obendrein nicht ohne Ironie die Pädagogik - Boggosch wird schließlich Lehrer - eine Rolle spielen lässt. Von Entwicklungsroman kann freilich weniger die Rede sein; denn das Quantum Sturheit, das Konstantin in seinem Leben schützt, behindert ihn auch in nicht geringem Maße. Vor allem die Abenteuer des jungen Boggosch erinnern an Schelmenromane. Immer wieder gelingt es ihm, sich mit Raffinesse und unter großzügiger Auslegung der Wahrheit das Ärgste vom Leib zu halten. Dabei blitzt auch die Komik hin und wieder auf, die das "Glückskind mit Vater" vor erdrückender Schwere bewahrt.
Über mehr als fünfhundert Seiten hin überlagern sich gleichsam mythische Schichten der menschlichen Kondition mit der Lebenswirklichkeit, historische Geschehnisse mit privaten Schicksalen, gefiltert durch die Subjektivität der Erinnerung eines gealterten Ich-Erzählers. Dieser Kommentator seiner selbst und der Zeitläufte mit ihrem scharf ins Visier genommenen Personal bleibt im Gedächtnis. Dass fast keine dieser Figuren eindimensional bleibt - selbst der Vater nicht -, sondern sie sich in den Zwängen der Systeme willensschwach oder opportunistisch verbiegen, entschuldigt sie nicht; es macht sie furchtbar wirklich. Und auch die schreckliche Wahrheit, die Konstantin an Leib und Seele erfahren muss wie einen Fluch, geht uns alle an: "Was uns alle überlebt, das ist die Akte", sagt einer, der ihm vielleicht wohl wollte, spät im Buch, nach der Wiedervereinigung, "dies Zeug verschwindet nie spurlos von der Erde."
Christoph Hein hat einen großen klugen, einen packenden Roman über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart geschrieben, über die Ostzone, die dann DDR wird, und auch über das westliche Nachkriegsdeutschland. An seinem Ende fällt ein so bitteres wie realitätsnahes Schlaglicht auf die wiedervereinte deutsche Gesellschaft samt jenen Charakteren, die stets wie die Fettaugen auf der Suppe schwimmen, egal unter welchen ideologischen Vorzeichen sie gekocht wird, und sei es der eigene Bruder. Doch einen Konstantin Boggosch, als Opfer und als Ungebrochenen, vergisst keiner so schnell.
Christoph Hein: "Glückskind mit Vater". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Christoph Heins raffiniertem Schelmenroman gibt es für das "Glückskind mit Vater" keine Rettung vor der Bürde der deutschen Vergangenheit.
Von Rose-Maria Gropp
Da ist eine Exposition, einer Traumsequenz ähnlich. Ein Mann wie aus einer anderen Welt in weißer Uniform mit Frack tänzelt durch ein Wäldchen junger Birken. Er köpft sie mit seiner schlanken Peitsche, selbstzufrieden verschwindet er. Was kann er sein? Er muss die personifizierte Nonchalance der Gewalt sein, über alle Zeiten und Regimes hin. Die mysteriöse Erscheinung geht einem Rechenschaftsbericht voran, den ein Mann, jetzt in unseren Tagen Ende seiner Sechziger, vor sich selbst ablegt, nicht vor den gerade Herrschenden. Diesen Mann hat das Gespenst seines Vaters lebenslang verfolgt.
Er wird im Mai 1945 geboren, in der kleinen ostdeutschen Stadt G., seinen Vater hat er nie gekannt. Er kam nicht aus dem Krieg zurück, ein Schicksal, das Konstantin Boggosch, seine Mutter und der zwei Jahre ältere Bruder Gunthard mit anderen Altersgenossen teilen. Doch sein Erzeuger war der Industrielle Gerhard Müller, der Mann seiner Mutter Erika, Herr über die Gummi- und Reifenfabrik "Vulcano" in G., und er war ein hochrangiger SS-Scherge, von den Nationalsozialisten autorisierter Vollstrecker, der noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs begann, ein Arbeits- und Konzentrationslager auf seinem Werksgelände zu errichten. Vor dessen Vollendung wird Gerhard Müller in Polen als Kriegsverbrecher verurteilt und gehenkt. Als die Russen 1945 - Konstantin ist erst wenige Tage alt - nach G. kommen, rettet der Säugling seine Mutter vor dem Schlimmsten; deshalb wird sie ihn ihr "Glückskind" nennen. Der soziale Niedergang der gebildeten Bürgerstochter, die sich in den schneidigen Jungunternehmer Müller verliebt hatte, ist unaufhaltsam, aus der Lehrerin für Fremdsprachen wird eine Frau, die in der Deutschen Demokratischen Republik für den Rest ihres Lebens anderer Leute Wohnungen putzt.
Denn die Sippenhaft schlägt zu, das ärgste Übel, dessen perverse Struktur die beiden Regimes verbindet, das untergegangene der Nationalsozialisten mit dem neu zu errichtenden, sozialistischen System. Zwar gelingt es der Mutter, den Namen Müller zu tilgen, sie und ihre Söhne tragen fortan ihren Mädchennamen Boggosch. Doch die vermaledeite Vergangenheit insistiert. Was das bedeutet für Konstantin Boggosch, davon handelt Christoph Heins Roman "Glückskind mit Vater". Dass schon im Namen Konstantin, was ja "der Beständige" heißt, eine Bürde liegt, aber auch eine Aufgabe und Hoffnung, muss Hein nicht eigens erwähnen. Erst als er zehn Jahre alt ist, erfahren er und sein Bruder von der Mutter, wer sein Vater war. Kurz darauf realisiert er, dass er als Sohn Gerhard Müllers weder eine Sportschule besuchen noch sein Abitur machen darf.
Der Vater, begreift Konstantin, "war das Pech meines Lebens, und er klebte lebenslang an mir wie Pech". Mit vierzehn haut er von daheim ab, schlägt sich über das Aufnahmelager Sandbostel bei Bremen bis nach Marseille durch, weil er sich dort der Fremdenlegion anschließen will. Woraus naturgemäß nichts wird, ihn hatte die falsche romantische Vorstellung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit getrogen. Dafür bringt ihn, den kleinen boche, das Schicksal in die Obhut von vier einstigen Résistancekämpfern, die ihn, der von der Mutter Französisch, Italienisch und Englisch gelernt hat, Übersetzungen für ihre Geschäfte anfertigen lassen und auf die Abendschule schicken. Dennoch verlässt Konstantin Frankreich, um heimzukehren in sein Vaterland, zu seiner Mutter. Was für eine verrückte Idee; es ist August 1961, gerade wird die Mauer errichtet.
Auch in diesem Roman konkurriert Hein nicht mit den grands recits der Moderne, den großen Erzählungen über Humanität und Politik, von denen er ohnehin glaubt, dass sie längst abgedankt haben; diese Erkenntnis zieht sich durch sein gesamtes Werk. Und er versucht gar nicht, eine exemplarische Vita zu konstruieren. Er folgt den individuellen Fährnissen seines Konstantin Boggosch. Damit schafft er eine zeitgenössische Variante des Bildungsromans, in dem er obendrein nicht ohne Ironie die Pädagogik - Boggosch wird schließlich Lehrer - eine Rolle spielen lässt. Von Entwicklungsroman kann freilich weniger die Rede sein; denn das Quantum Sturheit, das Konstantin in seinem Leben schützt, behindert ihn auch in nicht geringem Maße. Vor allem die Abenteuer des jungen Boggosch erinnern an Schelmenromane. Immer wieder gelingt es ihm, sich mit Raffinesse und unter großzügiger Auslegung der Wahrheit das Ärgste vom Leib zu halten. Dabei blitzt auch die Komik hin und wieder auf, die das "Glückskind mit Vater" vor erdrückender Schwere bewahrt.
Über mehr als fünfhundert Seiten hin überlagern sich gleichsam mythische Schichten der menschlichen Kondition mit der Lebenswirklichkeit, historische Geschehnisse mit privaten Schicksalen, gefiltert durch die Subjektivität der Erinnerung eines gealterten Ich-Erzählers. Dieser Kommentator seiner selbst und der Zeitläufte mit ihrem scharf ins Visier genommenen Personal bleibt im Gedächtnis. Dass fast keine dieser Figuren eindimensional bleibt - selbst der Vater nicht -, sondern sie sich in den Zwängen der Systeme willensschwach oder opportunistisch verbiegen, entschuldigt sie nicht; es macht sie furchtbar wirklich. Und auch die schreckliche Wahrheit, die Konstantin an Leib und Seele erfahren muss wie einen Fluch, geht uns alle an: "Was uns alle überlebt, das ist die Akte", sagt einer, der ihm vielleicht wohl wollte, spät im Buch, nach der Wiedervereinigung, "dies Zeug verschwindet nie spurlos von der Erde."
Christoph Hein hat einen großen klugen, einen packenden Roman über die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis in unsere Gegenwart geschrieben, über die Ostzone, die dann DDR wird, und auch über das westliche Nachkriegsdeutschland. An seinem Ende fällt ein so bitteres wie realitätsnahes Schlaglicht auf die wiedervereinte deutsche Gesellschaft samt jenen Charakteren, die stets wie die Fettaugen auf der Suppe schwimmen, egal unter welchen ideologischen Vorzeichen sie gekocht wird, und sei es der eigene Bruder. Doch einen Konstantin Boggosch, als Opfer und als Ungebrochenen, vergisst keiner so schnell.
Christoph Hein: "Glückskind mit Vater". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2016Schrecken der Herkunft
Christoph Heins Roman über das Schicksal eines deutschen Sohnes
„Glückskind mit Vater“ ist ein merkwürdiger Titel. Gehört zum Glückskind nicht selbstverständlich der Vater? Konstantin Boggosch, Hauptfigur des neuen Romans von Christoph Hein, ist ein Glückskind, aber er ist es trotz seines Vaters. Der ist 1945 in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, gewiss nicht ohne Grund. Gerhard Müller war Brigadeführer der SS gewesen, ein wichtiger Mann in deren Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt und ein Unternehmer, der rücksichtlos die Gelegenheiten des Nationalsozialismus auch zum eigenen Vorteil ausbeutete. Nach seinem Tod nimmt die Witwe für sich und ihre zwei Söhne ihren Mädchennamen wieder an. Doch sie bleibt in dem mitteldeutschen „Städtchen“, dessen Wirtschaftsleben ganz in der Hand Gerhard Müllers gelegen hatte; dort weiß man Bescheid. Und Bescheid wissen auch Staat und Partei, DDR und SED.
Einen Vater zu haben, der ein bekannter Kriegsverbrecher war, das ist schrecklich, selbst wenn man erst nach dessen Tode geboren wurde und von einer Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus nicht die Rede sein kann. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wäre ein solches Kind in Westdeutschland wohl durchgerutscht, in der DDR aber wird es immer wieder auf seine Abstammung gestoßen. Ob es um den Zugang zum Abitur oder um einen Platz im Sportinternat geht, zuverlässig schließen sich die Türen, sobald aus den Akten klar wird, wessen Sohn Konstantin ist. Eine Weile hoffte er, „dass dieses Unheil wie eine dunkle Wolke irgendwann sich auflösen und verschwinden würde. Doch dann begreift er, was der Vater, doch nur der biologische Vater, für ihn bedeutet: „das Pech meines Lebens“.
Schon früh hat sich Christoph Hein für Menschen interessiert, die Opfer von Unrecht und Benachteiligung werden. In seinen frühen, zu recht berühmten Romanen „Der fremde Freund“ (im Westen unter dem Titel „Drachenblut“) und „Der Tangospieler“ werden die Hauptpersonen auf diese Weise vom Weg abgedrängt, ohne später noch einmal in ein lebenszugewandtes Dasein zurückzufinden. Sie betrachten die Welt um sich herum kaum anders als ein Aquarium, ihr Leben wie eine elektrische Eisenbahn, nur noch darum bemüht, dass „das Spielzeug weiter den endlosen, weil als Schlaufe angelegten Schienenstrang gleichmütig abfahren konnte“.
Es ist eine schlechte Unendlichkeit, in der sie existieren müssen, ohne irgendeine Hoffnung auf persönlichen oder politischen Ausbruch. Die Sippenhaft, die Konstantin erlebt, könnte ihn ähnlich verändern. Aber er ist eine anders veranlagte Natur, ein wirkliches Glückskind. Er leidet unter den Zurücksetzungen, aber er verbittert nicht. Er sieht, anders als sein Bruder Gunthard, die Verbrechen seines Vaters. Und es wenden sich ihm die Menschen zu.
Mit vierzehn rückt er aus, in den Westen. Eine Flucht kann man es kaum nennen, er träumt von der Fremdenlegion, die ihn natürlich nicht aufnimmt. Doch in Marseille findet er eine Runde von Geschäftsleuten, die ihn als Fremdsprachenkorrespondenten beschäftigen. Sie haben Spaß an dem intelligenten Burschen und auch an sich selbst, Angehörigen der Résistance, die sich mit einem jungen Deutschen anfreunden. Konstantin genießt das Leben in Marseille, doch er leidet unter dem Gefühl, der Sohn eines Mannes zu sein, der seine Wohltäter ins KZ gebracht, womöglich ermordet hätte. So zieht er sich zurück und kehrt heim, auch aus Sehnsucht nach der Mutter. Gerade hat die DDR die Mauer errichtet, es ist ein Opfer, das Konstantin bringt.
Weiter wird ihm die DDR Steine in den Weg legen. Ein Studienplatz an der Filmhochschule bleibt ihm verwehrt, gerade noch ein Lehramtsstudium eröffnet sich. Aber er macht etwas aus dem Beruf und wird ein guter Lehrer, von Schülern und Kollegen respektiert. Allerdings muss er zur Kenntnis nehmen, wie die Opportunisten an ihm vorbeiziehen, bis 1989 und, gesteigert grotesk, darüber hinaus.
Christoph Hein hat sich einen eigentümlichen Helden zurechtgelegt. Die erst verletzten, dann seelisch heruntergekühlten, glaubenslosen Figuren der frühen Romane hatten etwas literarisch Schlüssiges. Das Glückskind Konstantin, das sich in allen Widrigkeiten und großem Unglück behauptet, nicht zynisch wird und nicht unfreundlich, woraus lebt es? Nicht aus einer großen Überzeugung, aber aus so etwas wie der Wahrheit. Konstantin begreift, was sein Vater getan hat und versteht, warum man dessen Kindern nicht unbefangen begegnet. Die Kategorien von Schuld und Sühne sind für ihn lebendig. Wie es die Mutter abgelehnt hatte, in den Westen zu ziehen und die ihr dort zustehende Rente sich auszahlen zu lassen, lehnt es Konstantin ab, nach der Wende Erbansprüche geltend zu machen, die seinen Bruder Gunthard zum reichen Mann machen.
Gunthard und Konstantin, die zwei ungleichen Brüder, sind schon mit den Namen markiert: der ältere mit einem scharf germanischen, der jüngere mit einem christlichen. Und wenn es von Konstantin hieß, er habe eine Empfindung für Schuld und Sühne, so muss man präzisieren, dass die Schuld, deren Folge er auf sich nimmt, nicht die persönliche ist. Etwas von der Erbsünde schwingt mit.
Der Autor hat den positiven Helden zum Ich-Erzähler gemacht, da liegt ein Problem, das der ostentativen Bescheidenheit. Dass dies den Leser weniger stört, als zu erwarten wäre, hatmit dem ruhigen Ton des Romans zu tun. Es wird weder moralisch geprahlt, noch stilistisch geprunkt. Über mehr als 500 Seiten läuft der Roman unauffällig vor sich hin, ohne auf Höhepunkte, Krisen oder Katastrophen zuzusteuern, nicht einmal Kapiteleinteilungen gibt es. Allerdings geht die Sorglosigkeit sehr weit. Der pensionierte Lehrer beanstandet, dass seine Schüler, die Journalisten geworden sind, den Konjunktiv nicht beherrschen, er selbst ist da aber auch keineswegs trittsicher. Dass in einer Kleinstadt die „Bürgersteige hochgeklappt“ werden, Ergebnisse „belastbar“ sind und von „hämischer Schadenfreude“ gesprochen wird, mag man nicht allein der Gelassenheit des pensionierten Lehrers zuschreiben, es spricht eher für die Nachlässigkeit seines Autors.
STEPHAN SPEICHER
Konstantins Bruder trägt
einen scharf germanischen
Namen: Gunthard
Christoph Hein:
Glückskind mit Vater.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 Seiten, 22,95 Euro. E-Book
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christoph Heins Roman über das Schicksal eines deutschen Sohnes
„Glückskind mit Vater“ ist ein merkwürdiger Titel. Gehört zum Glückskind nicht selbstverständlich der Vater? Konstantin Boggosch, Hauptfigur des neuen Romans von Christoph Hein, ist ein Glückskind, aber er ist es trotz seines Vaters. Der ist 1945 in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, gewiss nicht ohne Grund. Gerhard Müller war Brigadeführer der SS gewesen, ein wichtiger Mann in deren Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt und ein Unternehmer, der rücksichtlos die Gelegenheiten des Nationalsozialismus auch zum eigenen Vorteil ausbeutete. Nach seinem Tod nimmt die Witwe für sich und ihre zwei Söhne ihren Mädchennamen wieder an. Doch sie bleibt in dem mitteldeutschen „Städtchen“, dessen Wirtschaftsleben ganz in der Hand Gerhard Müllers gelegen hatte; dort weiß man Bescheid. Und Bescheid wissen auch Staat und Partei, DDR und SED.
Einen Vater zu haben, der ein bekannter Kriegsverbrecher war, das ist schrecklich, selbst wenn man erst nach dessen Tode geboren wurde und von einer Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus nicht die Rede sein kann. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wäre ein solches Kind in Westdeutschland wohl durchgerutscht, in der DDR aber wird es immer wieder auf seine Abstammung gestoßen. Ob es um den Zugang zum Abitur oder um einen Platz im Sportinternat geht, zuverlässig schließen sich die Türen, sobald aus den Akten klar wird, wessen Sohn Konstantin ist. Eine Weile hoffte er, „dass dieses Unheil wie eine dunkle Wolke irgendwann sich auflösen und verschwinden würde. Doch dann begreift er, was der Vater, doch nur der biologische Vater, für ihn bedeutet: „das Pech meines Lebens“.
Schon früh hat sich Christoph Hein für Menschen interessiert, die Opfer von Unrecht und Benachteiligung werden. In seinen frühen, zu recht berühmten Romanen „Der fremde Freund“ (im Westen unter dem Titel „Drachenblut“) und „Der Tangospieler“ werden die Hauptpersonen auf diese Weise vom Weg abgedrängt, ohne später noch einmal in ein lebenszugewandtes Dasein zurückzufinden. Sie betrachten die Welt um sich herum kaum anders als ein Aquarium, ihr Leben wie eine elektrische Eisenbahn, nur noch darum bemüht, dass „das Spielzeug weiter den endlosen, weil als Schlaufe angelegten Schienenstrang gleichmütig abfahren konnte“.
Es ist eine schlechte Unendlichkeit, in der sie existieren müssen, ohne irgendeine Hoffnung auf persönlichen oder politischen Ausbruch. Die Sippenhaft, die Konstantin erlebt, könnte ihn ähnlich verändern. Aber er ist eine anders veranlagte Natur, ein wirkliches Glückskind. Er leidet unter den Zurücksetzungen, aber er verbittert nicht. Er sieht, anders als sein Bruder Gunthard, die Verbrechen seines Vaters. Und es wenden sich ihm die Menschen zu.
Mit vierzehn rückt er aus, in den Westen. Eine Flucht kann man es kaum nennen, er träumt von der Fremdenlegion, die ihn natürlich nicht aufnimmt. Doch in Marseille findet er eine Runde von Geschäftsleuten, die ihn als Fremdsprachenkorrespondenten beschäftigen. Sie haben Spaß an dem intelligenten Burschen und auch an sich selbst, Angehörigen der Résistance, die sich mit einem jungen Deutschen anfreunden. Konstantin genießt das Leben in Marseille, doch er leidet unter dem Gefühl, der Sohn eines Mannes zu sein, der seine Wohltäter ins KZ gebracht, womöglich ermordet hätte. So zieht er sich zurück und kehrt heim, auch aus Sehnsucht nach der Mutter. Gerade hat die DDR die Mauer errichtet, es ist ein Opfer, das Konstantin bringt.
Weiter wird ihm die DDR Steine in den Weg legen. Ein Studienplatz an der Filmhochschule bleibt ihm verwehrt, gerade noch ein Lehramtsstudium eröffnet sich. Aber er macht etwas aus dem Beruf und wird ein guter Lehrer, von Schülern und Kollegen respektiert. Allerdings muss er zur Kenntnis nehmen, wie die Opportunisten an ihm vorbeiziehen, bis 1989 und, gesteigert grotesk, darüber hinaus.
Christoph Hein hat sich einen eigentümlichen Helden zurechtgelegt. Die erst verletzten, dann seelisch heruntergekühlten, glaubenslosen Figuren der frühen Romane hatten etwas literarisch Schlüssiges. Das Glückskind Konstantin, das sich in allen Widrigkeiten und großem Unglück behauptet, nicht zynisch wird und nicht unfreundlich, woraus lebt es? Nicht aus einer großen Überzeugung, aber aus so etwas wie der Wahrheit. Konstantin begreift, was sein Vater getan hat und versteht, warum man dessen Kindern nicht unbefangen begegnet. Die Kategorien von Schuld und Sühne sind für ihn lebendig. Wie es die Mutter abgelehnt hatte, in den Westen zu ziehen und die ihr dort zustehende Rente sich auszahlen zu lassen, lehnt es Konstantin ab, nach der Wende Erbansprüche geltend zu machen, die seinen Bruder Gunthard zum reichen Mann machen.
Gunthard und Konstantin, die zwei ungleichen Brüder, sind schon mit den Namen markiert: der ältere mit einem scharf germanischen, der jüngere mit einem christlichen. Und wenn es von Konstantin hieß, er habe eine Empfindung für Schuld und Sühne, so muss man präzisieren, dass die Schuld, deren Folge er auf sich nimmt, nicht die persönliche ist. Etwas von der Erbsünde schwingt mit.
Der Autor hat den positiven Helden zum Ich-Erzähler gemacht, da liegt ein Problem, das der ostentativen Bescheidenheit. Dass dies den Leser weniger stört, als zu erwarten wäre, hatmit dem ruhigen Ton des Romans zu tun. Es wird weder moralisch geprahlt, noch stilistisch geprunkt. Über mehr als 500 Seiten läuft der Roman unauffällig vor sich hin, ohne auf Höhepunkte, Krisen oder Katastrophen zuzusteuern, nicht einmal Kapiteleinteilungen gibt es. Allerdings geht die Sorglosigkeit sehr weit. Der pensionierte Lehrer beanstandet, dass seine Schüler, die Journalisten geworden sind, den Konjunktiv nicht beherrschen, er selbst ist da aber auch keineswegs trittsicher. Dass in einer Kleinstadt die „Bürgersteige hochgeklappt“ werden, Ergebnisse „belastbar“ sind und von „hämischer Schadenfreude“ gesprochen wird, mag man nicht allein der Gelassenheit des pensionierten Lehrers zuschreiben, es spricht eher für die Nachlässigkeit seines Autors.
STEPHAN SPEICHER
Konstantins Bruder trägt
einen scharf germanischen
Namen: Gunthard
Christoph Hein:
Glückskind mit Vater.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 Seiten, 22,95 Euro. E-Book
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»... wenn das nicht erzählenswert ist!«
Tobias Schwartz, Tip Berlin 5/2016
Tobias Schwartz, Tip Berlin 5/2016