Die Reformation war nicht nur ein historisches Ereignis mit weltweiter Wirkung, sondern eine spirituelle Revolution. Ihre Triebkraft war die befreiende Entdeckung, dass Gott in seiner Schöpfung bedingungslos als Kraft der Veränderung zum Guten gegenwärtig ist. Gott allein ist der Erste, alles andere das Zweite. Das führte existenziell zu einer Neuausrichtung des ganzen Lebens an Gottes Gegenwart und theologisch zu einer grundlegenden Umgestaltung der traditionellen religiösen Denksysteme. Indem die Reformatoren alles Leben und Denken, Erfahren und Leiden, Vorstellen und Tun kompromisslos auf die schöpferische Gegenwart Gottes hin ausrichteten, revolutionierten sie die christliche Lebens- und Denkungsart. Das Buch des international bekannten Systematikers und Religionsphilosophen Ingolf U. Dalferth kegt dar, was es heißt, Gott vom Kreuzesgeschehen her theologisch zu denken. Und es entfaltet den christlichen Monotheismus nicht als System der Vergewaltigung Andersdenkender, sondern als Lebensform radikaler Freiheit und Liebe, die sich als Resonanz der Gnade Gottes versteht. [God First. The Reformation Revolution of the Christian Way of Thinking] The Reformation was not only a historical event with worldwide effects, but a spiritual revolution. Its driving force was the liberating discovery that God is unconditionally present in his creation as the power of change for the good. God alone is the first, everything else is the second. This led existentially to a reorientation of the whole life towards God's presence and theologically to a fundamental transformation of the traditional systems of religious thought. By orienting all life and thought, experience and suffering, imagining and doing uncompromisingly towards this creative presence of God, the Reformers revolutionized the Christian way of living and thinking. The book reconstructs the way of thinking of Protestant theology by explaining what it means to think God theologically based on the event of the cross. And it unfolds Christian monotheism not as a system of violence against other religions, but as a way of life of radical freedom and love, which sees itself as a resonance of the free gift of God's grace.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2019Spirituelle Revoluzzer
Ingolf U. Dalferth zieht eine Bilanz der Reformation
Der evangelische Theologe Ingolf U. Dalferth ist kein Schreihals, nur weil er "God first" ruft. Gott steht in dieser Weltsicht unhintergehbar an erster Stelle, weil er vor allem ist. Der Mensch, so die reformatorische Überzeugung, muss sich ganz auf Gott verlassen. Dalferths Gedanken sind radikal unzeitgemäß und seine Perspektive ist konsequent theologisch. Für ihn liegt die besondere Leistung der Reformation darin, das Verhältnis von Gott und Mensch grundlegend neu bestimmt zu haben. Das macht sie zu einer "spirituellen Revolution" und eben nicht nur zu einer Revolte gegen den Ablasshandel.
Neu ist das nicht. Gleichwohl sieht sich der Autor in der Rückschau auf das Reformationsgedenken im Jahr 2017 dazu veranlasst, noch einmal daran zu erinnern. Sein Buch versammelt Vorträge und Vorlesungen, die der Theologe zum Gedenken an die "Revolution" gehalten hat. In Deutschland, schreibt Dalferth, dominierten Historiker die öffentliche Debatte über die Reformation; theologische Stimmen indes blieben auf die Kirche beschränkt. Dass er selbst vereinzelt in Ton und Niveau einer Predigt verfällt ("Wir haben nicht das Zeug, die Welt zum Paradies zu machen"), schadet der wissenschaftlichen Autorität des sonst sprachlich präzisen Religionsphilosophen.
Den Begriff der Revolution verwendet er im Sinne Kants, der von einer "Revolution der Denkungsart" spricht. Doch während Kant damit auf eine moralische Revolution zielte, wollten die Reformatoren eine spirituelle Revolution, "die von Gott für uns (in Christus) und in uns (durch den Geist) ohne uns herbeigeführt wird". Sie sei ein "schöpferischer Akt", der mehr aus dem Menschen mache, als er selbst aus sich machen könne. Die reformatorische Pointe liegt darin, dass hier dem Menschen eine weitaus passivere Rolle für seine Erlösung zugeschrieben wird als in der katholischen Tradition.
Deutliche Worte findet Dalferth für die katholische Kirche: Sofern sie die theologischen Errungenschaften der Reformation als Fehlentwicklungen betrachte, dürfe man von ihr am ehesten erwarten, dass sie die protestantischen Kirchen dazu einladen werde, wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzukehren und sich in dieser den Status religiöser Orden zuweisen zu lassen. Sie wäre dann eine unter vielen Reformbewegungen und eben nicht jene Kirche, die aus einer Revolution hervorging.
Dalferth zeigt, wie die "reformatorische Revolution" die "christliche Denkungsart" verändert hat. So zum Beispiel im Blick auf das gewandelte Theologieverständnis der Reformatoren: Im Gefolge von Duns Scotus und der Schule Ockhams sowie in Absetzung zur hochscholastisch-thomistischen Konzeption der Theologie hätten sie die Theologie als eher praktische Wissenschaft begriffen und nicht mehr als aus übernatürlichem Wissen abgeleitete theoretische Wissenschaft. Die Theologie der Reformatoren zielte nach Dalferth "auf die Veränderung der Menschen zur Erkenntnis und Aneignung ihres Heils".
Um diesen glaubenspraktischen Bezug und um die Relevanz der Theologie insgesamt scheint Dalferth zu fürchten. Er verwahrt sich gegen heutige Kritiker der Theologie, die in ihr nur eine "unberechtigte und undemokratische Kontinuierung einer religiösen Privatmeinung an den Universitäten" sähen. Dalferth aber will den Bestand seiner Disziplin anders behaupten: "Theologie ist keine Wissenschaft, sondern grundlegender als jede Wissenschaft." Zumindest insofern alle Wissenschaft versuche, Kontingentes zu erklären. Und da zählt Gott nun einmal nicht dazu.
Unterm Strich bleibt die Forderung einer kompromisslosen Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart. Der Schlüssel zum Verständnis der religiösen Bedeutung der Reformation liegt für Dalferth nicht in der immanenten Unterscheidung von Kirche und Staat, Katholiken und Protestanten oder Religiösen und Säkularen, sondern in der theologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung, die für ihn alles verändert.
TOBIAS SCHRÖRS
Ingolf U. Dalferth: "God first". Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018.
304 S., br., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ingolf U. Dalferth zieht eine Bilanz der Reformation
Der evangelische Theologe Ingolf U. Dalferth ist kein Schreihals, nur weil er "God first" ruft. Gott steht in dieser Weltsicht unhintergehbar an erster Stelle, weil er vor allem ist. Der Mensch, so die reformatorische Überzeugung, muss sich ganz auf Gott verlassen. Dalferths Gedanken sind radikal unzeitgemäß und seine Perspektive ist konsequent theologisch. Für ihn liegt die besondere Leistung der Reformation darin, das Verhältnis von Gott und Mensch grundlegend neu bestimmt zu haben. Das macht sie zu einer "spirituellen Revolution" und eben nicht nur zu einer Revolte gegen den Ablasshandel.
Neu ist das nicht. Gleichwohl sieht sich der Autor in der Rückschau auf das Reformationsgedenken im Jahr 2017 dazu veranlasst, noch einmal daran zu erinnern. Sein Buch versammelt Vorträge und Vorlesungen, die der Theologe zum Gedenken an die "Revolution" gehalten hat. In Deutschland, schreibt Dalferth, dominierten Historiker die öffentliche Debatte über die Reformation; theologische Stimmen indes blieben auf die Kirche beschränkt. Dass er selbst vereinzelt in Ton und Niveau einer Predigt verfällt ("Wir haben nicht das Zeug, die Welt zum Paradies zu machen"), schadet der wissenschaftlichen Autorität des sonst sprachlich präzisen Religionsphilosophen.
Den Begriff der Revolution verwendet er im Sinne Kants, der von einer "Revolution der Denkungsart" spricht. Doch während Kant damit auf eine moralische Revolution zielte, wollten die Reformatoren eine spirituelle Revolution, "die von Gott für uns (in Christus) und in uns (durch den Geist) ohne uns herbeigeführt wird". Sie sei ein "schöpferischer Akt", der mehr aus dem Menschen mache, als er selbst aus sich machen könne. Die reformatorische Pointe liegt darin, dass hier dem Menschen eine weitaus passivere Rolle für seine Erlösung zugeschrieben wird als in der katholischen Tradition.
Deutliche Worte findet Dalferth für die katholische Kirche: Sofern sie die theologischen Errungenschaften der Reformation als Fehlentwicklungen betrachte, dürfe man von ihr am ehesten erwarten, dass sie die protestantischen Kirchen dazu einladen werde, wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzukehren und sich in dieser den Status religiöser Orden zuweisen zu lassen. Sie wäre dann eine unter vielen Reformbewegungen und eben nicht jene Kirche, die aus einer Revolution hervorging.
Dalferth zeigt, wie die "reformatorische Revolution" die "christliche Denkungsart" verändert hat. So zum Beispiel im Blick auf das gewandelte Theologieverständnis der Reformatoren: Im Gefolge von Duns Scotus und der Schule Ockhams sowie in Absetzung zur hochscholastisch-thomistischen Konzeption der Theologie hätten sie die Theologie als eher praktische Wissenschaft begriffen und nicht mehr als aus übernatürlichem Wissen abgeleitete theoretische Wissenschaft. Die Theologie der Reformatoren zielte nach Dalferth "auf die Veränderung der Menschen zur Erkenntnis und Aneignung ihres Heils".
Um diesen glaubenspraktischen Bezug und um die Relevanz der Theologie insgesamt scheint Dalferth zu fürchten. Er verwahrt sich gegen heutige Kritiker der Theologie, die in ihr nur eine "unberechtigte und undemokratische Kontinuierung einer religiösen Privatmeinung an den Universitäten" sähen. Dalferth aber will den Bestand seiner Disziplin anders behaupten: "Theologie ist keine Wissenschaft, sondern grundlegender als jede Wissenschaft." Zumindest insofern alle Wissenschaft versuche, Kontingentes zu erklären. Und da zählt Gott nun einmal nicht dazu.
Unterm Strich bleibt die Forderung einer kompromisslosen Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart. Der Schlüssel zum Verständnis der religiösen Bedeutung der Reformation liegt für Dalferth nicht in der immanenten Unterscheidung von Kirche und Staat, Katholiken und Protestanten oder Religiösen und Säkularen, sondern in der theologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung, die für ihn alles verändert.
TOBIAS SCHRÖRS
Ingolf U. Dalferth: "God first". Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018.
304 S., br., 28,- [Euro].
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