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Ingolf U. Dalferth zieht eine Bilanz der Reformation
Der evangelische Theologe Ingolf U. Dalferth ist kein Schreihals, nur weil er "God first" ruft. Gott steht in dieser Weltsicht unhintergehbar an erster Stelle, weil er vor allem ist. Der Mensch, so die reformatorische Überzeugung, muss sich ganz auf Gott verlassen. Dalferths Gedanken sind radikal unzeitgemäß und seine Perspektive ist konsequent theologisch. Für ihn liegt die besondere Leistung der Reformation darin, das Verhältnis von Gott und Mensch grundlegend neu bestimmt zu haben. Das macht sie zu einer "spirituellen Revolution" und eben nicht nur zu einer Revolte gegen den Ablasshandel.
Neu ist das nicht. Gleichwohl sieht sich der Autor in der Rückschau auf das Reformationsgedenken im Jahr 2017 dazu veranlasst, noch einmal daran zu erinnern. Sein Buch versammelt Vorträge und Vorlesungen, die der Theologe zum Gedenken an die "Revolution" gehalten hat. In Deutschland, schreibt Dalferth, dominierten Historiker die öffentliche Debatte über die Reformation; theologische Stimmen indes blieben auf die Kirche beschränkt. Dass er selbst vereinzelt in Ton und Niveau einer Predigt verfällt ("Wir haben nicht das Zeug, die Welt zum Paradies zu machen"), schadet der wissenschaftlichen Autorität des sonst sprachlich präzisen Religionsphilosophen.
Den Begriff der Revolution verwendet er im Sinne Kants, der von einer "Revolution der Denkungsart" spricht. Doch während Kant damit auf eine moralische Revolution zielte, wollten die Reformatoren eine spirituelle Revolution, "die von Gott für uns (in Christus) und in uns (durch den Geist) ohne uns herbeigeführt wird". Sie sei ein "schöpferischer Akt", der mehr aus dem Menschen mache, als er selbst aus sich machen könne. Die reformatorische Pointe liegt darin, dass hier dem Menschen eine weitaus passivere Rolle für seine Erlösung zugeschrieben wird als in der katholischen Tradition.
Deutliche Worte findet Dalferth für die katholische Kirche: Sofern sie die theologischen Errungenschaften der Reformation als Fehlentwicklungen betrachte, dürfe man von ihr am ehesten erwarten, dass sie die protestantischen Kirchen dazu einladen werde, wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzukehren und sich in dieser den Status religiöser Orden zuweisen zu lassen. Sie wäre dann eine unter vielen Reformbewegungen und eben nicht jene Kirche, die aus einer Revolution hervorging.
Dalferth zeigt, wie die "reformatorische Revolution" die "christliche Denkungsart" verändert hat. So zum Beispiel im Blick auf das gewandelte Theologieverständnis der Reformatoren: Im Gefolge von Duns Scotus und der Schule Ockhams sowie in Absetzung zur hochscholastisch-thomistischen Konzeption der Theologie hätten sie die Theologie als eher praktische Wissenschaft begriffen und nicht mehr als aus übernatürlichem Wissen abgeleitete theoretische Wissenschaft. Die Theologie der Reformatoren zielte nach Dalferth "auf die Veränderung der Menschen zur Erkenntnis und Aneignung ihres Heils".
Um diesen glaubenspraktischen Bezug und um die Relevanz der Theologie insgesamt scheint Dalferth zu fürchten. Er verwahrt sich gegen heutige Kritiker der Theologie, die in ihr nur eine "unberechtigte und undemokratische Kontinuierung einer religiösen Privatmeinung an den Universitäten" sähen. Dalferth aber will den Bestand seiner Disziplin anders behaupten: "Theologie ist keine Wissenschaft, sondern grundlegender als jede Wissenschaft." Zumindest insofern alle Wissenschaft versuche, Kontingentes zu erklären. Und da zählt Gott nun einmal nicht dazu.
Unterm Strich bleibt die Forderung einer kompromisslosen Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart. Der Schlüssel zum Verständnis der religiösen Bedeutung der Reformation liegt für Dalferth nicht in der immanenten Unterscheidung von Kirche und Staat, Katholiken und Protestanten oder Religiösen und Säkularen, sondern in der theologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung, die für ihn alles verändert.
TOBIAS SCHRÖRS
Ingolf U. Dalferth: "God first". Die reformatorische Revolution der christlichen Denkungsart.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2018.
304 S., br., 28,- [Euro].
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