Mark Wolfe ist unzufrieden. Sein Job als technischer Redakteur erfüllt ihn nicht, die Boshaftigkeit der Welt plagt ihn. Als sein Halbbruder Geoff in England seine Hilfe benötigt, verlässt er erstmals die USA. Geoff arbeitet als Berater im Fußballbusiness und hat offenbar einen ganz dicken Fisch an
der Angel. "Godwin" lautet der Vorname des afrikanischen Talents, dessen Videoaufnahmen an einen…mehrMark Wolfe ist unzufrieden. Sein Job als technischer Redakteur erfüllt ihn nicht, die Boshaftigkeit der Welt plagt ihn. Als sein Halbbruder Geoff in England seine Hilfe benötigt, verlässt er erstmals die USA. Geoff arbeitet als Berater im Fußballbusiness und hat offenbar einen ganz dicken Fisch an der Angel. "Godwin" lautet der Vorname des afrikanischen Talents, dessen Videoaufnahmen an einen neuen Messi erinnern. Das Problem ist: Niemand weiß, wo genau dieser Godwin zu finden ist. Als Geoff verletzungsbedingt ausfällt, ist es an Mark, sich auf die anscheinend aussichtslose Suche zu machen...
"Godwin" ist der neue Roman des gebürtigen Iren Joseph O'Neill, der in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Rowohlt erschienen ist. O'Neill stürmt dabei zunächst so erfrischend und unterhaltsam los, dass man glauben könnte, den Titel für den besten Fußballroman habe er schon sicher. Doch in der zweiten Halbzeit gibt es zu viel Ballgeschiebe und Geplänkel, bevor ihm in der Nachspielzeit das entscheidende Eigentor unterläuft.
In "Godwin" gibt es zwei Erzählstimmen. Neben Mark ist es dessen Vorgesetzte Lakesha Williams, eine glatte Businessfrau, die Mark durch dessen Beurlaubung überhaupt erst ermöglicht, die Suche nach dem Fußballtalent zu beginnen. Joseph O'Neill gelingt es ganz hervorragend, diese beiden Erzählstimmen auch komplett unterschiedlich klingen zu lassen. Die einzige Gemeinsamkeit ist der auffällige Einsatz der indirekten Rede, wenn sie ihre diversen Gesprächspartner:innen zitieren. Ansonsten erzählt Lakesha so, wie sie arbeitet: schnörkellos, effizient, ein wenig unnahbar. Mark Wolfe ist das genaue Gegenteil. Er ist ein Grübler, ein Haderer, der mit sich und der Welt nicht im Reinen ist. Immer wieder scheint in seinen Ausführungen der studierte Biologe durch. O'Neill begegnet diesen zwei Stimmen mit feinem Humor und Überspitzungen, die "Godwin" gerade zu Beginn zu einer unterhaltsamen und klugen Lektüre machen, auch wenn ihm einige Passagen dabei zu geschwätzig geraten.
Insbesondere die Teile, die von Mark erzählt werden, sind in der ersten Hälfte große Kunst. In den tragikomischen Ausführungen und dem absurden Humor erinnern sie in den besten Momenten gar an Knut Hamsuns "Hunger". Außerdem streut O'Neill immer wieder philosophische Ausführungen ein, denen man sich als Leser:in mit Genuss hingibt. Ein weiterer Pluspunkt sind die immer wieder mit viel Charme und Liebe erzählten Anekdoten aus der Fußballwelt. Ob Ernst Happel, Eusébio oder Youri Djorkaeff - O'Neill hat wunderbar recherchiert und schafft es, diese kleinen Schnipsel in die Handlung rund um "Godwin" einzuflechten, ohne dass dies bemüht wirkt.
Verantwortlich für diese Fußballgeschichten zeichnet übrigens Jean-Luc Lefebvre, ein französischer Talentscout, der zugleich die präsenteste Nebenfigur des Romans ist. Und dieser Lefebvre ist kurioserweise gleichermaßen in nicht geringem Maß dafür verantwortlich, dass sich die erste Hälfte eben so gut und unterhaltsam liest, die zweite aber zu einem Reinfall wird.
Denn in einer nahezu unerträglich langen Szene lässt O'Neilll Lefebvre Mark Wolfe und seine Frau Sushila in den USA besuchen. Auf sage und schreibe mehr als 100 Seiten erzählt Lefebvre von dessen Erlebnissen in Afrika und seiner Suche nach Godwin - und damit etwa ein Viertel des gesamten Buches. Unterbrochen wird dieser mit der Zeit unglaublich langweilige Monolog durch wenige Einschübe von Mark und Sushila oder von ein paar Streicheleinheiten für Marks Hund. Der Autor und Dramaturg Roland Schimmelpfennig, selbsternannter Kämpfer gegen die literarische Geschwätzigkeit, hätte seine helle Freude am Zusammenstreichen dieser Szene. Lefebvre lässt sich über afrikanische Mythen und Vorurteile aus und kommt dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Eine Schwäche, über die man noch hinwegsehen könnte, wenn da nicht auch noch das vermaledeite Ende des Buches wäre. Im letzten Abschnitt kommt wieder Lakesha zu Wort. O'Neill macht daraus eine Wundertüte. Ohne zu viel verraten zu wollen, bricht das Finale nicht nur mit inhaltlichen und erzählerischen Konventionen, sondern präsentiert der mittlerweile ermatteten Leserschaft eine Überraschung nach der anderen. Kann man machen, wäre das nicht alles so furchtbar überkonstruiert, unglaubwürdig und zynisch. O'Neill begeht darin den Fehler, selbst mit der Figur Godwin zu spielen - dabei ist es noch die kleinste zynische Anekdote, dass der Namensgeber des Buches nicht ein einziges Mal während der knapp 430 Seiten wirklich zu Wort kommt. Sprich: Die vordergründige Kritik des Romans am Fußball-Business und an der Globalisierung hintergeht der Autor selbst mit diesem vor Zynismus nur so triefenden Finale. Ein echtes Eigentor in der Nachspielzeit! So hinterlässt "Godwin" trotz der lesenswerten ersten 250 Seiten einen schalen Beigeschmack und ein Gefühl der Ernüchterung.