Viele Male hat Goethe im Lauf seines Lebens Ilmenau, sein thüringisches Arkadien, aufgesucht, zuletzt wenige Monate vor seinem Tod im August 1831. In jenen sechs Tagen, die den Handlungsrahmen für Sigrid Damms Buch abgeben, hält Goethe Rückschau auf sein Leben, erinnert sich an seine Frau Christiane, an die böhmischen Bäder, wo er zum letztenmal die Liebe erlebte, bis er, zurückgewiesen von der jungen Ulrike von Levetzow, sich seines Alters verzweifelt bewußt wird. Wie in allen ihren Büchern bringt uns Sigrid Damm auch den Alltag nahe: Goethe als großzügiger Gastgeber, der sein culinarisches Regiment mit Seltenheiten illustriert. Sie schildert bisher kaum berührte Seiten in Goethes Leben: sein schwieriges Verhältnis zu seinem Sohn in den letzten Jahren und das freudige zum kleinen Volk im zweiten Grade, zu seinen Enkeln, die er verwöhnt und für die er – nach dem Tod des Sohnes – die Vaterstelle einnimmt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2007Eheschließung im Kanonendonner
Lebenswinterlich: Sigrid Damm und Wolfgang Frühwald erzählen exemplarisch vom alten Goethe
Am Nachmittag des 14. Oktober 1806 endete die Schlacht von Jena und Auerstedt, in der die napoleonische Armee das Königreich Preußen vernichtend schlug, vor den Toren Weimars. Die letzten Kugeln sah man von Goethes Garten aus über die Stadt fliegen. Wenige Stunden später begannen mehr als 30 000 Soldaten die 7000 Einwohner der Stadt auszuplündern, Häuser anzuzünden, vereinzelt sogar Frauen zu vergewaltigen. Zwei Nächte und einen Tag stand Weimar am Abgrund. Dass die Stadt nicht komplett niederbrannte, war dem Umstand zu verdanken, dass vollkommene Windstille herrschte und dass kein zufälliger Funke in die Massen preußischen Schießpulvers fiel, das auf den Straßen herumlag.
Auch Johann Wolfgang Goethe geriet in Lebensgefahr. Französische „Löffelgardisten” – so genannt, weil sie ihre Holzlöffel zum Zeichen unstillbaren Hungers am Hut trugen – drangen nachts auf der Suche nach Wein und Essbarem bis in sein Schlafzimmer vor. Was sich dort genau abspielte, wissen wir nicht, weil Goethe sich darüber immer ausschwieg. Doch scheint Christiane Vulpius, die Lebensgefährtin und Mutter seines fünfzehnjährigen Sohnes, sich mit persönlichem Mut bewährt zu haben.
Fünf Tage später heiratete Goethe Christiane. Im Trauring war das Datum der Schlacht von Jena eingraviert. Die Weimarer Damen – Charlotte von Schiller, Charlotte von Stein – wisperten Bösartiges und verweigerten Glückwünsche. Die Allgemeine Zeitung – als publizistische Meinungsführerin im literarischen Leben immer für persönliche Attacken und Racheaktionen zu haben – kommentierte, mit der „unter Kanonendonner” vollzogenen Eheschließung habe Demoiselle Vulpius allein einen Treffer gezogen, „während viele tausend Nieten fielen”. Der Informant der ungenauen Meldung kam aus Weimar, verfasst hatte sie jener Karl August Böttiger, den Goethe im kleinen Kreis nur als „Arschgesicht” bezeichnete.
Der Germanist Wolfgang Frühwald erzählt diese Geschichte in einem nachdenklichen Vortrag über „Goethes Hochzeit”, der jetzt als schönes Insel-Bändchen erschienen ist. Frühwald beschreibt einen Vorgang gelingender Lebensbewältigung. Goethes Lebensumstände waren seit Schillers Tod verdüstert, eine schmerzhafte Nierenkrankheit plagte ihn, Sterbefälle im Umkreis bedrückten den neurotisch Todesscheuen. Die Kriegskatastrophe stellte seine Existenz in Frage. Mit seiner Ehe und ein daran geknüpftes modernes Verständnis von Liebe, Sexualität und Treue – nämlich ihrem Einklang – habe Goethe die Krise überwunden und zu neuem Lebensmut gefunden. Darum schlägt Frühwald den Bogen zu Goethes Erzählgedicht „Tagebuch” von 1810, das lange als obszön verschrieen war, weil es körperliche Details der Sexualität ungeniert benennt; dabei handelt es von bewahrter ehelicher Treue: Der „Meister Iste”, den eine süße Reisebekanntschaft schon zu vollen Prachten erregte, verweigert dann doch seinen Dienst – der Gedanke an die geliebte Ehefrau kommt dazwischen.
Damit habe Goethe die Konzeption einer Ehe veranschaulicht, in der die Luhmannsche „Liebe als Passion” auf Dauer gestellt wird; in der also die obszöne Trennung von Begehren, Sexualobjekt und Liebe aufgehoben ist. Goethes bürgerliches Verständnis von ehelicher Liebe ist das Gegenstück zum Don Giovanni, der in der Generation davor seinen brillanten Höllensturz vollzog. So sind in Frühwalds Augen auch Goethes knappe Verse zum Tod seiner Frau 1816, zehn Jahre nach der Schlacht, ganz glaubwürdig: „Der ganze Gewinn meines Lebens/ Ist ihren Verlust zu beweinen.”
Ein gelingendes Leben
Eine wundervolle Geschichte, die man zu Recht hinter einen tapetenhaft gestreiften Umschlag steckt. Frühwalds klug reflektierte Erzählung zeigt, dass nach Jahren der Textphilologie – spektakulär in Albrecht Schönes „Faust”-Edition – ein altes Interesse an Goethes Biographie wieder erwacht: die Neugier auf ein zwar gefährdetes, aber am Ende gelingendes Leben. Goethe war groß auch als Genie der Normalität, vermutet diese Neugier. Vor hundert Jahren kleidete sie sich in Bestseller, die Titel wie „Goethes Lebenskunst” trugen. Dann kam das Interesse am „pathologischen” Goethe auf, die Psychoanalyse seiner Neurosen und gesellschaftlichen Anpassungsleistungen, die Beschreibung seiner Ängste vor ehelicher Bindung und Tod. Der Preis der Klassizität schien lange Jahre in einem ruinierten Leben zu liegen.
Inzwischen aber sieht man wieder das Positive. Sigrid Damm, die vor zehn Jahren ein präzise dokumentiertes Buch über Goethes Frau Christiane vorlegte, hat sich nun seinem Verhältnis zum Altern und zum Sterben zugewendet. Ihr Buch „Goethes letzte Reise” findet seinen erzählerischen Ausgangspunkt in einem sentimentalen Ausflug, den Goethe zu seinem letzten Geburtstag 1831 mit seinen Enkeln nach Ilmenau unternahm; dort hatte er als Weimarer Geheimrat eines seiner ehrgeizigsten Vorhaben angestoßen und die schlimmste materielle Niederlage seines Lebens erlitten, in dem scheiternden Versuch, ein profitables Bergbau-Unternehmen zu gründen.
Diese in jeder Hinsicht steinige Geschichte erzählt Damm in langen Rückblicken, und daran knüpft sie die Entwicklung von Goethes mineralogischen und erdgeschichtlichen Interessen – ein Spezialgebiet, das der populären Goethe-Liebe eher fernliegt, das Damm aber geschickt und kenntnisreich aufbereitet. Doch natürlich geht es bei dieser „letzten Reise” um viel mehr. Sie führt den greisen Dichter ein letztes Mal auf den Gickelhahn, wo er in einer Jagdhütte sein todesahnendes Gedicht „Ein Gleiches” mit dem Vers „Warte nur! Balde/ Ruhest du auch” in die Bretterwand geritzt hatte. Das Bild des achtzigjährigen Goethe, der, begleitet von spielenden Kindern, seine Jugendverse mit tränenden Augen ein letztes Mal liest, hat schon viele Generationen berührt.
Diese letzte Reise bietet noch mehrere solcher bewegenden Anknüpfungen. Mitgenommen nämlich hat Goethe ein Glas, in das die Namen von Ulrike von Levetzow und ihrer Schwestern eingraviert sind – es war ihm bei seinem letzten böhmischen Kuraufenthalt 1823 von den Levetzows zum Geburtstag geschenkt worden. Damals war Goethe in Leidenschaft zu dem Mädchen Ulrike entflammt, eine Krise, die ihn in schwere Krankheit stürzte, aber auch die Stanzen der „Marienbader Elegie” entband.
Sigrid Damm beschreibt diese Episode als Goethes Eintritt in das Greisenalter; nun war es ihm nicht mehr möglich, das bevorstehende Ende zu verleugnen. Vorher aber kam noch der Tod seines Sohnes August, der vor einer misslingenden Ehe und einem bedrückenden Verhältnis zum Vater nach Italien geflohen war – wieder in den Spuren des Vaters –, wo er in Rom starb. Die Grabschrift, die Goethe selbst formulierte, nannte ihn nicht bei eigenem Namen, sondern nur: Goethe filius.
Der Vater bleibt am Leben, weil er noch den zweiten Teil des „Faust” beenden muss. Musivisch zitierend, im Berichtston meist kahl feststellend, entwickelt Damm halb dokumentarisch, nur gelegentlich die Lücken mit Suggestivfragen füllend, diese enorme Geschichte von Krankheiten, Toden und fortgesetzter Arbeit. „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung”, „Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen”, „Lange leben heißt viele überleben”, „wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen” – all diese Goethe-Sätze gewinnen neue Wucht in diesem lebenswinterlichen Buch, das den Goethe für die alternde Gesellschaft mit philologischer Umsicht entwirft.
Zuweilen irritieren allerdings stilistische Abstürze, so wenn gesagt wird, junge Mädchen hätten Goethe seit jeher „in Hochform” gebracht; oder wenn, jenseits der Quellen, gemutmaßt wird, Goethe sei von „Erinnerungen bestürmt” worden; gelegentlich füllen Vermutungen auch Lücken, die man durchaus offen lassen könnte: So sei Goethe in sein thüringisches Arkadien gekommen, „um das Gespräch mit der Erde zu führen; ein letztes Mal vielleicht”.
Was Sigrid Damm literarisch vorhatte, das hat eine noch bedeutendere Schriftstellerin, nämlich Natalia Ginzburg, vor zwanzig Jahren in ihrem Meisterwerk über die „Familie Manzoni” geleistet: aus reichen Quellen mit knappen verbindenden Zwischenworten die Geschichte großer Leiden und großer Worte neu zu inszenieren. Hätte man Damm nur etwa fünf Prozent Text weglektoriert, dann wäre sie dem großen Buch Ginzburgs nahegekommen.
Goethe, so schrieb Friedrich Gundolf, gebe es zweimal, als jungen und als alten Goethe. Unsere neubürgerliche Gegenwart schätzt den alten wieder, und das Leben ist ihr wichtiger als die Werke. Wer liest schon die „Wanderjahre”? Dabei wäre beispielsweise in der Novelle „Der Mann von funfzig Jahren” zu erkennen, wie Goethe, dieser angebliche „Zwischenfall ohne Folgen” (Nietzsche), den halben Thomas Mann vorweggenommen hat. GUSTAV SEIBT
WOLFGANG FRÜHWALD: Goethes Hochzeit. Insel-Bücherei Nr. 1294, Frankfurt am Main 2007. 79 Seiten, 11,80 Euro.
SIGRID DAMM: Goethes letzte Reise. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007. 364 Seiten, 19,80 Euro.
Die Heirat mit Christiane Vulpius (nach einer Zeichnung von Bury) war für Goethe auch eine Antwort auf die weltgeschichtlichen Erschütterungen. AKG/PA
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Lebenswinterlich: Sigrid Damm und Wolfgang Frühwald erzählen exemplarisch vom alten Goethe
Am Nachmittag des 14. Oktober 1806 endete die Schlacht von Jena und Auerstedt, in der die napoleonische Armee das Königreich Preußen vernichtend schlug, vor den Toren Weimars. Die letzten Kugeln sah man von Goethes Garten aus über die Stadt fliegen. Wenige Stunden später begannen mehr als 30 000 Soldaten die 7000 Einwohner der Stadt auszuplündern, Häuser anzuzünden, vereinzelt sogar Frauen zu vergewaltigen. Zwei Nächte und einen Tag stand Weimar am Abgrund. Dass die Stadt nicht komplett niederbrannte, war dem Umstand zu verdanken, dass vollkommene Windstille herrschte und dass kein zufälliger Funke in die Massen preußischen Schießpulvers fiel, das auf den Straßen herumlag.
Auch Johann Wolfgang Goethe geriet in Lebensgefahr. Französische „Löffelgardisten” – so genannt, weil sie ihre Holzlöffel zum Zeichen unstillbaren Hungers am Hut trugen – drangen nachts auf der Suche nach Wein und Essbarem bis in sein Schlafzimmer vor. Was sich dort genau abspielte, wissen wir nicht, weil Goethe sich darüber immer ausschwieg. Doch scheint Christiane Vulpius, die Lebensgefährtin und Mutter seines fünfzehnjährigen Sohnes, sich mit persönlichem Mut bewährt zu haben.
Fünf Tage später heiratete Goethe Christiane. Im Trauring war das Datum der Schlacht von Jena eingraviert. Die Weimarer Damen – Charlotte von Schiller, Charlotte von Stein – wisperten Bösartiges und verweigerten Glückwünsche. Die Allgemeine Zeitung – als publizistische Meinungsführerin im literarischen Leben immer für persönliche Attacken und Racheaktionen zu haben – kommentierte, mit der „unter Kanonendonner” vollzogenen Eheschließung habe Demoiselle Vulpius allein einen Treffer gezogen, „während viele tausend Nieten fielen”. Der Informant der ungenauen Meldung kam aus Weimar, verfasst hatte sie jener Karl August Böttiger, den Goethe im kleinen Kreis nur als „Arschgesicht” bezeichnete.
Der Germanist Wolfgang Frühwald erzählt diese Geschichte in einem nachdenklichen Vortrag über „Goethes Hochzeit”, der jetzt als schönes Insel-Bändchen erschienen ist. Frühwald beschreibt einen Vorgang gelingender Lebensbewältigung. Goethes Lebensumstände waren seit Schillers Tod verdüstert, eine schmerzhafte Nierenkrankheit plagte ihn, Sterbefälle im Umkreis bedrückten den neurotisch Todesscheuen. Die Kriegskatastrophe stellte seine Existenz in Frage. Mit seiner Ehe und ein daran geknüpftes modernes Verständnis von Liebe, Sexualität und Treue – nämlich ihrem Einklang – habe Goethe die Krise überwunden und zu neuem Lebensmut gefunden. Darum schlägt Frühwald den Bogen zu Goethes Erzählgedicht „Tagebuch” von 1810, das lange als obszön verschrieen war, weil es körperliche Details der Sexualität ungeniert benennt; dabei handelt es von bewahrter ehelicher Treue: Der „Meister Iste”, den eine süße Reisebekanntschaft schon zu vollen Prachten erregte, verweigert dann doch seinen Dienst – der Gedanke an die geliebte Ehefrau kommt dazwischen.
Damit habe Goethe die Konzeption einer Ehe veranschaulicht, in der die Luhmannsche „Liebe als Passion” auf Dauer gestellt wird; in der also die obszöne Trennung von Begehren, Sexualobjekt und Liebe aufgehoben ist. Goethes bürgerliches Verständnis von ehelicher Liebe ist das Gegenstück zum Don Giovanni, der in der Generation davor seinen brillanten Höllensturz vollzog. So sind in Frühwalds Augen auch Goethes knappe Verse zum Tod seiner Frau 1816, zehn Jahre nach der Schlacht, ganz glaubwürdig: „Der ganze Gewinn meines Lebens/ Ist ihren Verlust zu beweinen.”
Ein gelingendes Leben
Eine wundervolle Geschichte, die man zu Recht hinter einen tapetenhaft gestreiften Umschlag steckt. Frühwalds klug reflektierte Erzählung zeigt, dass nach Jahren der Textphilologie – spektakulär in Albrecht Schönes „Faust”-Edition – ein altes Interesse an Goethes Biographie wieder erwacht: die Neugier auf ein zwar gefährdetes, aber am Ende gelingendes Leben. Goethe war groß auch als Genie der Normalität, vermutet diese Neugier. Vor hundert Jahren kleidete sie sich in Bestseller, die Titel wie „Goethes Lebenskunst” trugen. Dann kam das Interesse am „pathologischen” Goethe auf, die Psychoanalyse seiner Neurosen und gesellschaftlichen Anpassungsleistungen, die Beschreibung seiner Ängste vor ehelicher Bindung und Tod. Der Preis der Klassizität schien lange Jahre in einem ruinierten Leben zu liegen.
Inzwischen aber sieht man wieder das Positive. Sigrid Damm, die vor zehn Jahren ein präzise dokumentiertes Buch über Goethes Frau Christiane vorlegte, hat sich nun seinem Verhältnis zum Altern und zum Sterben zugewendet. Ihr Buch „Goethes letzte Reise” findet seinen erzählerischen Ausgangspunkt in einem sentimentalen Ausflug, den Goethe zu seinem letzten Geburtstag 1831 mit seinen Enkeln nach Ilmenau unternahm; dort hatte er als Weimarer Geheimrat eines seiner ehrgeizigsten Vorhaben angestoßen und die schlimmste materielle Niederlage seines Lebens erlitten, in dem scheiternden Versuch, ein profitables Bergbau-Unternehmen zu gründen.
Diese in jeder Hinsicht steinige Geschichte erzählt Damm in langen Rückblicken, und daran knüpft sie die Entwicklung von Goethes mineralogischen und erdgeschichtlichen Interessen – ein Spezialgebiet, das der populären Goethe-Liebe eher fernliegt, das Damm aber geschickt und kenntnisreich aufbereitet. Doch natürlich geht es bei dieser „letzten Reise” um viel mehr. Sie führt den greisen Dichter ein letztes Mal auf den Gickelhahn, wo er in einer Jagdhütte sein todesahnendes Gedicht „Ein Gleiches” mit dem Vers „Warte nur! Balde/ Ruhest du auch” in die Bretterwand geritzt hatte. Das Bild des achtzigjährigen Goethe, der, begleitet von spielenden Kindern, seine Jugendverse mit tränenden Augen ein letztes Mal liest, hat schon viele Generationen berührt.
Diese letzte Reise bietet noch mehrere solcher bewegenden Anknüpfungen. Mitgenommen nämlich hat Goethe ein Glas, in das die Namen von Ulrike von Levetzow und ihrer Schwestern eingraviert sind – es war ihm bei seinem letzten böhmischen Kuraufenthalt 1823 von den Levetzows zum Geburtstag geschenkt worden. Damals war Goethe in Leidenschaft zu dem Mädchen Ulrike entflammt, eine Krise, die ihn in schwere Krankheit stürzte, aber auch die Stanzen der „Marienbader Elegie” entband.
Sigrid Damm beschreibt diese Episode als Goethes Eintritt in das Greisenalter; nun war es ihm nicht mehr möglich, das bevorstehende Ende zu verleugnen. Vorher aber kam noch der Tod seines Sohnes August, der vor einer misslingenden Ehe und einem bedrückenden Verhältnis zum Vater nach Italien geflohen war – wieder in den Spuren des Vaters –, wo er in Rom starb. Die Grabschrift, die Goethe selbst formulierte, nannte ihn nicht bei eigenem Namen, sondern nur: Goethe filius.
Der Vater bleibt am Leben, weil er noch den zweiten Teil des „Faust” beenden muss. Musivisch zitierend, im Berichtston meist kahl feststellend, entwickelt Damm halb dokumentarisch, nur gelegentlich die Lücken mit Suggestivfragen füllend, diese enorme Geschichte von Krankheiten, Toden und fortgesetzter Arbeit. „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung”, „Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen”, „Lange leben heißt viele überleben”, „wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen” – all diese Goethe-Sätze gewinnen neue Wucht in diesem lebenswinterlichen Buch, das den Goethe für die alternde Gesellschaft mit philologischer Umsicht entwirft.
Zuweilen irritieren allerdings stilistische Abstürze, so wenn gesagt wird, junge Mädchen hätten Goethe seit jeher „in Hochform” gebracht; oder wenn, jenseits der Quellen, gemutmaßt wird, Goethe sei von „Erinnerungen bestürmt” worden; gelegentlich füllen Vermutungen auch Lücken, die man durchaus offen lassen könnte: So sei Goethe in sein thüringisches Arkadien gekommen, „um das Gespräch mit der Erde zu führen; ein letztes Mal vielleicht”.
Was Sigrid Damm literarisch vorhatte, das hat eine noch bedeutendere Schriftstellerin, nämlich Natalia Ginzburg, vor zwanzig Jahren in ihrem Meisterwerk über die „Familie Manzoni” geleistet: aus reichen Quellen mit knappen verbindenden Zwischenworten die Geschichte großer Leiden und großer Worte neu zu inszenieren. Hätte man Damm nur etwa fünf Prozent Text weglektoriert, dann wäre sie dem großen Buch Ginzburgs nahegekommen.
Goethe, so schrieb Friedrich Gundolf, gebe es zweimal, als jungen und als alten Goethe. Unsere neubürgerliche Gegenwart schätzt den alten wieder, und das Leben ist ihr wichtiger als die Werke. Wer liest schon die „Wanderjahre”? Dabei wäre beispielsweise in der Novelle „Der Mann von funfzig Jahren” zu erkennen, wie Goethe, dieser angebliche „Zwischenfall ohne Folgen” (Nietzsche), den halben Thomas Mann vorweggenommen hat. GUSTAV SEIBT
WOLFGANG FRÜHWALD: Goethes Hochzeit. Insel-Bücherei Nr. 1294, Frankfurt am Main 2007. 79 Seiten, 11,80 Euro.
SIGRID DAMM: Goethes letzte Reise. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007. 364 Seiten, 19,80 Euro.
Die Heirat mit Christiane Vulpius (nach einer Zeichnung von Bury) war für Goethe auch eine Antwort auf die weltgeschichtlichen Erschütterungen. AKG/PA
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Sven Hanuschek ist nicht besonders begeistert von diesem Dokumentarroman, in dem sich die Autorin Sigrid Damm mit Goethes letzten Tagen befasst. Zwar ist seiner Meinung nach alles solide recherchiert - obwohl er "genaue Quellenangaben" dann doch vermisst - aber Überraschendes enthält das Buch eben doch nicht. Hanuschek vermisst "riskante Thesen" und auch aus akademischer Warte verspricht Damms Arbeit keinen Erkenntnisgewinn. Wer sich schon einmal, etwa anhand von Briefbänden, näher mit Goethe beschäftigt hat, wird kaum Neues erfahren. Zwar ist Damm an manchen Stellen durchaus kritisch, "Schattenseiten" werden nicht ausgespart. Unterm Strich jedoch sei das Buch nur "eine weitere Goethe-Glorifizierung, mit vielen schönen Details".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Damms Buch, eine anmutige, kunstvolle Erzählung von wunderbarer Leichtigkeit, findet so schnell nichts Ebenbürtiges. Mit Liebe, mit Sinn für das Winzige, das scheinbar nebensächliche Detail stellt es einen Goethe vor uns hin, wie man ihn sonst nicht zu sehen bekommt. Das Steife und Unzugängliche, alles Marmorne hat er hier verloren.« Klaus Bellin neues deutschland