Von den feuchten Hütten in Mumbai bis in toskanische Landvillen - »Goldschakal« ist ein schonungsloser Roman über die Ungleichheit der modernen Welt und wie sie auf die intimsten Beziehungen durchschlägt. »Pankaj Mishra verwandelt die intime Geschichte der bescheidenen Herkunft eines Mannes in das Kaleidoskop einer Gesellschaft, die von Macht und Reichtum geblendet ist - und ihre menschlichen Kosten. Ein spektakulärer, erhellender Roman.« Jennifer Egan Während Arun in einer kleinen Hütte neben den Eisenbahnschienen aufwächst, träumt er davon, den ärmlichen Verhältnissen seiner Familie zu entfliehen. Als er trotz seiner niedrigen Kaste am Indian Institute of Technology angenommen wird, scheint er endlich aus dem ewigen Kreislauf der Armut ausbrechen zu können. Auf dem Campus trifft er auf zwei Studenten aus ähnlichen Verhältnissen. Im Gegensatz zu dem verunsicherten Arun verfügen sie über den schieren Willen und das Selbstvertrauen, die gnadenlosen sozialen Schranken zu durchbrechen. Die Absolventen des IIT werden schließlich zu den Finanzgenies ihrer Generation, die von East Hampton bis in die Toskana ebenso hart arbeiten wie sie ausgelassen leben. Während seine Freunde einer nie dagewesenen finanziellen und sexuellen Freiheit hinterherjagen, beschließt Arun, ein Leben als Schriftsteller zu führen, und zieht sich mit seiner alternden Mutter in ein kleines Dorf im Himalaya zurück. Die bescheidene Idylle der Zurückgezogenheit wird gestört, als Alia auftaucht, eine junge Frau, die über Aruns Klassenkameraden schreibt. Sie ist schön, gebildet und belesen - und zieht Arun zurück in die glitzernde Welt der Luxusapartments in London, New York und Mumbai. Kurz darauf wird er in eine schreckliche Gewalttat verwickelt, die von seinem engsten Freund begangen wurde, und Arun muss mit der Person abrechnen, die er geworden ist. »Goldschakal« ist ein eindringlicher Roman über die moralischen und emotionalen Kosten materiellen Fortschritts. Es ist die Geschichte eines Landes und einer globalen Ordnung im Umbruch und den Ungleichheiten von Klasse und Geschlecht, die auf unsere intimsten Beziehungen durchschlagen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Daran geglaubt und alles verloren
Haltlos, hilflos: In
seinem neuen Roman zeichnet Pankaj Mishra ein bestürzendes Bild vom Leben und Streben im modernen Indien.
Von Fridtjof Küchemann
Er möge sein Leben nicht von der Vergangenheit bestimmen lassen, hatte ihm der Freund das eine ums andere Mal gesagt, mehr noch: Regelrecht herumtrampeln müsse man auf der eigenen Geschichte, auch wenn es sich anfangs anfühlte, als zerträte man einen Garten. "Zuletzt ist es einfach nur noch der Boden, auf dem du gehst."
Man kann Aseem, der sich in Pankaj Mishras Roman "Goldschakal" diese Empfehlung aus einem Roman von V. S. Naipaul zu eigen gemacht hat, nicht vorwerfen, er wäre dem Rat nicht selbst gefolgt: Vielleicht ist er unter den drei jungen Männern, die sich im ersten Semester am Indian Institute of Technology (IIT) in Delhi ein Wohnheimzimmer und die Initiationserfahrung gemeinsamer ritueller Demütigungen durch die höheren Semester teilten, derjenige, der dabei mit der größten Entschlossenheit zugetreten hat.
Bei Virendra, der aus der Kaste der Unberührbaren den weitesten Weg ans IIT und von dort ins Milliardengeschäft der amerikanischen Hedgefonds zurückgelegt hat, war es eher Unbedarftheit. Und bei Arun, dem Erzähler in Mishras Buch? Nicht dass nicht auch der ehemalige Maschinenbaustudent, der sich schließlich dem Übersetzen von Hindi-Literatur zuwendet, seine Herkunft mit Füßen getreten hätte. Aber er hat dabei hingesehen. Seine teils wohl-, teils hilflos gesetzten Schritte und Fehltritte, während er den Boden unter den Füßen verliert, bilden den Kern des dreißig Jahre umspannenden Romans.
Dass Arun dabei hemmungslos sich selbst ins Zentrum seiner Erzählung stellt, ist kein Wunder: Seine Niederschrift konzipiert Mishra als eine Art Brief an die frühere Geliebte, als Erklärung, Rechtfertigung, Überdenken nach dem zunächst wortlosen Abbruch einer Beziehung, notiert, nachdem sich Arun aus der Londoner Wohnung der schwerreichen indisch-muslimischen Schönheit Alia zurück an die Hänge des Himalajas geflüchtet hat. Dem Autor gestattet diese Konstruktion, zwanzig Jahre nach seinem ersten und bislang letzten Roman "Die Romantiker", zugleich hemmungslose - und für seine Leser ungemein ergiebige - Ausflüge in die publizistischen Bereiche, mit denen er seitdem zu einem viel beachteten Ausdeuter, Kommentator und Kritiker des heutigen Indiens geworden ist: die Analyse, das Gesellschaftsbild, den Essay.
Die Liebesgeschichte zwischen dem zurückgezogen lebenden Übersetzer und der welt- und mediengewandten deutlich jüngeren Frau gestaltet Pankaj Mishra ohne sonderliche Originalität, Alia hat erkennbar einzig die Funktion, Arun zurückzulocken in die heutige Welt, ihm in der Rückschau aufgeklärte Diskursanlässe zu den Themen Klasse, Kaste, Religion und Geschlecht zu bieten, eine intellektuelle und aktivistische Komplementärposition zu Aruns einstigen Weggefährten einzunehmen und ihm mit ihrem eigenen Buchprojekt, einer "geheimen Geschichte der Globalisierung", für das sie die Karrieren indischstämmiger Wirtschafts-und Finanzgrößen nachzeichnet, den Anlass zu geben, aus eigener Anschauung zu ergänzen, was Alia aus Gesprächen und Aufzeichnungen kaum rekonstruieren kann.
Die Kindheitserinnerungen Aruns, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Armut im Leben an den Bahngleisen, die Rituale, mit denen die Mutter, und die Lügen, mit denen der Vater sein Leben einrichtet, gehören zu den eindringlichsten Passagen des Romans. Später wird sein Vater die Familie verlassen und Arun seine Mutter zu sich ins Bergdorf holen. Dort wird die alte Nachbarin Naazku ihre Vertraute, eine von Unterernährung und harter Arbeit gezeichnete Frau, die in ihrer Lehmhütte auf einer Waldlichtung davon lebt, das Gras auf dem Hügel mit einer Sichel zu schneiden und an die Kuhhalter der Gegend zu verkaufen. Als Arun zum ersten Mal mit Alia das Dorf verlässt, für ein paar Tage in Pondicherry, stirbt die Mutter, und Arun kehrt nicht einmal für die Trauerriten nach Hause zurück.
Woran liegt es, dass diese Szenen - zumindest dem westlichen Leser - viel mehr zu sagen haben als alles, was sich an den ungleich vertrauteren Schauplätzen des Romans zuträgt, im südindischen Strandhotel, auf internationalen Ideen-Festivals oder Londoner Parties, bei denen die Gäste Fürsorge, Gerechtigkeitssinn und Haltung für die ganze Welt ausstellen? Alia hat Arun in diese Welt eingeführt, ohne dass er sich - wie Aseem und Virendra - darin einen Platz erkämpfen musste. Der Erzähler muss der Adressatin seiner Niederschrift nichts erzählen. Anders bei der Armut, die Alia nie selbst kennengelernt hat.
Wie könnten die Armen wissen, wie ihnen geschieht? "Der Besitz eines Hügels machte sie in einer von Immobilienspekulationen angetriebenen Volkswirtschaft potenziell zu einer mehrfachen Millionärin", hält Arun über die Nachbarin Naazku nüchtern fest. Er muss mit ansehen, wie die Alte, unfähig zu verstehen, was ihr zusteht, umgarnt und ausgebeutet wird. Bauland entsteht. Das Dorf verliert sein Gesicht. Die Menschen verlieren ihren Halt.
Für die Generation der drei Weggefährten, von denen zwei im Gefängnis landen, zeichnet Pankaj Mishra ein Bild der Ratlosigkeit, der Fluchtimpulse angesichts der Lebensumstände der Eltern - bei Aseem ist es offene Verachtung - bei deren Hoffnung, die Kinder könnten mit ihrer teuren Ausbildung die ganze Familie aus dem Elend führen. Sein Gegenbild einer heutigen Jugend ist nicht weniger bestürzend: Arun zumindest sieht sie "ihrer ursprünglichen Heimat, ihrer bescheidenen, aber stabilen Lebensgrundlage und ihrer fatalistischen, aber tröstlichen Religion beraubt". Ihr fehle sogar der kleine Vorteil, den Arun am Ende seines Weges nutzt, "ein Ort, an den sie zurücklaufen konnten, um sich dort zu verstecken".
Pankaj Mishra: "Goldschakal". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Haltlos, hilflos: In
seinem neuen Roman zeichnet Pankaj Mishra ein bestürzendes Bild vom Leben und Streben im modernen Indien.
Von Fridtjof Küchemann
Er möge sein Leben nicht von der Vergangenheit bestimmen lassen, hatte ihm der Freund das eine ums andere Mal gesagt, mehr noch: Regelrecht herumtrampeln müsse man auf der eigenen Geschichte, auch wenn es sich anfangs anfühlte, als zerträte man einen Garten. "Zuletzt ist es einfach nur noch der Boden, auf dem du gehst."
Man kann Aseem, der sich in Pankaj Mishras Roman "Goldschakal" diese Empfehlung aus einem Roman von V. S. Naipaul zu eigen gemacht hat, nicht vorwerfen, er wäre dem Rat nicht selbst gefolgt: Vielleicht ist er unter den drei jungen Männern, die sich im ersten Semester am Indian Institute of Technology (IIT) in Delhi ein Wohnheimzimmer und die Initiationserfahrung gemeinsamer ritueller Demütigungen durch die höheren Semester teilten, derjenige, der dabei mit der größten Entschlossenheit zugetreten hat.
Bei Virendra, der aus der Kaste der Unberührbaren den weitesten Weg ans IIT und von dort ins Milliardengeschäft der amerikanischen Hedgefonds zurückgelegt hat, war es eher Unbedarftheit. Und bei Arun, dem Erzähler in Mishras Buch? Nicht dass nicht auch der ehemalige Maschinenbaustudent, der sich schließlich dem Übersetzen von Hindi-Literatur zuwendet, seine Herkunft mit Füßen getreten hätte. Aber er hat dabei hingesehen. Seine teils wohl-, teils hilflos gesetzten Schritte und Fehltritte, während er den Boden unter den Füßen verliert, bilden den Kern des dreißig Jahre umspannenden Romans.
Dass Arun dabei hemmungslos sich selbst ins Zentrum seiner Erzählung stellt, ist kein Wunder: Seine Niederschrift konzipiert Mishra als eine Art Brief an die frühere Geliebte, als Erklärung, Rechtfertigung, Überdenken nach dem zunächst wortlosen Abbruch einer Beziehung, notiert, nachdem sich Arun aus der Londoner Wohnung der schwerreichen indisch-muslimischen Schönheit Alia zurück an die Hänge des Himalajas geflüchtet hat. Dem Autor gestattet diese Konstruktion, zwanzig Jahre nach seinem ersten und bislang letzten Roman "Die Romantiker", zugleich hemmungslose - und für seine Leser ungemein ergiebige - Ausflüge in die publizistischen Bereiche, mit denen er seitdem zu einem viel beachteten Ausdeuter, Kommentator und Kritiker des heutigen Indiens geworden ist: die Analyse, das Gesellschaftsbild, den Essay.
Die Liebesgeschichte zwischen dem zurückgezogen lebenden Übersetzer und der welt- und mediengewandten deutlich jüngeren Frau gestaltet Pankaj Mishra ohne sonderliche Originalität, Alia hat erkennbar einzig die Funktion, Arun zurückzulocken in die heutige Welt, ihm in der Rückschau aufgeklärte Diskursanlässe zu den Themen Klasse, Kaste, Religion und Geschlecht zu bieten, eine intellektuelle und aktivistische Komplementärposition zu Aruns einstigen Weggefährten einzunehmen und ihm mit ihrem eigenen Buchprojekt, einer "geheimen Geschichte der Globalisierung", für das sie die Karrieren indischstämmiger Wirtschafts-und Finanzgrößen nachzeichnet, den Anlass zu geben, aus eigener Anschauung zu ergänzen, was Alia aus Gesprächen und Aufzeichnungen kaum rekonstruieren kann.
Die Kindheitserinnerungen Aruns, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Armut im Leben an den Bahngleisen, die Rituale, mit denen die Mutter, und die Lügen, mit denen der Vater sein Leben einrichtet, gehören zu den eindringlichsten Passagen des Romans. Später wird sein Vater die Familie verlassen und Arun seine Mutter zu sich ins Bergdorf holen. Dort wird die alte Nachbarin Naazku ihre Vertraute, eine von Unterernährung und harter Arbeit gezeichnete Frau, die in ihrer Lehmhütte auf einer Waldlichtung davon lebt, das Gras auf dem Hügel mit einer Sichel zu schneiden und an die Kuhhalter der Gegend zu verkaufen. Als Arun zum ersten Mal mit Alia das Dorf verlässt, für ein paar Tage in Pondicherry, stirbt die Mutter, und Arun kehrt nicht einmal für die Trauerriten nach Hause zurück.
Woran liegt es, dass diese Szenen - zumindest dem westlichen Leser - viel mehr zu sagen haben als alles, was sich an den ungleich vertrauteren Schauplätzen des Romans zuträgt, im südindischen Strandhotel, auf internationalen Ideen-Festivals oder Londoner Parties, bei denen die Gäste Fürsorge, Gerechtigkeitssinn und Haltung für die ganze Welt ausstellen? Alia hat Arun in diese Welt eingeführt, ohne dass er sich - wie Aseem und Virendra - darin einen Platz erkämpfen musste. Der Erzähler muss der Adressatin seiner Niederschrift nichts erzählen. Anders bei der Armut, die Alia nie selbst kennengelernt hat.
Wie könnten die Armen wissen, wie ihnen geschieht? "Der Besitz eines Hügels machte sie in einer von Immobilienspekulationen angetriebenen Volkswirtschaft potenziell zu einer mehrfachen Millionärin", hält Arun über die Nachbarin Naazku nüchtern fest. Er muss mit ansehen, wie die Alte, unfähig zu verstehen, was ihr zusteht, umgarnt und ausgebeutet wird. Bauland entsteht. Das Dorf verliert sein Gesicht. Die Menschen verlieren ihren Halt.
Für die Generation der drei Weggefährten, von denen zwei im Gefängnis landen, zeichnet Pankaj Mishra ein Bild der Ratlosigkeit, der Fluchtimpulse angesichts der Lebensumstände der Eltern - bei Aseem ist es offene Verachtung - bei deren Hoffnung, die Kinder könnten mit ihrer teuren Ausbildung die ganze Familie aus dem Elend führen. Sein Gegenbild einer heutigen Jugend ist nicht weniger bestürzend: Arun zumindest sieht sie "ihrer ursprünglichen Heimat, ihrer bescheidenen, aber stabilen Lebensgrundlage und ihrer fatalistischen, aber tröstlichen Religion beraubt". Ihr fehle sogar der kleine Vorteil, den Arun am Ende seines Weges nutzt, "ein Ort, an den sie zurücklaufen konnten, um sich dort zu verstecken".
Pankaj Mishra: "Goldschakal". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Alex Rühle schätzt den indisch-britischen Autor Pankaj Mishra als wichtigen Essayisten in den Diskussionen um globale Ungerechtigkeiten. In Mishras erstem Roman "Goldschakal" findet Rühle ebenfalls viele Thesen, aber das ist das einzig Positive, was er darüber zu sagen hat. Oberflächlich, hölzern und konstruiert findet Rühle die Geschichte um drei Freunde, die sich aus ärmsten Verhältnisse hocharbeiten: Das Finanzgenie wird Milliardär, der Intellektuelle ein abgehobener Glamourjournalist, der dritte ein vorbildlicher Übersetzer von Hindi-Literatur, wie der Rezensent skizziert. Die holzschnittartigen Figuren sind schon absurd, meint Rühle, aber geradezu lachhaft sei die Erzählsituation: Es ist der Abschiedsbrief ebendieses Übersetzers an seine schöne, aber neureiche Geliebte, ein vierhundertseitiger Monolog darüber, dass sie zu doof war, seine Brillanz zu erkennen, wie Rühle mit einschlägigen Zitaten darlegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2023Die ganze Masse meiner Gedanken
Pankaj Mishra ist ein einflussreicher Essayist unserer Zeit. Nach seinem neuen Roman „Goldschakal“ wünscht man sich, er wäre einfach dabei geblieben
Pankaj Mishra zählt zu den einflussreichsten, meistdiskutierten Essayisten unserer Tage. In „Zeitalter des Zorns“ untersuchte der indisch-britische Publizist, wie Autokraten weltweit chauvinistische Ressentiments bedienen und Unterlegenheitsgefühle breiter Bevölkerungsschichten in populistischen Zorn umschmelzen. Mit der Aufsatzsammlung „Freundliche Fanatiker“ attackierte er von verschiedenen Seiten den „Westen“ beziehungsweise das narzisstische Weltbild, in dem wir Europäer und Amerikaner uns so gemütlich eingerichtet haben, die vermeintlich überlegenen Wirtschafts- und Politiksysteme, unsere heimliche Verachtung für das Andere, also Asien und Afrika.
Zwar fing Mishra irgendwann an, mit fast schon grotesker Arroganz Noten an die ganze Welt zu verteilen – Rushdie? Viel zu unterkomplex. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates? Zu kompromisslerisch im Denken. Es war trotzdem immer gewinnbringend, durch seine Texte zu streifen. Jetzt also ein neues Buch von ihm, diesmal ein Roman. Steht zumindest außen drauf. Und in Romanen geht es ja meist um Menschen aus Fleisch und Blut.
Arun, Virendra, Aseem, drei junge Inder aus einfachsten Verhältnissen, haben das Glück, einen Platz am Indian Institute of Technology in Delhi zu ergattern, der berühmten Uni, an der der aktuelle Google-CEO Sundar Pichai genauso studiert hat wie Rajat Gupta, der erste im Ausland geborene Geschäftsführer von McKinsey. Die drei Jungs werden zu Beginn des Studiums im drastischen Sinne zusammengeschweißt, sie müssen einander sexuell befriedigen, wieder und wieder, unter den höhnischen Zurufen älterer Studenten, eines dieser Demütigungsrituale, die man im nächsten Semester sofort weitergibt an die dann neuen Kommilitonen.
In einer der stärksten Szenen schildert Mishra, wie die bettelarmen Eltern ihre Söhne in den Räumen des IIT abgeben und währenddessen versuchen, selbstbewusst aufzutreten, was kläglich misslingt, viel zu lange, viel zu tief haben sich Herkunftsscham und Anerkennungshunger in ihren Körpern eingenistet, als dass sie sich plötzlich souverän bewegen könnten. Ihre Söhne werden das Gefühl, immer nur zu bluffen, und die damit einhergehende Angst, als Scharlatan aufzufliegen, genauso wenig abschütteln können wie ein diffuses Schuldgefühl aufgrund des Verrats an der eigenen Klasse.
In diesen Passagen ist Mishra in seinem Element, als kosmopolitisch geschulter Ethnologe seines eigenen Landes kennt er die kulturellen und sozialen Abschottungscodes bis hin zur Knopfform angesagter indischer Hemdenfabrikate. Als Essayist und Theoretiker kann er Pierre Bourdieus Studie über „Die feinen Unterschiede“ existenziell zuspitzen: Die Codes, die man sehr früh aufgesaugt haben muss, um sie wirklich lässig zu beherrschen, sind in der ostentativ grausamen Kastengesellschaft noch weit ausgefeilter und zugleich überlebensnotwendiger als im arroganten Paris.
Seine Helden also, „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, machen sich auf in die globalisierten Festjahre des neoliberalen Erfolgsnarzissmus. Virendra wird Milliardär. Was einem ja auch nicht alle Tage passiert, erst recht nicht als völlig mittelloses Landei. Ein, zwei Absätze dazu, wie Virendra von A wie Ahmedabad nach B wie Boston gekommen ist, wären da doch interessant gewesen. Aber nein, er ist halt jetzt „Finanzgenie“ und Milliardär. Konkret erfährt man nur, dass er Blowjobs von russischen Blondinen liebt. Nach etwa 300 Seiten bringt er sich um, vielleicht weil er bis dahin jede Hoffnung fahren lassen musste, von seinem Autor doch noch als dreidimensionale Figur porträtiert zu werden.
Aseem wird Impresario seiner selbst. Er gründet eine bald schon angesagte linksliberale Zeitschrift, schmeißt die angesagtesten Partys von Delhi, lanciert ein Ideen-Festival und merkt nicht, wie sein Engagement langsam zur hochmütigen Pose gerinnt. Modern zu sein, bedeutet ihm, die Vergangenheit mit Füßen zu treten, sich aggressiv loszusagen von seiner staubigen Herkunft. Früh wird klar, dass dieser Aseem Schuld auf sich geladen hat und von der Spitze der Anerkennungspyramide in die Dunkelheit irgendeiner Gefängniszelle gestürzt ist. Eigentlich müsste das Spannung erzeugen.
Arun, der Erzähler, zieht sich erst mal zurück, in ein Dorf am Fuße des Himalaja, wo er sich um seine alte Mutter kümmert und Hindi-Autoren übersetzt (das Dorf liegt in dem indischen Distrikt, in dem Mishra selbst Anfang der Neunzigerjahre seine Autorenkarriere begann). Irgendwann aber verliebt er sich in Alia, eine sehr schöne, sehr reiche Frau, die an einem Interviewbuch über die Aufsteiger des Subkontinents arbeitet und so auf das Männer-Trio stößt. Arun wird durch Alia in die Welt der Galapartys, Clubs und Unternehmer gespült und ist bald schon so abgestoßen vom Treiben dieser neureichen Elite, dass darüber auch die Liebe zu Alia verloren geht. Das Buch ist der außerordentlich lange Brief zum extrem kurzen Abschied, eine Art Lebensbeichte, in der er dieser Frau sein Leben zu erzählen versucht und warum er sie am Ende einfach wortlos verlassen hat, was man aber nach den 417 Seiten immer noch nicht versteht.
Die Erzählsituation erinnert zunächst stark an Aravind Adigas „Der weiße Tiger“, in dem ein junger Mann seinen Aufstieg vom mittellosen Dorfjungen zum Taxi-Unternehmer ebenfalls in Briefform erzählt. Genauer gesagt in sieben langen E-Mails, in denen der ehemalige Chauffeur einer reichen Familie in Delhi Wen Jiabao, dem damaligen Premierminister von China, erklärt, warum er leider seinen Herren umbringen musste, um so richtig ins Geschäft einsteigen zu können. Dieser Schelmenroman erschien 2008, auf dem Scheitelpunkt des indischen Hypes, der Subkontinent war plötzlich das Callcenter der westlichen Welt geworden, 300 Millionen Inder fuhren im Globalisierungsaufzug in Richtung eines bescheidenen – oder auch extrem unbescheidenen – Reichtums.
Adigas Buch war wie ein Fenster in eine weite, wilde Welt, man glaubte zuschauen zu können, wie aus den Seiten des Buches und den staubigen Gassenlabyrinthen einer dysfunktionalen Gesellschaft glitzernde Malls emporwuchern. Pankaj Mishra dagegen spinnt sich immer tiefer ein in den Kokon seines seltsam kontaktgestörten Erzählmuffels. Er lässt seinen Arun kluge Thesen über den zwanghaften Hedonismus der Neureichen von sich geben. Er schaut durch die gleißend helle Fassade ihrer Villen in den dunklen Hinterhof ihrer Verlorenheitsangst. Er vermag die Auswüchse der internationalen Immobiliengier zu beschreiben, die sogar die abgelegensten Hochtaldörfer Nordindiens über Nacht in Großbaustellen verwandelt. Aber die Figuren, um die es ihm doch angeblich geht, die bleiben allesamt völlig blass und papiern. So viele Thesen, so wenig Leben.
Das Buch krankt vor allem an der Gesprächssituation des Briefs ohne Antwort. 417 Seiten redet Arun auf Alia ein, ohne dass sie je die Möglichkeit zu wirklicher Gegenrede bekäme. Sie bleibt mit ihren hochhackigen Stiefeln und ihrer diffus behaupteten Schönheit mehr Projektion als Mensch. Die beiden haben natürlich geschmeidigen Sex, Alia ist stets sanft um ihn besorgt und ein dankbares Gefäß für seine wertvollen Gedanken, was nach ziemlich verschwitzter Metaphorik klingt, aber er sagt es ja selbst so: „Erneut versuchte ich vielleicht zu sehr, dich zu beeindrucken, war zu sehr darauf bedacht, die ganze Masse meiner nicht geteilten Gedanken und Gefühle in dich hineinzuspülen.“
Oh, hofft man zart, zweimal „zu sehr“, merkt Arun gerade, dass er an Monologitis leidet? Hält er vielleicht jetzt einfach mal die Klappe und lässt sie wirklich zu Wort kommen? Aber denkste, im Gegenteil, es geht so weiter: „Wir sprachen über die Zukunft des Dorfes. Konntest du spüren, wie sehr ich mir wünschte, dass du siehst, was ich gesehen habe?“ Ein Erzähler, der seine Geliebte erst komplett mit seinen Gedanken und Gefühlen fluten möchte, auf dass sie dann bitte auch noch mit seinen eigenen Augen auf die Welt schauen möge, eignet sich schlecht dazu, andere wirklich sichtbar zu machen.
Vollends absurd oder schlicht tapsig unbeholfen wird es, wenn Arun seiner Alia immer wieder seitenweise schreibt, was sie alles so getan hat in ihrem Leben, schließlich dürfte sie das sehr viel besser wissen als er. Irgendwann möchte man auf diesen nicht endenden Brief nur ein Telegramm zurückschicken: „Geh nach draußen, Arun!“ Aber da hat er sich schon dazu entschlossen, in einer dunklen tibetischen Zelle in Richtung Seelenheil zu meditieren.
Wer einen Roman lesen möchte über das neoliberale Indien und die schwarzen Schatten, die der Wirtschaftsboom auf den Subkontinent wirft, der nehme lieber Aravind Adiga zur Hand. Wer es gern theoretisch hat, greife zu Suketu Mehta, der mit „Maximum City“ das ultimative Buch über Megacitys in Zeiten des Hyperkapitalismus geschrieben hat. Pankaj Mishra aber sollte besser bei seinen Essays bleiben. Da muss er nicht viel zu dünne fiktive Figuren als Kleiderpuppen für seine Thesenstoffe missbrauchen.
ALEX RÜHLE
Das Buch krankt vor allem
an der Gesprächssituation
des Briefs ohne Antwort
Die Romanfiguren sind „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, steigen selbst aber in die Klasse der Reichen auf.
Foto: Afp
Pankaj Mishra: Goldschakal. Roman. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Pankaj Mishra ist ein einflussreicher Essayist unserer Zeit. Nach seinem neuen Roman „Goldschakal“ wünscht man sich, er wäre einfach dabei geblieben
Pankaj Mishra zählt zu den einflussreichsten, meistdiskutierten Essayisten unserer Tage. In „Zeitalter des Zorns“ untersuchte der indisch-britische Publizist, wie Autokraten weltweit chauvinistische Ressentiments bedienen und Unterlegenheitsgefühle breiter Bevölkerungsschichten in populistischen Zorn umschmelzen. Mit der Aufsatzsammlung „Freundliche Fanatiker“ attackierte er von verschiedenen Seiten den „Westen“ beziehungsweise das narzisstische Weltbild, in dem wir Europäer und Amerikaner uns so gemütlich eingerichtet haben, die vermeintlich überlegenen Wirtschafts- und Politiksysteme, unsere heimliche Verachtung für das Andere, also Asien und Afrika.
Zwar fing Mishra irgendwann an, mit fast schon grotesker Arroganz Noten an die ganze Welt zu verteilen – Rushdie? Viel zu unterkomplex. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates? Zu kompromisslerisch im Denken. Es war trotzdem immer gewinnbringend, durch seine Texte zu streifen. Jetzt also ein neues Buch von ihm, diesmal ein Roman. Steht zumindest außen drauf. Und in Romanen geht es ja meist um Menschen aus Fleisch und Blut.
Arun, Virendra, Aseem, drei junge Inder aus einfachsten Verhältnissen, haben das Glück, einen Platz am Indian Institute of Technology in Delhi zu ergattern, der berühmten Uni, an der der aktuelle Google-CEO Sundar Pichai genauso studiert hat wie Rajat Gupta, der erste im Ausland geborene Geschäftsführer von McKinsey. Die drei Jungs werden zu Beginn des Studiums im drastischen Sinne zusammengeschweißt, sie müssen einander sexuell befriedigen, wieder und wieder, unter den höhnischen Zurufen älterer Studenten, eines dieser Demütigungsrituale, die man im nächsten Semester sofort weitergibt an die dann neuen Kommilitonen.
In einer der stärksten Szenen schildert Mishra, wie die bettelarmen Eltern ihre Söhne in den Räumen des IIT abgeben und währenddessen versuchen, selbstbewusst aufzutreten, was kläglich misslingt, viel zu lange, viel zu tief haben sich Herkunftsscham und Anerkennungshunger in ihren Körpern eingenistet, als dass sie sich plötzlich souverän bewegen könnten. Ihre Söhne werden das Gefühl, immer nur zu bluffen, und die damit einhergehende Angst, als Scharlatan aufzufliegen, genauso wenig abschütteln können wie ein diffuses Schuldgefühl aufgrund des Verrats an der eigenen Klasse.
In diesen Passagen ist Mishra in seinem Element, als kosmopolitisch geschulter Ethnologe seines eigenen Landes kennt er die kulturellen und sozialen Abschottungscodes bis hin zur Knopfform angesagter indischer Hemdenfabrikate. Als Essayist und Theoretiker kann er Pierre Bourdieus Studie über „Die feinen Unterschiede“ existenziell zuspitzen: Die Codes, die man sehr früh aufgesaugt haben muss, um sie wirklich lässig zu beherrschen, sind in der ostentativ grausamen Kastengesellschaft noch weit ausgefeilter und zugleich überlebensnotwendiger als im arroganten Paris.
Seine Helden also, „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, machen sich auf in die globalisierten Festjahre des neoliberalen Erfolgsnarzissmus. Virendra wird Milliardär. Was einem ja auch nicht alle Tage passiert, erst recht nicht als völlig mittelloses Landei. Ein, zwei Absätze dazu, wie Virendra von A wie Ahmedabad nach B wie Boston gekommen ist, wären da doch interessant gewesen. Aber nein, er ist halt jetzt „Finanzgenie“ und Milliardär. Konkret erfährt man nur, dass er Blowjobs von russischen Blondinen liebt. Nach etwa 300 Seiten bringt er sich um, vielleicht weil er bis dahin jede Hoffnung fahren lassen musste, von seinem Autor doch noch als dreidimensionale Figur porträtiert zu werden.
Aseem wird Impresario seiner selbst. Er gründet eine bald schon angesagte linksliberale Zeitschrift, schmeißt die angesagtesten Partys von Delhi, lanciert ein Ideen-Festival und merkt nicht, wie sein Engagement langsam zur hochmütigen Pose gerinnt. Modern zu sein, bedeutet ihm, die Vergangenheit mit Füßen zu treten, sich aggressiv loszusagen von seiner staubigen Herkunft. Früh wird klar, dass dieser Aseem Schuld auf sich geladen hat und von der Spitze der Anerkennungspyramide in die Dunkelheit irgendeiner Gefängniszelle gestürzt ist. Eigentlich müsste das Spannung erzeugen.
Arun, der Erzähler, zieht sich erst mal zurück, in ein Dorf am Fuße des Himalaja, wo er sich um seine alte Mutter kümmert und Hindi-Autoren übersetzt (das Dorf liegt in dem indischen Distrikt, in dem Mishra selbst Anfang der Neunzigerjahre seine Autorenkarriere begann). Irgendwann aber verliebt er sich in Alia, eine sehr schöne, sehr reiche Frau, die an einem Interviewbuch über die Aufsteiger des Subkontinents arbeitet und so auf das Männer-Trio stößt. Arun wird durch Alia in die Welt der Galapartys, Clubs und Unternehmer gespült und ist bald schon so abgestoßen vom Treiben dieser neureichen Elite, dass darüber auch die Liebe zu Alia verloren geht. Das Buch ist der außerordentlich lange Brief zum extrem kurzen Abschied, eine Art Lebensbeichte, in der er dieser Frau sein Leben zu erzählen versucht und warum er sie am Ende einfach wortlos verlassen hat, was man aber nach den 417 Seiten immer noch nicht versteht.
Die Erzählsituation erinnert zunächst stark an Aravind Adigas „Der weiße Tiger“, in dem ein junger Mann seinen Aufstieg vom mittellosen Dorfjungen zum Taxi-Unternehmer ebenfalls in Briefform erzählt. Genauer gesagt in sieben langen E-Mails, in denen der ehemalige Chauffeur einer reichen Familie in Delhi Wen Jiabao, dem damaligen Premierminister von China, erklärt, warum er leider seinen Herren umbringen musste, um so richtig ins Geschäft einsteigen zu können. Dieser Schelmenroman erschien 2008, auf dem Scheitelpunkt des indischen Hypes, der Subkontinent war plötzlich das Callcenter der westlichen Welt geworden, 300 Millionen Inder fuhren im Globalisierungsaufzug in Richtung eines bescheidenen – oder auch extrem unbescheidenen – Reichtums.
Adigas Buch war wie ein Fenster in eine weite, wilde Welt, man glaubte zuschauen zu können, wie aus den Seiten des Buches und den staubigen Gassenlabyrinthen einer dysfunktionalen Gesellschaft glitzernde Malls emporwuchern. Pankaj Mishra dagegen spinnt sich immer tiefer ein in den Kokon seines seltsam kontaktgestörten Erzählmuffels. Er lässt seinen Arun kluge Thesen über den zwanghaften Hedonismus der Neureichen von sich geben. Er schaut durch die gleißend helle Fassade ihrer Villen in den dunklen Hinterhof ihrer Verlorenheitsangst. Er vermag die Auswüchse der internationalen Immobiliengier zu beschreiben, die sogar die abgelegensten Hochtaldörfer Nordindiens über Nacht in Großbaustellen verwandelt. Aber die Figuren, um die es ihm doch angeblich geht, die bleiben allesamt völlig blass und papiern. So viele Thesen, so wenig Leben.
Das Buch krankt vor allem an der Gesprächssituation des Briefs ohne Antwort. 417 Seiten redet Arun auf Alia ein, ohne dass sie je die Möglichkeit zu wirklicher Gegenrede bekäme. Sie bleibt mit ihren hochhackigen Stiefeln und ihrer diffus behaupteten Schönheit mehr Projektion als Mensch. Die beiden haben natürlich geschmeidigen Sex, Alia ist stets sanft um ihn besorgt und ein dankbares Gefäß für seine wertvollen Gedanken, was nach ziemlich verschwitzter Metaphorik klingt, aber er sagt es ja selbst so: „Erneut versuchte ich vielleicht zu sehr, dich zu beeindrucken, war zu sehr darauf bedacht, die ganze Masse meiner nicht geteilten Gedanken und Gefühle in dich hineinzuspülen.“
Oh, hofft man zart, zweimal „zu sehr“, merkt Arun gerade, dass er an Monologitis leidet? Hält er vielleicht jetzt einfach mal die Klappe und lässt sie wirklich zu Wort kommen? Aber denkste, im Gegenteil, es geht so weiter: „Wir sprachen über die Zukunft des Dorfes. Konntest du spüren, wie sehr ich mir wünschte, dass du siehst, was ich gesehen habe?“ Ein Erzähler, der seine Geliebte erst komplett mit seinen Gedanken und Gefühlen fluten möchte, auf dass sie dann bitte auch noch mit seinen eigenen Augen auf die Welt schauen möge, eignet sich schlecht dazu, andere wirklich sichtbar zu machen.
Vollends absurd oder schlicht tapsig unbeholfen wird es, wenn Arun seiner Alia immer wieder seitenweise schreibt, was sie alles so getan hat in ihrem Leben, schließlich dürfte sie das sehr viel besser wissen als er. Irgendwann möchte man auf diesen nicht endenden Brief nur ein Telegramm zurückschicken: „Geh nach draußen, Arun!“ Aber da hat er sich schon dazu entschlossen, in einer dunklen tibetischen Zelle in Richtung Seelenheil zu meditieren.
Wer einen Roman lesen möchte über das neoliberale Indien und die schwarzen Schatten, die der Wirtschaftsboom auf den Subkontinent wirft, der nehme lieber Aravind Adiga zur Hand. Wer es gern theoretisch hat, greife zu Suketu Mehta, der mit „Maximum City“ das ultimative Buch über Megacitys in Zeiten des Hyperkapitalismus geschrieben hat. Pankaj Mishra aber sollte besser bei seinen Essays bleiben. Da muss er nicht viel zu dünne fiktive Figuren als Kleiderpuppen für seine Thesenstoffe missbrauchen.
ALEX RÜHLE
Das Buch krankt vor allem
an der Gesprächssituation
des Briefs ohne Antwort
Die Romanfiguren sind „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, steigen selbst aber in die Klasse der Reichen auf.
Foto: Afp
Pankaj Mishra: Goldschakal. Roman. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein vielseitiger Roman, der als intellektuelle Beobachtung der letzten Jahrzehnte ebenso viel taugt wie als literarischer Text. Anton Beck NZZ am Sonntag - Bücher am Sonntag 20230625
Die ganze Masse meiner Gedanken
Pankaj Mishra ist ein einflussreicher Essayist unserer Zeit. Nach seinem neuen Roman „Goldschakal“ wünscht man sich, er wäre einfach dabei geblieben
Pankaj Mishra zählt zu den einflussreichsten, meistdiskutierten Essayisten unserer Tage. In „Zeitalter des Zorns“ untersuchte der indisch-britische Publizist, wie Autokraten weltweit chauvinistische Ressentiments bedienen und Unterlegenheitsgefühle breiter Bevölkerungsschichten in populistischen Zorn umschmelzen. Mit der Aufsatzsammlung „Freundliche Fanatiker“ attackierte er von verschiedenen Seiten den „Westen“ beziehungsweise das narzisstische Weltbild, in dem wir Europäer und Amerikaner uns so gemütlich eingerichtet haben, die vermeintlich überlegenen Wirtschafts- und Politiksysteme, unsere heimliche Verachtung für das Andere, also Asien und Afrika.
Zwar fing Mishra irgendwann an, mit fast schon grotesker Arroganz Noten an die ganze Welt zu verteilen – Rushdie? Viel zu unterkomplex. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates? Zu kompromisslerisch im Denken. Es war trotzdem immer gewinnbringend, durch seine Texte zu streifen. Jetzt also ein neues Buch von ihm, diesmal ein Roman. Steht zumindest außen drauf. Und in Romanen geht es ja meist um Menschen aus Fleisch und Blut.
Arun, Virendra, Aseem, drei junge Inder aus einfachsten Verhältnissen, haben das Glück, einen Platz am Indian Institute of Technology in Delhi zu ergattern, der berühmten Uni, an der der aktuelle Google-CEO Sundar Pichai genauso studiert hat wie Rajat Gupta, der erste im Ausland geborene Geschäftsführer von McKinsey. Die drei Jungs werden zu Beginn des Studiums im drastischen Sinne zusammengeschweißt, sie müssen einander sexuell befriedigen, wieder und wieder, unter den höhnischen Zurufen älterer Studenten, eines dieser Demütigungsrituale, die man im nächsten Semester sofort weitergibt an die dann neuen Kommilitonen.
In einer der stärksten Szenen schildert Mishra, wie die bettelarmen Eltern ihre Söhne in den Räumen des IIT abgeben und währenddessen versuchen, selbstbewusst aufzutreten, was kläglich misslingt, viel zu lange, viel zu tief haben sich Herkunftsscham und Anerkennungshunger in ihren Körpern eingenistet, als dass sie sich plötzlich souverän bewegen könnten. Ihre Söhne werden das Gefühl, immer nur zu bluffen, und die damit einhergehende Angst, als Scharlatan aufzufliegen, genauso wenig abschütteln können wie ein diffuses Schuldgefühl aufgrund des Verrats an der eigenen Klasse.
In diesen Passagen ist Mishra in seinem Element, als kosmopolitisch geschulter Ethnologe seines eigenen Landes kennt er die kulturellen und sozialen Abschottungscodes bis hin zur Knopfform angesagter indischer Hemdenfabrikate. Als Essayist und Theoretiker kann er Pierre Bourdieus Studie über „Die feinen Unterschiede“ existenziell zuspitzen: Die Codes, die man sehr früh aufgesaugt haben muss, um sie wirklich lässig zu beherrschen, sind in der ostentativ grausamen Kastengesellschaft noch weit ausgefeilter und zugleich überlebensnotwendiger als im arroganten Paris.
Seine Helden also, „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, machen sich auf in die globalisierten Festjahre des neoliberalen Erfolgsnarzissmus. Virendra wird Milliardär. Was einem ja auch nicht alle Tage passiert, erst recht nicht als völlig mittelloses Landei. Ein, zwei Absätze dazu, wie Virendra von A wie Ahmedabad nach B wie Boston gekommen ist, wären da doch interessant gewesen. Aber nein, er ist halt jetzt „Finanzgenie“ und Milliardär. Konkret erfährt man nur, dass er Blowjobs von russischen Blondinen liebt. Nach etwa 300 Seiten bringt er sich um, vielleicht weil er bis dahin jede Hoffnung fahren lassen musste, von seinem Autor doch noch als dreidimensionale Figur porträtiert zu werden.
Aseem wird Impresario seiner selbst. Er gründet eine bald schon angesagte linksliberale Zeitschrift, schmeißt die angesagtesten Partys von Delhi, lanciert ein Ideen-Festival und merkt nicht, wie sein Engagement langsam zur hochmütigen Pose gerinnt. Modern zu sein, bedeutet ihm, die Vergangenheit mit Füßen zu treten, sich aggressiv loszusagen von seiner staubigen Herkunft. Früh wird klar, dass dieser Aseem Schuld auf sich geladen hat und von der Spitze der Anerkennungspyramide in die Dunkelheit irgendeiner Gefängniszelle gestürzt ist. Eigentlich müsste das Spannung erzeugen.
Arun, der Erzähler, zieht sich erst mal zurück, in ein Dorf am Fuße des Himalaja, wo er sich um seine alte Mutter kümmert und Hindi-Autoren übersetzt (das Dorf liegt in dem indischen Distrikt, in dem Mishra selbst Anfang der Neunzigerjahre seine Autorenkarriere begann). Irgendwann aber verliebt er sich in Alia, eine sehr schöne, sehr reiche Frau, die an einem Interviewbuch über die Aufsteiger des Subkontinents arbeitet und so auf das Männer-Trio stößt. Arun wird durch Alia in die Welt der Galapartys, Clubs und Unternehmer gespült und ist bald schon so abgestoßen vom Treiben dieser neureichen Elite, dass darüber auch die Liebe zu Alia verloren geht. Das Buch ist der außerordentlich lange Brief zum extrem kurzen Abschied, eine Art Lebensbeichte, in der er dieser Frau sein Leben zu erzählen versucht und warum er sie am Ende einfach wortlos verlassen hat, was man aber nach den 417 Seiten immer noch nicht versteht.
Die Erzählsituation erinnert zunächst stark an Aravind Adigas „Der weiße Tiger“, in dem ein junger Mann seinen Aufstieg vom mittellosen Dorfjungen zum Taxi-Unternehmer ebenfalls in Briefform erzählt. Genauer gesagt in sieben langen E-Mails, in denen der ehemalige Chauffeur einer reichen Familie in Delhi Wen Jiabao, dem damaligen Premierminister von China, erklärt, warum er leider seinen Herren umbringen musste, um so richtig ins Geschäft einsteigen zu können. Dieser Schelmenroman erschien 2008, auf dem Scheitelpunkt des indischen Hypes, der Subkontinent war plötzlich das Callcenter der westlichen Welt geworden, 300 Millionen Inder fuhren im Globalisierungsaufzug in Richtung eines bescheidenen – oder auch extrem unbescheidenen – Reichtums.
Adigas Buch war wie ein Fenster in eine weite, wilde Welt, man glaubte zuschauen zu können, wie aus den Seiten des Buches und den staubigen Gassenlabyrinthen einer dysfunktionalen Gesellschaft glitzernde Malls emporwuchern. Pankaj Mishra dagegen spinnt sich immer tiefer ein in den Kokon seines seltsam kontaktgestörten Erzählmuffels. Er lässt seinen Arun kluge Thesen über den zwanghaften Hedonismus der Neureichen von sich geben. Er schaut durch die gleißend helle Fassade ihrer Villen in den dunklen Hinterhof ihrer Verlorenheitsangst. Er vermag die Auswüchse der internationalen Immobiliengier zu beschreiben, die sogar die abgelegensten Hochtaldörfer Nordindiens über Nacht in Großbaustellen verwandelt. Aber die Figuren, um die es ihm doch angeblich geht, die bleiben allesamt völlig blass und papiern. So viele Thesen, so wenig Leben.
Das Buch krankt vor allem an der Gesprächssituation des Briefs ohne Antwort. 417 Seiten redet Arun auf Alia ein, ohne dass sie je die Möglichkeit zu wirklicher Gegenrede bekäme. Sie bleibt mit ihren hochhackigen Stiefeln und ihrer diffus behaupteten Schönheit mehr Projektion als Mensch. Die beiden haben natürlich geschmeidigen Sex, Alia ist stets sanft um ihn besorgt und ein dankbares Gefäß für seine wertvollen Gedanken, was nach ziemlich verschwitzter Metaphorik klingt, aber er sagt es ja selbst so: „Erneut versuchte ich vielleicht zu sehr, dich zu beeindrucken, war zu sehr darauf bedacht, die ganze Masse meiner nicht geteilten Gedanken und Gefühle in dich hineinzuspülen.“
Oh, hofft man zart, zweimal „zu sehr“, merkt Arun gerade, dass er an Monologitis leidet? Hält er vielleicht jetzt einfach mal die Klappe und lässt sie wirklich zu Wort kommen? Aber denkste, im Gegenteil, es geht so weiter: „Wir sprachen über die Zukunft des Dorfes. Konntest du spüren, wie sehr ich mir wünschte, dass du siehst, was ich gesehen habe?“ Ein Erzähler, der seine Geliebte erst komplett mit seinen Gedanken und Gefühlen fluten möchte, auf dass sie dann bitte auch noch mit seinen eigenen Augen auf die Welt schauen möge, eignet sich schlecht dazu, andere wirklich sichtbar zu machen.
Vollends absurd oder schlicht tapsig unbeholfen wird es, wenn Arun seiner Alia immer wieder seitenweise schreibt, was sie alles so getan hat in ihrem Leben, schließlich dürfte sie das sehr viel besser wissen als er. Irgendwann möchte man auf diesen nicht endenden Brief nur ein Telegramm zurückschicken: „Geh nach draußen, Arun!“ Aber da hat er sich schon dazu entschlossen, in einer dunklen tibetischen Zelle in Richtung Seelenheil zu meditieren.
Wer einen Roman lesen möchte über das neoliberale Indien und die schwarzen Schatten, die der Wirtschaftsboom auf den Subkontinent wirft, der nehme lieber Aravind Adiga zur Hand. Wer es gern theoretisch hat, greife zu Suketu Mehta, der mit „Maximum City“ das ultimative Buch über Megacitys in Zeiten des Hyperkapitalismus geschrieben hat. Pankaj Mishra aber sollte besser bei seinen Essays bleiben. Da muss er nicht viel zu dünne fiktive Figuren als Kleiderpuppen für seine Thesenstoffe missbrauchen.
ALEX RÜHLE
Das Buch krankt vor allem
an der Gesprächssituation
des Briefs ohne Antwort
Die Romanfiguren sind „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, steigen selbst aber in die Klasse der Reichen auf.
Foto: Afp
Pankaj Mishra: Goldschakal. Roman. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
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Pankaj Mishra ist ein einflussreicher Essayist unserer Zeit. Nach seinem neuen Roman „Goldschakal“ wünscht man sich, er wäre einfach dabei geblieben
Pankaj Mishra zählt zu den einflussreichsten, meistdiskutierten Essayisten unserer Tage. In „Zeitalter des Zorns“ untersuchte der indisch-britische Publizist, wie Autokraten weltweit chauvinistische Ressentiments bedienen und Unterlegenheitsgefühle breiter Bevölkerungsschichten in populistischen Zorn umschmelzen. Mit der Aufsatzsammlung „Freundliche Fanatiker“ attackierte er von verschiedenen Seiten den „Westen“ beziehungsweise das narzisstische Weltbild, in dem wir Europäer und Amerikaner uns so gemütlich eingerichtet haben, die vermeintlich überlegenen Wirtschafts- und Politiksysteme, unsere heimliche Verachtung für das Andere, also Asien und Afrika.
Zwar fing Mishra irgendwann an, mit fast schon grotesker Arroganz Noten an die ganze Welt zu verteilen – Rushdie? Viel zu unterkomplex. Der schwarze Publizist Ta-Nehisi Coates? Zu kompromisslerisch im Denken. Es war trotzdem immer gewinnbringend, durch seine Texte zu streifen. Jetzt also ein neues Buch von ihm, diesmal ein Roman. Steht zumindest außen drauf. Und in Romanen geht es ja meist um Menschen aus Fleisch und Blut.
Arun, Virendra, Aseem, drei junge Inder aus einfachsten Verhältnissen, haben das Glück, einen Platz am Indian Institute of Technology in Delhi zu ergattern, der berühmten Uni, an der der aktuelle Google-CEO Sundar Pichai genauso studiert hat wie Rajat Gupta, der erste im Ausland geborene Geschäftsführer von McKinsey. Die drei Jungs werden zu Beginn des Studiums im drastischen Sinne zusammengeschweißt, sie müssen einander sexuell befriedigen, wieder und wieder, unter den höhnischen Zurufen älterer Studenten, eines dieser Demütigungsrituale, die man im nächsten Semester sofort weitergibt an die dann neuen Kommilitonen.
In einer der stärksten Szenen schildert Mishra, wie die bettelarmen Eltern ihre Söhne in den Räumen des IIT abgeben und währenddessen versuchen, selbstbewusst aufzutreten, was kläglich misslingt, viel zu lange, viel zu tief haben sich Herkunftsscham und Anerkennungshunger in ihren Körpern eingenistet, als dass sie sich plötzlich souverän bewegen könnten. Ihre Söhne werden das Gefühl, immer nur zu bluffen, und die damit einhergehende Angst, als Scharlatan aufzufliegen, genauso wenig abschütteln können wie ein diffuses Schuldgefühl aufgrund des Verrats an der eigenen Klasse.
In diesen Passagen ist Mishra in seinem Element, als kosmopolitisch geschulter Ethnologe seines eigenen Landes kennt er die kulturellen und sozialen Abschottungscodes bis hin zur Knopfform angesagter indischer Hemdenfabrikate. Als Essayist und Theoretiker kann er Pierre Bourdieus Studie über „Die feinen Unterschiede“ existenziell zuspitzen: Die Codes, die man sehr früh aufgesaugt haben muss, um sie wirklich lässig zu beherrschen, sind in der ostentativ grausamen Kastengesellschaft noch weit ausgefeilter und zugleich überlebensnotwendiger als im arroganten Paris.
Seine Helden also, „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, machen sich auf in die globalisierten Festjahre des neoliberalen Erfolgsnarzissmus. Virendra wird Milliardär. Was einem ja auch nicht alle Tage passiert, erst recht nicht als völlig mittelloses Landei. Ein, zwei Absätze dazu, wie Virendra von A wie Ahmedabad nach B wie Boston gekommen ist, wären da doch interessant gewesen. Aber nein, er ist halt jetzt „Finanzgenie“ und Milliardär. Konkret erfährt man nur, dass er Blowjobs von russischen Blondinen liebt. Nach etwa 300 Seiten bringt er sich um, vielleicht weil er bis dahin jede Hoffnung fahren lassen musste, von seinem Autor doch noch als dreidimensionale Figur porträtiert zu werden.
Aseem wird Impresario seiner selbst. Er gründet eine bald schon angesagte linksliberale Zeitschrift, schmeißt die angesagtesten Partys von Delhi, lanciert ein Ideen-Festival und merkt nicht, wie sein Engagement langsam zur hochmütigen Pose gerinnt. Modern zu sein, bedeutet ihm, die Vergangenheit mit Füßen zu treten, sich aggressiv loszusagen von seiner staubigen Herkunft. Früh wird klar, dass dieser Aseem Schuld auf sich geladen hat und von der Spitze der Anerkennungspyramide in die Dunkelheit irgendeiner Gefängniszelle gestürzt ist. Eigentlich müsste das Spannung erzeugen.
Arun, der Erzähler, zieht sich erst mal zurück, in ein Dorf am Fuße des Himalaja, wo er sich um seine alte Mutter kümmert und Hindi-Autoren übersetzt (das Dorf liegt in dem indischen Distrikt, in dem Mishra selbst Anfang der Neunzigerjahre seine Autorenkarriere begann). Irgendwann aber verliebt er sich in Alia, eine sehr schöne, sehr reiche Frau, die an einem Interviewbuch über die Aufsteiger des Subkontinents arbeitet und so auf das Männer-Trio stößt. Arun wird durch Alia in die Welt der Galapartys, Clubs und Unternehmer gespült und ist bald schon so abgestoßen vom Treiben dieser neureichen Elite, dass darüber auch die Liebe zu Alia verloren geht. Das Buch ist der außerordentlich lange Brief zum extrem kurzen Abschied, eine Art Lebensbeichte, in der er dieser Frau sein Leben zu erzählen versucht und warum er sie am Ende einfach wortlos verlassen hat, was man aber nach den 417 Seiten immer noch nicht versteht.
Die Erzählsituation erinnert zunächst stark an Aravind Adigas „Der weiße Tiger“, in dem ein junger Mann seinen Aufstieg vom mittellosen Dorfjungen zum Taxi-Unternehmer ebenfalls in Briefform erzählt. Genauer gesagt in sieben langen E-Mails, in denen der ehemalige Chauffeur einer reichen Familie in Delhi Wen Jiabao, dem damaligen Premierminister von China, erklärt, warum er leider seinen Herren umbringen musste, um so richtig ins Geschäft einsteigen zu können. Dieser Schelmenroman erschien 2008, auf dem Scheitelpunkt des indischen Hypes, der Subkontinent war plötzlich das Callcenter der westlichen Welt geworden, 300 Millionen Inder fuhren im Globalisierungsaufzug in Richtung eines bescheidenen – oder auch extrem unbescheidenen – Reichtums.
Adigas Buch war wie ein Fenster in eine weite, wilde Welt, man glaubte zuschauen zu können, wie aus den Seiten des Buches und den staubigen Gassenlabyrinthen einer dysfunktionalen Gesellschaft glitzernde Malls emporwuchern. Pankaj Mishra dagegen spinnt sich immer tiefer ein in den Kokon seines seltsam kontaktgestörten Erzählmuffels. Er lässt seinen Arun kluge Thesen über den zwanghaften Hedonismus der Neureichen von sich geben. Er schaut durch die gleißend helle Fassade ihrer Villen in den dunklen Hinterhof ihrer Verlorenheitsangst. Er vermag die Auswüchse der internationalen Immobiliengier zu beschreiben, die sogar die abgelegensten Hochtaldörfer Nordindiens über Nacht in Großbaustellen verwandelt. Aber die Figuren, um die es ihm doch angeblich geht, die bleiben allesamt völlig blass und papiern. So viele Thesen, so wenig Leben.
Das Buch krankt vor allem an der Gesprächssituation des Briefs ohne Antwort. 417 Seiten redet Arun auf Alia ein, ohne dass sie je die Möglichkeit zu wirklicher Gegenrede bekäme. Sie bleibt mit ihren hochhackigen Stiefeln und ihrer diffus behaupteten Schönheit mehr Projektion als Mensch. Die beiden haben natürlich geschmeidigen Sex, Alia ist stets sanft um ihn besorgt und ein dankbares Gefäß für seine wertvollen Gedanken, was nach ziemlich verschwitzter Metaphorik klingt, aber er sagt es ja selbst so: „Erneut versuchte ich vielleicht zu sehr, dich zu beeindrucken, war zu sehr darauf bedacht, die ganze Masse meiner nicht geteilten Gedanken und Gefühle in dich hineinzuspülen.“
Oh, hofft man zart, zweimal „zu sehr“, merkt Arun gerade, dass er an Monologitis leidet? Hält er vielleicht jetzt einfach mal die Klappe und lässt sie wirklich zu Wort kommen? Aber denkste, im Gegenteil, es geht so weiter: „Wir sprachen über die Zukunft des Dorfes. Konntest du spüren, wie sehr ich mir wünschte, dass du siehst, was ich gesehen habe?“ Ein Erzähler, der seine Geliebte erst komplett mit seinen Gedanken und Gefühlen fluten möchte, auf dass sie dann bitte auch noch mit seinen eigenen Augen auf die Welt schauen möge, eignet sich schlecht dazu, andere wirklich sichtbar zu machen.
Vollends absurd oder schlicht tapsig unbeholfen wird es, wenn Arun seiner Alia immer wieder seitenweise schreibt, was sie alles so getan hat in ihrem Leben, schließlich dürfte sie das sehr viel besser wissen als er. Irgendwann möchte man auf diesen nicht endenden Brief nur ein Telegramm zurückschicken: „Geh nach draußen, Arun!“ Aber da hat er sich schon dazu entschlossen, in einer dunklen tibetischen Zelle in Richtung Seelenheil zu meditieren.
Wer einen Roman lesen möchte über das neoliberale Indien und die schwarzen Schatten, die der Wirtschaftsboom auf den Subkontinent wirft, der nehme lieber Aravind Adiga zur Hand. Wer es gern theoretisch hat, greife zu Suketu Mehta, der mit „Maximum City“ das ultimative Buch über Megacitys in Zeiten des Hyperkapitalismus geschrieben hat. Pankaj Mishra aber sollte besser bei seinen Essays bleiben. Da muss er nicht viel zu dünne fiktive Figuren als Kleiderpuppen für seine Thesenstoffe missbrauchen.
ALEX RÜHLE
Das Buch krankt vor allem
an der Gesprächssituation
des Briefs ohne Antwort
Die Romanfiguren sind „nur eine Generation von den langen Jahrhunderten der Landwirtschaft entfernt“, steigen selbst aber in die Klasse der Reichen auf.
Foto: Afp
Pankaj Mishra: Goldschakal. Roman. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 Seiten, 26 Euro.
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