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Haltlos, hilflos: In
seinem neuen Roman zeichnet Pankaj Mishra ein bestürzendes Bild vom Leben und Streben im modernen Indien.
Von Fridtjof Küchemann
Er möge sein Leben nicht von der Vergangenheit bestimmen lassen, hatte ihm der Freund das eine ums andere Mal gesagt, mehr noch: Regelrecht herumtrampeln müsse man auf der eigenen Geschichte, auch wenn es sich anfangs anfühlte, als zerträte man einen Garten. "Zuletzt ist es einfach nur noch der Boden, auf dem du gehst."
Man kann Aseem, der sich in Pankaj Mishras Roman "Goldschakal" diese Empfehlung aus einem Roman von V. S. Naipaul zu eigen gemacht hat, nicht vorwerfen, er wäre dem Rat nicht selbst gefolgt: Vielleicht ist er unter den drei jungen Männern, die sich im ersten Semester am Indian Institute of Technology (IIT) in Delhi ein Wohnheimzimmer und die Initiationserfahrung gemeinsamer ritueller Demütigungen durch die höheren Semester teilten, derjenige, der dabei mit der größten Entschlossenheit zugetreten hat.
Bei Virendra, der aus der Kaste der Unberührbaren den weitesten Weg ans IIT und von dort ins Milliardengeschäft der amerikanischen Hedgefonds zurückgelegt hat, war es eher Unbedarftheit. Und bei Arun, dem Erzähler in Mishras Buch? Nicht dass nicht auch der ehemalige Maschinenbaustudent, der sich schließlich dem Übersetzen von Hindi-Literatur zuwendet, seine Herkunft mit Füßen getreten hätte. Aber er hat dabei hingesehen. Seine teils wohl-, teils hilflos gesetzten Schritte und Fehltritte, während er den Boden unter den Füßen verliert, bilden den Kern des dreißig Jahre umspannenden Romans.
Dass Arun dabei hemmungslos sich selbst ins Zentrum seiner Erzählung stellt, ist kein Wunder: Seine Niederschrift konzipiert Mishra als eine Art Brief an die frühere Geliebte, als Erklärung, Rechtfertigung, Überdenken nach dem zunächst wortlosen Abbruch einer Beziehung, notiert, nachdem sich Arun aus der Londoner Wohnung der schwerreichen indisch-muslimischen Schönheit Alia zurück an die Hänge des Himalajas geflüchtet hat. Dem Autor gestattet diese Konstruktion, zwanzig Jahre nach seinem ersten und bislang letzten Roman "Die Romantiker", zugleich hemmungslose - und für seine Leser ungemein ergiebige - Ausflüge in die publizistischen Bereiche, mit denen er seitdem zu einem viel beachteten Ausdeuter, Kommentator und Kritiker des heutigen Indiens geworden ist: die Analyse, das Gesellschaftsbild, den Essay.
Die Liebesgeschichte zwischen dem zurückgezogen lebenden Übersetzer und der welt- und mediengewandten deutlich jüngeren Frau gestaltet Pankaj Mishra ohne sonderliche Originalität, Alia hat erkennbar einzig die Funktion, Arun zurückzulocken in die heutige Welt, ihm in der Rückschau aufgeklärte Diskursanlässe zu den Themen Klasse, Kaste, Religion und Geschlecht zu bieten, eine intellektuelle und aktivistische Komplementärposition zu Aruns einstigen Weggefährten einzunehmen und ihm mit ihrem eigenen Buchprojekt, einer "geheimen Geschichte der Globalisierung", für das sie die Karrieren indischstämmiger Wirtschafts-und Finanzgrößen nachzeichnet, den Anlass zu geben, aus eigener Anschauung zu ergänzen, was Alia aus Gesprächen und Aufzeichnungen kaum rekonstruieren kann.
Die Kindheitserinnerungen Aruns, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Armut im Leben an den Bahngleisen, die Rituale, mit denen die Mutter, und die Lügen, mit denen der Vater sein Leben einrichtet, gehören zu den eindringlichsten Passagen des Romans. Später wird sein Vater die Familie verlassen und Arun seine Mutter zu sich ins Bergdorf holen. Dort wird die alte Nachbarin Naazku ihre Vertraute, eine von Unterernährung und harter Arbeit gezeichnete Frau, die in ihrer Lehmhütte auf einer Waldlichtung davon lebt, das Gras auf dem Hügel mit einer Sichel zu schneiden und an die Kuhhalter der Gegend zu verkaufen. Als Arun zum ersten Mal mit Alia das Dorf verlässt, für ein paar Tage in Pondicherry, stirbt die Mutter, und Arun kehrt nicht einmal für die Trauerriten nach Hause zurück.
Woran liegt es, dass diese Szenen - zumindest dem westlichen Leser - viel mehr zu sagen haben als alles, was sich an den ungleich vertrauteren Schauplätzen des Romans zuträgt, im südindischen Strandhotel, auf internationalen Ideen-Festivals oder Londoner Parties, bei denen die Gäste Fürsorge, Gerechtigkeitssinn und Haltung für die ganze Welt ausstellen? Alia hat Arun in diese Welt eingeführt, ohne dass er sich - wie Aseem und Virendra - darin einen Platz erkämpfen musste. Der Erzähler muss der Adressatin seiner Niederschrift nichts erzählen. Anders bei der Armut, die Alia nie selbst kennengelernt hat.
Wie könnten die Armen wissen, wie ihnen geschieht? "Der Besitz eines Hügels machte sie in einer von Immobilienspekulationen angetriebenen Volkswirtschaft potenziell zu einer mehrfachen Millionärin", hält Arun über die Nachbarin Naazku nüchtern fest. Er muss mit ansehen, wie die Alte, unfähig zu verstehen, was ihr zusteht, umgarnt und ausgebeutet wird. Bauland entsteht. Das Dorf verliert sein Gesicht. Die Menschen verlieren ihren Halt.
Für die Generation der drei Weggefährten, von denen zwei im Gefängnis landen, zeichnet Pankaj Mishra ein Bild der Ratlosigkeit, der Fluchtimpulse angesichts der Lebensumstände der Eltern - bei Aseem ist es offene Verachtung - bei deren Hoffnung, die Kinder könnten mit ihrer teuren Ausbildung die ganze Familie aus dem Elend führen. Sein Gegenbild einer heutigen Jugend ist nicht weniger bestürzend: Arun zumindest sieht sie "ihrer ursprünglichen Heimat, ihrer bescheidenen, aber stabilen Lebensgrundlage und ihrer fatalistischen, aber tröstlichen Religion beraubt". Ihr fehle sogar der kleine Vorteil, den Arun am Ende seines Weges nutzt, "ein Ort, an den sie zurücklaufen konnten, um sich dort zu verstecken".
Pankaj Mishra: "Goldschakal". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Wilm. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 416 S., geb., 26,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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