Im Ausland verehrt und bewundert als der Mann, der das Tor zu einem neuen Zeitalter aufstieß, gilt er bei seinen Landsleuten als Schwächling und Totengräber des sowjetischen Imperiums: Michail Gorbatschow ist für die einen ein überragender Staatsmann und für die anderen ein Versager. Pulitzerpreisträger William Taubman legt nun die grundlegende Biographie dieser Jahrhundertgestalt vor – akribisch recherchiert, fundiert im Urteil und fesselnd geschrieben. Als Michail Gorbatschow 1985 mit 54 Jahren jüngster Generalsekretär in der Geschichte der KPdSU wurde, war die Sowjetunion eine von zwei Supermächten. Doch nur vier Jahre später hatten Perestroika und Glasnost die Sowjetunion für immer verändert und Gorbatschow mehr Feinde als Freunde. Seine Politik beendete den Kalten Krieg. Doch im Jahr darauf musste er nach einem gescheiterten Putsch – ohne es zu wollen – dem Kollaps jenes Imperiums zuschauen, das er zu retten versucht hatte. William Taubman schildert in seinem Buch, wie ein Bauernjunge vom Lande es bis an die Spitze im Kreml bringt, sich mit Amerikas erzkonservativem Präsidenten Ronald Reagan anfreundet und es der UdSSR und dem Ostblock erlaubt, sich aufzulösen, ohne Zuflucht zur Gewalt zu nehmen. Wer war dieses „Rätsel Gorbatschow“ – ein wahrhaft großer Politiker oder ein Mann, der an seinen eigenen Fehlern scheiterte und an Mächten, gegen die er nicht gewinnen konnte?
Architekt ohne Bauplan
Atmosphärisch dichte Erzählung von Aufstieg und Fall Gorbatschows
Nachdem die Entscheidung im Politbüro gefallen war, schlug Außenminister Andrei Gromyko am 11. März 1985 dem Zentralkomitee Michail Gorbatschow als neuen Generalsekretär vor: Er verfüge über "enorme Erfahrung", sei ein "Mann mit Prinzipien und Überzeugungen" und könne mit seinem "scharfen, analytischen Verstand selbst die schwierigsten innen- und außenpolitischen Themen erfassen". Als er Gorbatschows Namen zum ersten Mal nannte, so erinnerte sich Anatoli Tschernjajew, der nachmals engste Berater Gorbatschows, "brach im Saal ein Beifallssturm los, lauter noch als bei Andropows Wahl und kein Vergleich zu dem widerwilligen Applaus, der auf Tschernenkos folgte. Die Ovationen schwollen wellenförmig an und ließen lange Zeit nicht nach."
Schon in seiner Antrittsrede versprach der neue, erst 54 Jahre alte Generalsekretär, sich um "Demokratisierung", "Transparenz" und bessere Beziehungen zum Westen zu bemühen. Er wollte das Land verändern, da waren sich seine Berater im Rückblick einig, doch eine eigentliche Reformagenda, gar detaillierte Pläne hatte er nicht. Schon das Wort "Reform" wäre der Mehrheit des Politbüros eher unangenehm aufgestoßen. Sein späterer Wirtschaftsberater Nikolai Petrakow bezweifelte, ob der Neue überhaupt wusste, wie schlecht die Lage wirklich war, hätten doch seine Vorgänger die "düsteren Statistiken" sorgfältig unter Verschluss gehalten. Die im April versprochene "Beschleunigung der sozialen und ökonomischen Entwicklung" war mit mehr Ordnung und Disziplin, weniger Schlendrian und Alkoholkonsum allein nicht zu erreichen, und die Rhetorik des neuen Parteiprogramms (vom Februar 1986) noch immer von den konfrontativen Vorstellungen des "Ein- und Überholens" geprägt. Erst die Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 leitete ein Umdenken ein.
Was sich allerdings von Anfang an dramatisch änderte, war der Führungsstil. Gorbatschow legte Wert darauf, wie Tschernjajew in sein Tagebuch notierte, dass die Probleme im Politbüro wirklich diskutiert und Entscheidungen nicht einfach "gehorsamst gebilligt" wurden; er entdeckte das Fernsehen und die Medien für sich und präsentierte sich als der neue, volksnahe, charismatische Führer. Er pflegte diesen Stil auch bei seinen Auslandsreisen, suchte auch dort das Bad in der Menge, als vertrauensbildende Maßnahme und Sympathiewerbung für sein "Neues Denken" in der Außenpolitik, das die ideologischen Denkbarrieren des Kalten Krieges überwinden, verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und für ein Miteinander werben sollte. Seine Politik war erfolgreich: Nach mehreren Gipfeltreffen mit Ronald Reagan wurde im Dezember 1987 ein Vertrag über die Vernichtung aller Flugkörper mittlerer Reichweite und ein Produktionsverbot dieser Waffen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Weißen Haus unterzeichnet.
Der nachfolgende Staatsempfang markierte eine Wende in den bilateralen Beziehungen und zeigte Gorbatschow auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens. Die Atmosphäre sei "triumphal" gewesen, so erinnerte er sich, und das Fernsehen war mit dabei. Vor dem Weißen Haus gab es 20 Kanonenschüsse Ehrensalut, eine Army-Band spielte beide Nationalhymnen. Zum anschließenden Staatsbankett erschienen Reagan und sein Gast in dunkler Abendgarderobe, begleitet von ihren Frauen, Nancy in einem mit schwarzen Perlen besetzten Designerkleid und diamantenen Ohrgehängen, Raissa in einem zweiteiligen Kleid aus schwarzem Brokat, mit langem, engem Rock, Perlenhalsband und Ohrringen. 132 Prominente aus Politik, Kultur und Sport waren gekommen, der Pianist Van Cliburn spielte Brahms, Rachmaninow und Debussy - danach die "Moskauer Nächte", ein populäres Lied, bei dem das Ehepaar Gorbatschow und die Mitglieder der russischen Delegation herzhaft mitsangen. Am nächsten Tag gab es im Außenministerium ein Mittagessen für die ,Crème de la Crème' (Gorbatschow) aus Wirtschaft und Politik, zu dem, wie sich Außenminister George Shultz erinnerte, alle kommen wollten und entsprechende Kommentare gegenüber den Medien zum hohen Gast abgaben. Gorbatschow revanchierte sich mit einem Empfang in der sowjetischen Botschaft, wo wiederum die beiden Gattinnen in festlicher Abendgarderobe im Mittelpunkt standen. Bei den Fahrten von einem Ort zum anderen ließ es sich Gorbatschow nicht nehmen, trotz aller Bedenken von Secret Service und KGB, die Wagenkolonne immer wieder anzuhalten, auszusteigen und den Zuschauern am Straßenrand die Hände zu schütteln. Eine ausführliche Pressekonferenz schloss den Staatsbesuch ab. Während des Gipfels hatte der Gastgeber dem Gast angeboten, zu ihm einfach "Ronnie" zu sagen, und gebeten, ihn künftig mit "Michail" ansprechen zu dürfen. Den beiden Ehegattinnen gelang es dagegen nur mit Mühe, den Eindruck zu erwecken, sie seien inzwischen Freundinnen geworden.
Anfang Dezember 1990 hielt Gorbatschow eine Rede vor dem Obersten Sowjet der UdSSR. Seine Berater (Tschernjajew, Alexander Jakowlew, Jewgeni Primakow), die sie im Fernsehen verfolgten, waren verzweifelt: "Er war nicht wiederzuerkennen, sprach undeutlich", schwadronierte vor sich hin. Jakowlew flüsterte "niedergeschlagen": "Jetzt bin ich davon überzeugt, dass er am Ende ist." Seit Herbst hatten die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spannungen, so Tschernjajew, "nicht täglich, sondern stündlich" zugenommen. Aus allen Teilen des Landes erreichten den Präsidenten Telegramme über den Verfall der Staatsautorität, das grassierende Verbrechen, sich zuspitzende interethnische Konflikte, die Hilflosigkeit der Behörden, leere Regale, tausendköpfige Warteschlangen für Brot, wütende Frauen und Männer, die "bei der Nennung von Gorbatschows Namen lästerlich" fluchten: "Offener Hass herrschte unter den Völkern, tobte auf den Straßen, in den Bussen, in den Läden und auf den Märkten."
Die Wirtschaftsreformen waren gescheitert. Die Abschaffung der Zensur hatte zu einer Diskussion über die wirkliche Lage im Lande geführt und der Umbau des politischen Systems dafür neue politische Foren geschaffen. Einen raschen, radikalen Übergang zur Marktwirtschaft, wie ihn das "Programm der 500 Tage" vorsah, lehnte Gorbatschow ab und verspielte damit, nach Ansicht der "Reformer", seine letzte Chance. Und auch in den Führungsgremien stieß Gorbatschows Politik inzwischen auf scharfen Widerstand. Die "Konservativen" warfen ihm die schleichende Entmachtung der Partei, deren Generalsekretär er noch immer war, vor, schlimmer noch, die Gefährdung des Gesamtstaats und seiner Stellung als Weltmacht: Neue "Volksfronten" in den Randgebieten (im Baltikum, in Georgien, in der Ukraine, in Moldau und in Weißrussland) forderten nicht nur mehr Autonomie, sondern "Souveränität", ja "Unabhängigkeit" von der Sowjetunion. Und jenseits der Grenzen, in den "Bruderländern" Osteuropas - in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Rumänien und der DDR -, waren die kommunistischen Regime von Volksaufständen bereits hinweggefegt worden, ohne dass die sowjetische Führung sie daran hindern konnte und wollte. Es gab Warnungen vor einem bevorstehenden Putsch.
Die drei Skizzen vom Frühjahr 1985, Dezember 1987 und Herbst 1990 sind den Kapiteln 6, 11 und 14 der neuen Gorbatschow-Biographie von William Taubman entnommen. Sie können allenfalls andeuten, wie meisterhaft es der Autor versteht, Höhe- und Wendepunkte der Gesamtentwicklung in atmosphärisch dichten Bildern einzufangen. Er lässt dabei ausführlich die Handelnden zu Wort kommen, Gorbatschow selbst und seine internationalen Partner, seine Berater, Freunde und Wegbegleiter, aber auch seine Gegner. Er hat dazu ihre Reden und Denkschriften, Erinnerungen und Tagebücher sorgfältig ausgewertet und darüber hinaus viele Interviews geführt. So entsteht ein lebendiges, mehrdimensionales Bild, mit Widersprüchen, die hinzunehmen oder aufzulösen der Autor nicht selten dem Leser überlässt, damit den Eindruck einseitiger Parteinahme vermeidend. Er überrascht nicht mit unbekannten Aktenfunden, sondern besticht mit seiner dichten, atmosphärischen Beschreibung.
So gelingt es ihm auch, über 19 Kapitel und 800 lange Seiten hinweg den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten, in seiner großen Erzählung vom Aufstieg und Fall des Bauernjungen aus Südrussland: der, 1931 geboren, in der stalinistischen Sowjetunion aufwuchs; konfrontiert mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und den Säuberungen, die auch die eigene Familie betrafen; wo er sich nach dem Krieg als Mähdrescherfahrer erste Meriten erwarb und deshalb an der Moskauer Universität (Jura) studieren durfte. Das Moskauer Studium machte aus dem unbedarften Bauernlackel mit dem weichen südrussischen Akzent einen kultivierten Menschen, der sich auch für Theater und Literatur interessierte. Dazu trug nicht unwesentlich seine Frau Raissa Titarenko bei, die er an der Universität kennengelernt hatte und die an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der MGU studierte. In seine Heimatregion Stawropol am Nordrand des Kaukasus zurückgekehrt, machte er dort erst im Komsomol, dann in der Partei Karriere. Die Örtlichkeit brachte es mit sich, dass er als Parteisekretär nicht wenige der Parteigrößen (unter anderem Juri Andropow) kennenlernte, die hier Urlaub machten oder auf Durchreise haltmachten. Ihnen hatte er es mit zu verdanken, dass er 1970 nach Moskau berufen wurde und im Apparat des ZK die Zuständigkeit für die Landwirtschaft übernahm, 1979 Kandidat und ein Jahr später Vollmitglied des Politbüros wurde.
Er galt als dynamisch, doch besondere Erfolge oder Reformprojekte hatte er im Grunde nicht aufzuweisen: 1979 war der Winter besonders hart, gefolgt von einer Dürreperiode im Frühjahr, so dass die Getreideernte nur 179 Millionen Tonnen betrug und der Staat im Ausland 31 Millionen Tonnen zukaufen musste; in den Jahren davor und danach war es nicht viel anders. Doch die Besetzung von Spitzenämtern folgte ihrer eigenen Logik. Nach dem Tod Breschnews (1982) wurde erst der 68 Jahre alte schwer nierenkranke Andropow zum Generalsekretär gewählt, nach seinem Tod (im Februar 1984) der 72 Jahre alte sichtlich senile Tschernenko, bevor im März 1985 schließlich Gorbatschow zum Generalsekretär bestellt wurde und jene Periode der Perestroika begann, von der eingangs die Rede war und von der Taubman im Hauptteil seines Buches (auf über 500 Seiten) farbig und spannend erzählt.
HELMUT ALTRICHTER
William Taubman: "Gorbatschow". Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 935 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Atmosphärisch dichte Erzählung von Aufstieg und Fall Gorbatschows
Nachdem die Entscheidung im Politbüro gefallen war, schlug Außenminister Andrei Gromyko am 11. März 1985 dem Zentralkomitee Michail Gorbatschow als neuen Generalsekretär vor: Er verfüge über "enorme Erfahrung", sei ein "Mann mit Prinzipien und Überzeugungen" und könne mit seinem "scharfen, analytischen Verstand selbst die schwierigsten innen- und außenpolitischen Themen erfassen". Als er Gorbatschows Namen zum ersten Mal nannte, so erinnerte sich Anatoli Tschernjajew, der nachmals engste Berater Gorbatschows, "brach im Saal ein Beifallssturm los, lauter noch als bei Andropows Wahl und kein Vergleich zu dem widerwilligen Applaus, der auf Tschernenkos folgte. Die Ovationen schwollen wellenförmig an und ließen lange Zeit nicht nach."
Schon in seiner Antrittsrede versprach der neue, erst 54 Jahre alte Generalsekretär, sich um "Demokratisierung", "Transparenz" und bessere Beziehungen zum Westen zu bemühen. Er wollte das Land verändern, da waren sich seine Berater im Rückblick einig, doch eine eigentliche Reformagenda, gar detaillierte Pläne hatte er nicht. Schon das Wort "Reform" wäre der Mehrheit des Politbüros eher unangenehm aufgestoßen. Sein späterer Wirtschaftsberater Nikolai Petrakow bezweifelte, ob der Neue überhaupt wusste, wie schlecht die Lage wirklich war, hätten doch seine Vorgänger die "düsteren Statistiken" sorgfältig unter Verschluss gehalten. Die im April versprochene "Beschleunigung der sozialen und ökonomischen Entwicklung" war mit mehr Ordnung und Disziplin, weniger Schlendrian und Alkoholkonsum allein nicht zu erreichen, und die Rhetorik des neuen Parteiprogramms (vom Februar 1986) noch immer von den konfrontativen Vorstellungen des "Ein- und Überholens" geprägt. Erst die Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 leitete ein Umdenken ein.
Was sich allerdings von Anfang an dramatisch änderte, war der Führungsstil. Gorbatschow legte Wert darauf, wie Tschernjajew in sein Tagebuch notierte, dass die Probleme im Politbüro wirklich diskutiert und Entscheidungen nicht einfach "gehorsamst gebilligt" wurden; er entdeckte das Fernsehen und die Medien für sich und präsentierte sich als der neue, volksnahe, charismatische Führer. Er pflegte diesen Stil auch bei seinen Auslandsreisen, suchte auch dort das Bad in der Menge, als vertrauensbildende Maßnahme und Sympathiewerbung für sein "Neues Denken" in der Außenpolitik, das die ideologischen Denkbarrieren des Kalten Krieges überwinden, verlorenes Vertrauen zurückgewinnen und für ein Miteinander werben sollte. Seine Politik war erfolgreich: Nach mehreren Gipfeltreffen mit Ronald Reagan wurde im Dezember 1987 ein Vertrag über die Vernichtung aller Flugkörper mittlerer Reichweite und ein Produktionsverbot dieser Waffen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Weißen Haus unterzeichnet.
Der nachfolgende Staatsempfang markierte eine Wende in den bilateralen Beziehungen und zeigte Gorbatschow auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens. Die Atmosphäre sei "triumphal" gewesen, so erinnerte er sich, und das Fernsehen war mit dabei. Vor dem Weißen Haus gab es 20 Kanonenschüsse Ehrensalut, eine Army-Band spielte beide Nationalhymnen. Zum anschließenden Staatsbankett erschienen Reagan und sein Gast in dunkler Abendgarderobe, begleitet von ihren Frauen, Nancy in einem mit schwarzen Perlen besetzten Designerkleid und diamantenen Ohrgehängen, Raissa in einem zweiteiligen Kleid aus schwarzem Brokat, mit langem, engem Rock, Perlenhalsband und Ohrringen. 132 Prominente aus Politik, Kultur und Sport waren gekommen, der Pianist Van Cliburn spielte Brahms, Rachmaninow und Debussy - danach die "Moskauer Nächte", ein populäres Lied, bei dem das Ehepaar Gorbatschow und die Mitglieder der russischen Delegation herzhaft mitsangen. Am nächsten Tag gab es im Außenministerium ein Mittagessen für die ,Crème de la Crème' (Gorbatschow) aus Wirtschaft und Politik, zu dem, wie sich Außenminister George Shultz erinnerte, alle kommen wollten und entsprechende Kommentare gegenüber den Medien zum hohen Gast abgaben. Gorbatschow revanchierte sich mit einem Empfang in der sowjetischen Botschaft, wo wiederum die beiden Gattinnen in festlicher Abendgarderobe im Mittelpunkt standen. Bei den Fahrten von einem Ort zum anderen ließ es sich Gorbatschow nicht nehmen, trotz aller Bedenken von Secret Service und KGB, die Wagenkolonne immer wieder anzuhalten, auszusteigen und den Zuschauern am Straßenrand die Hände zu schütteln. Eine ausführliche Pressekonferenz schloss den Staatsbesuch ab. Während des Gipfels hatte der Gastgeber dem Gast angeboten, zu ihm einfach "Ronnie" zu sagen, und gebeten, ihn künftig mit "Michail" ansprechen zu dürfen. Den beiden Ehegattinnen gelang es dagegen nur mit Mühe, den Eindruck zu erwecken, sie seien inzwischen Freundinnen geworden.
Anfang Dezember 1990 hielt Gorbatschow eine Rede vor dem Obersten Sowjet der UdSSR. Seine Berater (Tschernjajew, Alexander Jakowlew, Jewgeni Primakow), die sie im Fernsehen verfolgten, waren verzweifelt: "Er war nicht wiederzuerkennen, sprach undeutlich", schwadronierte vor sich hin. Jakowlew flüsterte "niedergeschlagen": "Jetzt bin ich davon überzeugt, dass er am Ende ist." Seit Herbst hatten die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spannungen, so Tschernjajew, "nicht täglich, sondern stündlich" zugenommen. Aus allen Teilen des Landes erreichten den Präsidenten Telegramme über den Verfall der Staatsautorität, das grassierende Verbrechen, sich zuspitzende interethnische Konflikte, die Hilflosigkeit der Behörden, leere Regale, tausendköpfige Warteschlangen für Brot, wütende Frauen und Männer, die "bei der Nennung von Gorbatschows Namen lästerlich" fluchten: "Offener Hass herrschte unter den Völkern, tobte auf den Straßen, in den Bussen, in den Läden und auf den Märkten."
Die Wirtschaftsreformen waren gescheitert. Die Abschaffung der Zensur hatte zu einer Diskussion über die wirkliche Lage im Lande geführt und der Umbau des politischen Systems dafür neue politische Foren geschaffen. Einen raschen, radikalen Übergang zur Marktwirtschaft, wie ihn das "Programm der 500 Tage" vorsah, lehnte Gorbatschow ab und verspielte damit, nach Ansicht der "Reformer", seine letzte Chance. Und auch in den Führungsgremien stieß Gorbatschows Politik inzwischen auf scharfen Widerstand. Die "Konservativen" warfen ihm die schleichende Entmachtung der Partei, deren Generalsekretär er noch immer war, vor, schlimmer noch, die Gefährdung des Gesamtstaats und seiner Stellung als Weltmacht: Neue "Volksfronten" in den Randgebieten (im Baltikum, in Georgien, in der Ukraine, in Moldau und in Weißrussland) forderten nicht nur mehr Autonomie, sondern "Souveränität", ja "Unabhängigkeit" von der Sowjetunion. Und jenseits der Grenzen, in den "Bruderländern" Osteuropas - in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, in Bulgarien, Rumänien und der DDR -, waren die kommunistischen Regime von Volksaufständen bereits hinweggefegt worden, ohne dass die sowjetische Führung sie daran hindern konnte und wollte. Es gab Warnungen vor einem bevorstehenden Putsch.
Die drei Skizzen vom Frühjahr 1985, Dezember 1987 und Herbst 1990 sind den Kapiteln 6, 11 und 14 der neuen Gorbatschow-Biographie von William Taubman entnommen. Sie können allenfalls andeuten, wie meisterhaft es der Autor versteht, Höhe- und Wendepunkte der Gesamtentwicklung in atmosphärisch dichten Bildern einzufangen. Er lässt dabei ausführlich die Handelnden zu Wort kommen, Gorbatschow selbst und seine internationalen Partner, seine Berater, Freunde und Wegbegleiter, aber auch seine Gegner. Er hat dazu ihre Reden und Denkschriften, Erinnerungen und Tagebücher sorgfältig ausgewertet und darüber hinaus viele Interviews geführt. So entsteht ein lebendiges, mehrdimensionales Bild, mit Widersprüchen, die hinzunehmen oder aufzulösen der Autor nicht selten dem Leser überlässt, damit den Eindruck einseitiger Parteinahme vermeidend. Er überrascht nicht mit unbekannten Aktenfunden, sondern besticht mit seiner dichten, atmosphärischen Beschreibung.
So gelingt es ihm auch, über 19 Kapitel und 800 lange Seiten hinweg den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten, in seiner großen Erzählung vom Aufstieg und Fall des Bauernjungen aus Südrussland: der, 1931 geboren, in der stalinistischen Sowjetunion aufwuchs; konfrontiert mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und den Säuberungen, die auch die eigene Familie betrafen; wo er sich nach dem Krieg als Mähdrescherfahrer erste Meriten erwarb und deshalb an der Moskauer Universität (Jura) studieren durfte. Das Moskauer Studium machte aus dem unbedarften Bauernlackel mit dem weichen südrussischen Akzent einen kultivierten Menschen, der sich auch für Theater und Literatur interessierte. Dazu trug nicht unwesentlich seine Frau Raissa Titarenko bei, die er an der Universität kennengelernt hatte und die an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der MGU studierte. In seine Heimatregion Stawropol am Nordrand des Kaukasus zurückgekehrt, machte er dort erst im Komsomol, dann in der Partei Karriere. Die Örtlichkeit brachte es mit sich, dass er als Parteisekretär nicht wenige der Parteigrößen (unter anderem Juri Andropow) kennenlernte, die hier Urlaub machten oder auf Durchreise haltmachten. Ihnen hatte er es mit zu verdanken, dass er 1970 nach Moskau berufen wurde und im Apparat des ZK die Zuständigkeit für die Landwirtschaft übernahm, 1979 Kandidat und ein Jahr später Vollmitglied des Politbüros wurde.
Er galt als dynamisch, doch besondere Erfolge oder Reformprojekte hatte er im Grunde nicht aufzuweisen: 1979 war der Winter besonders hart, gefolgt von einer Dürreperiode im Frühjahr, so dass die Getreideernte nur 179 Millionen Tonnen betrug und der Staat im Ausland 31 Millionen Tonnen zukaufen musste; in den Jahren davor und danach war es nicht viel anders. Doch die Besetzung von Spitzenämtern folgte ihrer eigenen Logik. Nach dem Tod Breschnews (1982) wurde erst der 68 Jahre alte schwer nierenkranke Andropow zum Generalsekretär gewählt, nach seinem Tod (im Februar 1984) der 72 Jahre alte sichtlich senile Tschernenko, bevor im März 1985 schließlich Gorbatschow zum Generalsekretär bestellt wurde und jene Periode der Perestroika begann, von der eingangs die Rede war und von der Taubman im Hauptteil seines Buches (auf über 500 Seiten) farbig und spannend erzählt.
HELMUT ALTRICHTER
William Taubman: "Gorbatschow". Der Mann und seine Zeit. Eine Biographie.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 935 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Pflichtlektüre für all diejenigen (...), die sich für die Person Gorbatschows, die Entwicklung der Sowjetunion ab den 30er-Jahren und die Bedingungsfaktoren für die Entstehung des modernen Russlands interessieren."
Politische Studien, Jan Dresel
"Der Autor versteht es meisterhaft, Höhe- und Wendepunkte der Gesamtentwicklung in atmosphärisch dichten Bildern einzufangen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Helmut Altrichter
"Beinahe ein Thriller (...) nicht nur eine fabelhafte Biografie Gorbatschows, sondern es erzählt auch die Geschichte des Kalten Krieges mit."
Matthias Schmidt, mdr kultur
"Meisterlich (...) William Taubman stellt nicht nur den Staatsmann, sondern auch den typisch sowjetischen Menschen Michail Gorbatschow vor."
Gabriel Rath, Die Presse Spectrum
"Ebenso elegant wie packend geschrieben; analytisch und doch mit Empathie, selten auch mit überzogener Sympathie; mit dem Gespür für das Ganze ebenso wie für das erhellende Detail; mit einem Fokus auf dem Politischen, ohne das Private zu vernachlässigen; und trotz epischer Länge nie langweilig, vielmehr versehen mit schrägen Anekdoten und humorvollen Sentenzen."
Victor Mauer, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag
"Now some of the mysteries are cleaned up, or at any rate more brightly illuminated, in William Taubman's massive and masterly biography."
Geoffrey Hosking, TLS
"Superb."
The Washington Post
"Ein Meisterwerk."
The New York Times
"Mit dem Blick eines Tolstoi schaut Taubman auf die jüngste russische Geschichte und entfaltet kunstvoll die Facetten eines Lebens, das viel mehr war als nur Politik."
The Economist
"William Taubmans 'Gorbatschow' ist eine außergewöhnliche Leistung, voller neuer Informationen, reich an klugen Urteilen, ein Triumph der Biographie."
John Lewis Gaddis, Pulitzerpreisträger
"Ein brillant geschriebenes Portrait, das für jede künftige Beschäftigung mit Gorbatschow grundlegend ist."
James F. Collins, ehemaliger Botschafter der USA in Russland
Politische Studien, Jan Dresel
"Der Autor versteht es meisterhaft, Höhe- und Wendepunkte der Gesamtentwicklung in atmosphärisch dichten Bildern einzufangen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Helmut Altrichter
"Beinahe ein Thriller (...) nicht nur eine fabelhafte Biografie Gorbatschows, sondern es erzählt auch die Geschichte des Kalten Krieges mit."
Matthias Schmidt, mdr kultur
"Meisterlich (...) William Taubman stellt nicht nur den Staatsmann, sondern auch den typisch sowjetischen Menschen Michail Gorbatschow vor."
Gabriel Rath, Die Presse Spectrum
"Ebenso elegant wie packend geschrieben; analytisch und doch mit Empathie, selten auch mit überzogener Sympathie; mit dem Gespür für das Ganze ebenso wie für das erhellende Detail; mit einem Fokus auf dem Politischen, ohne das Private zu vernachlässigen; und trotz epischer Länge nie langweilig, vielmehr versehen mit schrägen Anekdoten und humorvollen Sentenzen."
Victor Mauer, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag
"Now some of the mysteries are cleaned up, or at any rate more brightly illuminated, in William Taubman's massive and masterly biography."
Geoffrey Hosking, TLS
"Superb."
The Washington Post
"Ein Meisterwerk."
The New York Times
"Mit dem Blick eines Tolstoi schaut Taubman auf die jüngste russische Geschichte und entfaltet kunstvoll die Facetten eines Lebens, das viel mehr war als nur Politik."
The Economist
"William Taubmans 'Gorbatschow' ist eine außergewöhnliche Leistung, voller neuer Informationen, reich an klugen Urteilen, ein Triumph der Biographie."
John Lewis Gaddis, Pulitzerpreisträger
"Ein brillant geschriebenes Portrait, das für jede künftige Beschäftigung mit Gorbatschow grundlegend ist."
James F. Collins, ehemaliger Botschafter der USA in Russland