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Gormenghast - das mächtige, labyrinthische Schloß, der Stammsitz der Grafen Groan, gehört zwar keiner Zeit an und keinem bestimmten Ort, doch so, wie Mervyn Peake seine phantastische Geschichte erzählt, bleibt weiter nichts unbestimmt ... Im Gegenteil: jede Szene wird grell ausgeleuchtet, wird geradezu furchterregend nahegerückt. Bewohnt wird das Schloß von erstaunlichen Figuren mit ausgesprochenen Mittelstandsallüren, die der Autor so dicht heranführt, daß man sie beinahe berühren könnte. Und den fetten Swelter zu berühren, die massige Lady Gertrude oder den spinnenhaften Mister Flay, das…mehr
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- Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta
- Seitenzahl: 616
- Erscheinungstermin: 1. Oktober 2010
- Deutsch
- ISBN-13: 9783608101652
- Artikelnr.: 37091907
- Verlag: Klett-Cotta
- Seitenzahl: 616
- Erscheinungstermin: 1. Oktober 2010
- Deutsch
- ISBN-13: 9783608101652
- Artikelnr.: 37091907
phantastische Literatur entwickelt hätte, wäre nicht Tolkiens Herr der
Ringe , sondern Mervyn Peakes Gormenghast zur Blaupause des modernen
Fantasy-Genres geworden. Sicher ist, es gäbe mehr Bücher wie jene Handvoll,
die sich ganz offen zu Peake bekennt: Gloriana von Michael Moorcock, China
Mievilles Perdido Street Station , Die Spur des goldenen Opfers von Lucius
Shepard, natürlich die Viriconium -Trilogie von M. John Harrison, Gene
Wolfes Buch der Neuen Sonne und Jeff VanderMeers Stadt der Heiligen &
Verrückten . Es mag noch weitere geben, aber alles in allem ist die Liste
nicht lang. Warum also gilt Gormenghast bis heute als einer der Eckpfeiler
der Fantasy? Vielleicht, weil es abseits von Tolkien das erste Werk war,
das voll und ganz auf Visualisierung setzt. Die Geschichte - gut und schön.
Die Charaktere - ein Panoptikum aus wandelnden Grotesken. Aber was da vor
unserem inneren Auge entsteht, schon in den allerersten Sätzen, ist ein
ausgefeiltes optisches Panorama. So wundert es nicht, dass Peake sich, wie
Tolkien, erst zu einem Erfolgsautor entwickelte, als auch das Medium Film
am Ende der Sechzigerjahre durch breitere Streuung und Verfügbarkeit einen
neuen Stellenwert erlangte. Die protestierenden Studenten, die die Welten
von Mittelerde und Gormenghast nahezu zeitgleich für sich entdeckten, waren
- anders als ihre Eltern - bereits an Leinwand und Bildschirm geschult, sie
wollten Geschichten und Welten nicht nur lesen, sondern sehen . Die Grenze
zwischen den Wahrnehmungen beider Medien, zuvor vom Literaturbetrieb
unumstösslich aufrecht erhalten, fiel gemeinsam mit vielen anderen
Schranken in jenen Jahren. Und so verwundert es nicht, dass zwei Romane,
die auf den ersten Blick wenig verbindet, aufgrund der atemberaubenden
Visualität ihrer Beschreibungen so häufig in einem Atemzug genannt werden.
Man mag sich für den Plot der Gormenghast -Romane begeistern oder nicht,
ihrer Atmosphäre kann man sich kaum entziehen. Und es sind jene Stimmungen,
heraufbeschworen durch die sprachgewaltige Beschreibung der Schauplätze,
die bis heute Generationen von Autoren geprägt haben. Nicht allen
Geschichten mag man es auf den ersten Blick ansehen, aber Gormenghasts
Einfluss ist in der aktuellen Phantastik allgegenwärtig. Seine Steine
wurden abgetragen wie die der alten englischen Landhäuser, die man auf der
anderen Seite des Ozeans wieder aufgebaut hat. Das Gestein von Schloss
Gormenghast steckt in George R. R. Martins voluminösen Fantasyepen ebenso
wie in den Pixeln zahlreicher Videospiele, Neil Gaimans Sandman -Comics und
den Filmen von Tim Burton. Ich selbst habe in meinen Romanen wieder und
wieder mit dem Mörtel der Groans gemauert; ich weiß schon gar nicht mehr,
wie oft ich meine Heldinnen und Helden über weitläufige Dächer und enge
Treppenfluchten, durch endlose Hallen und verwinkelte Steinkorridore gejagt
habe. Vieles, das wir heute »gotisch« nennen, geht mindestens so sehr auf
Gormenghasts Fundamente zurück wie auf die häufiger genannten Klassiker von
Walpole und Radcliffe. So scheint es auf den ersten Blick verwunderlich,
dass wir die Wurzeln seiner Entstehung ausgerechnet in China suchen müssen.
Mervyn Peake wurde 1911 in Guling geboren, einem beliebten Urlaubsort
europäischer Kolonialherren im Osten Chinas. Vor allem Briten errichteten
hier hunderte von Villen, in die sie sich vor der Sommerhitze des
Tieflandes zurückzogen. Peakes Vater arbeitete als Arzt und Missionar,
seine Mutter als Krankenschwester. Als die Familie 1923 nach England
zurückkehrte, hatten die Jahre in Guling und später in Peking den
Zwölfjährigen bereits tief geprägt. Die strengen Rituale des chinesischen
Alltags sollten auch das Leben der Bewohner Gormenghasts beherrschen: Das
Schloss ist durchdrungen von Peakes Kindheitseindrücken. Die archaischen
Statuen, die er als Junge auf der Straße nach Peking passierte, dienten ihm
als Vorbilder für Gormenghasts Bildhauereien; chinesische Jadeschnitzer
finden ihre Entsprechung in den armseligen Dorfbewohnern, deren
Schnitzwerke um die Gunst der Herrscherfamilie konkurrieren. So wie Peake
die Lehmhütten der Bergbewohner rund um Guling »wie Napfschnecken« an die
Hänge seines Schlossberges versetzte, übernahm er auch die labyrinthische
Architektur von Pekings Verbotener Stadt als imaginären Bauplan für das
Setting seiner Romane - und potenzierte seine Dimensionen ins Maßlose.
Gormenghast mag vordergründig den Anschein europäischer Historie erwecken,
aber selbst sein verkrustetes Feudalsystem hat mehr mit den Gegebenheiten
am chinesischen Kaiserhof gemein als mit dem britischen Königshaus. Daheim
in England besuchte Mervyn Peake das Internat Eltham School, und die
dortigen Zustände verarbeitete er mit satirischer Feder im zweiten Band
seines Werks, in den Spielen von Titus' Mitschülern, und mehr noch im
Gebaren der skurrilen Lehrerschaft. Nach zweijähriger Ausbildung an einer
Kunsthochschule zog es den begabten Illustrator auf die Kanalinsel Sark.
Obgleich er sich gelegentlich mit den eigenbrötlerischen Bewohnern anlegte,
scheint er dort eine glückliche Zeit verbracht zu haben. Seine Vermieterin
Miss Renouf liebte Federvieh und führte mit Vorliebe einen weißen Vogel auf
ihrer Schulter spazieren; sie mag die Inspiration für manche Eigenheiten
der zukünftigen Lady Groan geliefert haben. Peakes Ruf als Zeichner und
Maler wuchs, er ging zurück aufs Festland, heiratete, zeugte mehrere
Kinder. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er eingezogen, langweilte sich
in verschiedenen Kasernen und Garnsionen und schrieb währenddessen am
ersten Gormenghast -Roman. 1940 ließ er während eines Heimaturlaubs bei
seiner Frau Maeve den Beginn jenes Manuskripts zurück, das bald zu Der
junge Titus heranwachsen sollte; bald folgten weitere Kapitel. Maeve
bewahrte die Teile des Romans unter ihrem Bett auf. Wenn sie für längere
Zeit das Haus verließ, trug sie die Seiten bei sich - aus Angst, dass sie
während eines Luftangriffs verloren gehen könnten. Peake hasste den Alltag
in der Armee und verarbeitete seine Ablehnung im rigid geregelten
Tagesablauf der Bewohner Gormenghasts. Nach zwei Jahren und einem
Nervenzusammenbruch wurde er aus dem Dienst entlassen und kehrte zu seiner
Familie zurück. Er vollendete den ersten Band im Garten-Cottage seines
Elternhauses, wo er nun mit Maeve und den beiden Kindern lebte.
Ausgerechnet Graham Greene war es, der dafür sorgte, dass Titus Groan
veröffentlicht wurde. Es heißt, Peake sei ihm zufällig in einem Londoner
Café begegnet und habe ihm dort zum ersten Mal von Gormenghast erzählt.
Greene, damals bereits ein erfolgreicher Schriftsteller, las das Manuskript
- und sein erstes Urteil war niederschmetternd. »Sehr enttäuscht« sei er,
schrieb er Peake in einem Brief. Er habe ihm »gelegentlich den Hals
umdrehen wollen«, weil er »ein erstklassiges Buch durch Nachlässigkeit
verdorben« habe. Zuletzt bot er ihm an, das Ganze bei einem Whiskey in
einer Bar zu besprechen. Das muss geholfen haben, denn nach gründlicher
Überarbeitung wurde das Buch 1946 vom Verlag Eyre & Spottiswoode
publiziert. Im selben Jahr kehrte die Familie zurück auf die Insel Sark, wo
der zweite Roman entstand. Nebenbei schuf Peake zahllose Zeichnungen seiner
Figuren, weil er sich nicht damit zufrieden gab, die Welt von Gormenghast
allein durch Worte zum Leben zu erwecken. Örtlichkeiten auf Sark flossen
namentlich in die Geschichte ein, wurden zu Teilen des Schlosses und seiner
Umgebung. Als er zehn Jahre später am dritten Buch saß und mit Frau und
Kindern längst wieder auf dem Festland lebte, zog es ihn noch einmal in die
Abgeschiedenheit der Insel; diesmal fuhr er allein, um dort in Ruhe den
Roman zu vollenden. Mervyn Peake ist niemals zu Reichtum gekommen, auch
nicht zu seinen erfolgreichsten Zeiten als Illustrator. Die Gormenghast
-Romane wurden von der Kritik überwiegend wohlwollend aufgenommen, waren
aber alles andere als Bestseller. Peake begann, Theaterstücke zu schreiben,
in der Hoffnung, damit mehr Geld zu verdienen. Doch als sein Drama The Wit
to Woo 1957 in London uraufgeführt wurde, entpuppte es sich als
katastrophaler Misserfolg - ganze siebzehn Pfund habe es eingespielt, wird
behauptet, bevor es überstürzt wieder abgesetzt wurde. Am selben Tag
erkrankte Peake und erholte sich nie wieder. Offenbar war es eine
Kombination verschiedener Krankheiten, die im Laufe der kommenden Jahre
sein Gehirn angriff, darunter Symptome von Parkinson und Enzephalitis. Er
lebte noch ein ganzes Jahrzehnt, verlor aber die Fähigkeit zu zeichnen, und
ein vierter Gormenghast -Roman - eine von mehreren geplanten Fortsetzungen
- blieb Fragment. Mervyn Peake starb 1968 im Alter von 57 Jahren,
körperlich und geistig ein alter Mann, der den späten Erfolg seiner Bücher
nicht mehr miterlebt hat. Wie schon im Fall von Tolkiens Herr der Ringe war
es die Jugend zur Zeit der Studentenrevolten, die Gormenghast
wiederentdeckte und zu anhaltender Popularität verhalf. Titus und Steerpike
haben nie die Berühmtheit von Frodo und Sauron erreicht, aber Peakes
Protagonisten besitzen etwas, das Tolkiens Helden vollkommen abgeht:
unbändigen Drang zur Rebellion. Sie stellen sich gegen die eingerostete
Obrigkeit und ihre Traditionen, persönliche Freiheit wird ihnen zum
höchsten Gut. Dass sie dies zu Feinden macht statt zu Verbündeten, ist die
große Tragik ihrer Geschichte. Peake führt beide nicht als Sympathieträger
im modernen Sinne, und es ist entlarvend, dass einem ausgerechnet Steerpike
in all seiner Verschlagenheit ans Herz wächst: Er ist radikal und
gnadenlos, zugleich aber wendet er das verhasste System geschickt gegen
sich selbst. Und Steerpike ist es auch, durch dessen Augen wir Gormenghast
erstmals kennenlernen - am eindrucksvollsten während seiner Kletterpartie
über die Dachlandschaft des Schlosses, als er die verrottenden Strukturen
aus der Vogelperspektive betrachtet. Es ist der Blickwinkel des ewigen
Rebellen, den Peake hier einnimmt, die Sicht von einem, der glaubt zu
durchschauen, was falsch läuft in seiner Gesellschaft. Steerpike und Titus
sind Gormenghasts ganz eigene Jugendbewegung, und wir teilen ihre
Enttäuschung und ihre Wut, so als wären wir es, die den maroden Mikrokosmos
einer ganzen Welt zu unseren Füßen sehen. Kai Meyer, Mai 2010
phantastische Literatur entwickelt hätte, wäre nicht Tolkiens Herr der
Ringe , sondern Mervyn Peakes Gormenghast zur Blaupause des modernen
Fantasy-Genres geworden. Sicher ist, es gäbe mehr Bücher wie jene Handvoll,
die sich ganz offen zu Peake bekennt: Gloriana von Michael Moorcock, China
Mievilles Perdido Street Station , Die Spur des goldenen Opfers von Lucius
Shepard, natürlich die Viriconium -Trilogie von M. John Harrison, Gene
Wolfes Buch der Neuen Sonne und Jeff VanderMeers Stadt der Heiligen &
Verrückten . Es mag noch weitere geben, aber alles in allem ist die Liste
nicht lang. Warum also gilt Gormenghast bis heute als einer der Eckpfeiler
der Fantasy? Vielleicht, weil es abseits von Tolkien das erste Werk war,
das voll und ganz auf Visualisierung setzt. Die Geschichte - gut und schön.
Die Charaktere - ein Panoptikum aus wandelnden Grotesken. Aber was da vor
unserem inneren Auge entsteht, schon in den allerersten Sätzen, ist ein
ausgefeiltes optisches Panorama. So wundert es nicht, dass Peake sich, wie
Tolkien, erst zu einem Erfolgsautor entwickelte, als auch das Medium Film
am Ende der Sechzigerjahre durch breitere Streuung und Verfügbarkeit einen
neuen Stellenwert erlangte. Die protestierenden Studenten, die die Welten
von Mittelerde und Gormenghast nahezu zeitgleich für sich entdeckten, waren
- anders als ihre Eltern - bereits an Leinwand und Bildschirm geschult, sie
wollten Geschichten und Welten nicht nur lesen, sondern sehen . Die Grenze
zwischen den Wahrnehmungen beider Medien, zuvor vom Literaturbetrieb
unumstösslich aufrecht erhalten, fiel gemeinsam mit vielen anderen
Schranken in jenen Jahren. Und so verwundert es nicht, dass zwei Romane,
die auf den ersten Blick wenig verbindet, aufgrund der atemberaubenden
Visualität ihrer Beschreibungen so häufig in einem Atemzug genannt werden.
Man mag sich für den Plot der Gormenghast -Romane begeistern oder nicht,
ihrer Atmosphäre kann man sich kaum entziehen. Und es sind jene Stimmungen,
heraufbeschworen durch die sprachgewaltige Beschreibung der Schauplätze,
die bis heute Generationen von Autoren geprägt haben. Nicht allen
Geschichten mag man es auf den ersten Blick ansehen, aber Gormenghasts
Einfluss ist in der aktuellen Phantastik allgegenwärtig. Seine Steine
wurden abgetragen wie die der alten englischen Landhäuser, die man auf der
anderen Seite des Ozeans wieder aufgebaut hat. Das Gestein von Schloss
Gormenghast steckt in George R. R. Martins voluminösen Fantasyepen ebenso
wie in den Pixeln zahlreicher Videospiele, Neil Gaimans Sandman -Comics und
den Filmen von Tim Burton. Ich selbst habe in meinen Romanen wieder und
wieder mit dem Mörtel der Groans gemauert; ich weiß schon gar nicht mehr,
wie oft ich meine Heldinnen und Helden über weitläufige Dächer und enge
Treppenfluchten, durch endlose Hallen und verwinkelte Steinkorridore gejagt
habe. Vieles, das wir heute »gotisch« nennen, geht mindestens so sehr auf
Gormenghasts Fundamente zurück wie auf die häufiger genannten Klassiker von
Walpole und Radcliffe. So scheint es auf den ersten Blick verwunderlich,
dass wir die Wurzeln seiner Entstehung ausgerechnet in China suchen müssen.
Mervyn Peake wurde 1911 in Guling geboren, einem beliebten Urlaubsort
europäischer Kolonialherren im Osten Chinas. Vor allem Briten errichteten
hier hunderte von Villen, in die sie sich vor der Sommerhitze des
Tieflandes zurückzogen. Peakes Vater arbeitete als Arzt und Missionar,
seine Mutter als Krankenschwester. Als die Familie 1923 nach England
zurückkehrte, hatten die Jahre in Guling und später in Peking den
Zwölfjährigen bereits tief geprägt. Die strengen Rituale des chinesischen
Alltags sollten auch das Leben der Bewohner Gormenghasts beherrschen: Das
Schloss ist durchdrungen von Peakes Kindheitseindrücken. Die archaischen
Statuen, die er als Junge auf der Straße nach Peking passierte, dienten ihm
als Vorbilder für Gormenghasts Bildhauereien; chinesische Jadeschnitzer
finden ihre Entsprechung in den armseligen Dorfbewohnern, deren
Schnitzwerke um die Gunst der Herrscherfamilie konkurrieren. So wie Peake
die Lehmhütten der Bergbewohner rund um Guling »wie Napfschnecken« an die
Hänge seines Schlossberges versetzte, übernahm er auch die labyrinthische
Architektur von Pekings Verbotener Stadt als imaginären Bauplan für das
Setting seiner Romane - und potenzierte seine Dimensionen ins Maßlose.
Gormenghast mag vordergründig den Anschein europäischer Historie erwecken,
aber selbst sein verkrustetes Feudalsystem hat mehr mit den Gegebenheiten
am chinesischen Kaiserhof gemein als mit dem britischen Königshaus. Daheim
in England besuchte Mervyn Peake das Internat Eltham School, und die
dortigen Zustände verarbeitete er mit satirischer Feder im zweiten Band
seines Werks, in den Spielen von Titus' Mitschülern, und mehr noch im
Gebaren der skurrilen Lehrerschaft. Nach zweijähriger Ausbildung an einer
Kunsthochschule zog es den begabten Illustrator auf die Kanalinsel Sark.
Obgleich er sich gelegentlich mit den eigenbrötlerischen Bewohnern anlegte,
scheint er dort eine glückliche Zeit verbracht zu haben. Seine Vermieterin
Miss Renouf liebte Federvieh und führte mit Vorliebe einen weißen Vogel auf
ihrer Schulter spazieren; sie mag die Inspiration für manche Eigenheiten
der zukünftigen Lady Groan geliefert haben. Peakes Ruf als Zeichner und
Maler wuchs, er ging zurück aufs Festland, heiratete, zeugte mehrere
Kinder. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er eingezogen, langweilte sich
in verschiedenen Kasernen und Garnsionen und schrieb währenddessen am
ersten Gormenghast -Roman. 1940 ließ er während eines Heimaturlaubs bei
seiner Frau Maeve den Beginn jenes Manuskripts zurück, das bald zu Der
junge Titus heranwachsen sollte; bald folgten weitere Kapitel. Maeve
bewahrte die Teile des Romans unter ihrem Bett auf. Wenn sie für längere
Zeit das Haus verließ, trug sie die Seiten bei sich - aus Angst, dass sie
während eines Luftangriffs verloren gehen könnten. Peake hasste den Alltag
in der Armee und verarbeitete seine Ablehnung im rigid geregelten
Tagesablauf der Bewohner Gormenghasts. Nach zwei Jahren und einem
Nervenzusammenbruch wurde er aus dem Dienst entlassen und kehrte zu seiner
Familie zurück. Er vollendete den ersten Band im Garten-Cottage seines
Elternhauses, wo er nun mit Maeve und den beiden Kindern lebte.
Ausgerechnet Graham Greene war es, der dafür sorgte, dass Titus Groan
veröffentlicht wurde. Es heißt, Peake sei ihm zufällig in einem Londoner
Café begegnet und habe ihm dort zum ersten Mal von Gormenghast erzählt.
Greene, damals bereits ein erfolgreicher Schriftsteller, las das Manuskript
- und sein erstes Urteil war niederschmetternd. »Sehr enttäuscht« sei er,
schrieb er Peake in einem Brief. Er habe ihm »gelegentlich den Hals
umdrehen wollen«, weil er »ein erstklassiges Buch durch Nachlässigkeit
verdorben« habe. Zuletzt bot er ihm an, das Ganze bei einem Whiskey in
einer Bar zu besprechen. Das muss geholfen haben, denn nach gründlicher
Überarbeitung wurde das Buch 1946 vom Verlag Eyre & Spottiswoode
publiziert. Im selben Jahr kehrte die Familie zurück auf die Insel Sark, wo
der zweite Roman entstand. Nebenbei schuf Peake zahllose Zeichnungen seiner
Figuren, weil er sich nicht damit zufrieden gab, die Welt von Gormenghast
allein durch Worte zum Leben zu erwecken. Örtlichkeiten auf Sark flossen
namentlich in die Geschichte ein, wurden zu Teilen des Schlosses und seiner
Umgebung. Als er zehn Jahre später am dritten Buch saß und mit Frau und
Kindern längst wieder auf dem Festland lebte, zog es ihn noch einmal in die
Abgeschiedenheit der Insel; diesmal fuhr er allein, um dort in Ruhe den
Roman zu vollenden. Mervyn Peake ist niemals zu Reichtum gekommen, auch
nicht zu seinen erfolgreichsten Zeiten als Illustrator. Die Gormenghast
-Romane wurden von der Kritik überwiegend wohlwollend aufgenommen, waren
aber alles andere als Bestseller. Peake begann, Theaterstücke zu schreiben,
in der Hoffnung, damit mehr Geld zu verdienen. Doch als sein Drama The Wit
to Woo 1957 in London uraufgeführt wurde, entpuppte es sich als
katastrophaler Misserfolg - ganze siebzehn Pfund habe es eingespielt, wird
behauptet, bevor es überstürzt wieder abgesetzt wurde. Am selben Tag
erkrankte Peake und erholte sich nie wieder. Offenbar war es eine
Kombination verschiedener Krankheiten, die im Laufe der kommenden Jahre
sein Gehirn angriff, darunter Symptome von Parkinson und Enzephalitis. Er
lebte noch ein ganzes Jahrzehnt, verlor aber die Fähigkeit zu zeichnen, und
ein vierter Gormenghast -Roman - eine von mehreren geplanten Fortsetzungen
- blieb Fragment. Mervyn Peake starb 1968 im Alter von 57 Jahren,
körperlich und geistig ein alter Mann, der den späten Erfolg seiner Bücher
nicht mehr miterlebt hat. Wie schon im Fall von Tolkiens Herr der Ringe war
es die Jugend zur Zeit der Studentenrevolten, die Gormenghast
wiederentdeckte und zu anhaltender Popularität verhalf. Titus und Steerpike
haben nie die Berühmtheit von Frodo und Sauron erreicht, aber Peakes
Protagonisten besitzen etwas, das Tolkiens Helden vollkommen abgeht:
unbändigen Drang zur Rebellion. Sie stellen sich gegen die eingerostete
Obrigkeit und ihre Traditionen, persönliche Freiheit wird ihnen zum
höchsten Gut. Dass sie dies zu Feinden macht statt zu Verbündeten, ist die
große Tragik ihrer Geschichte. Peake führt beide nicht als Sympathieträger
im modernen Sinne, und es ist entlarvend, dass einem ausgerechnet Steerpike
in all seiner Verschlagenheit ans Herz wächst: Er ist radikal und
gnadenlos, zugleich aber wendet er das verhasste System geschickt gegen
sich selbst. Und Steerpike ist es auch, durch dessen Augen wir Gormenghast
erstmals kennenlernen - am eindrucksvollsten während seiner Kletterpartie
über die Dachlandschaft des Schlosses, als er die verrottenden Strukturen
aus der Vogelperspektive betrachtet. Es ist der Blickwinkel des ewigen
Rebellen, den Peake hier einnimmt, die Sicht von einem, der glaubt zu
durchschauen, was falsch läuft in seiner Gesellschaft. Steerpike und Titus
sind Gormenghasts ganz eigene Jugendbewegung, und wir teilen ihre
Enttäuschung und ihre Wut, so als wären wir es, die den maroden Mikrokosmos
einer ganzen Welt zu unseren Füßen sehen. Kai Meyer, Mai 2010