Adam und Eva, Noah, Abraham, Moses, Maria und die Geburt Jesu: Die meisten von uns kennen diese Geschichten aus der jüdisch-christlichen Überlieferung. Doch sie finden sich nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran. Vergleicht man die Versionen, werden charakteristische Unterschiede, aber auch erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen den Gottesvorstellungen der drei monotheistischen Religionen deutlich. Jack Miles’ Buch über die Darstellung Allahs im Koran bietet, unabhängig von irgendeiner religiösen Haltung, einen unkomplizierten Zugang zur heiligen Schrift des Islam. Und es zeigt, wie eine informierte Lektüre vor einem vereinfachenden – und gefährlichen – Umgang mit heiligen Texten schützt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2019Der immer schon war
Jack Miles liest den Koran als Revision der Bibel. Deren reicher, bunter Erzählstoff
wurde radikal vereinfacht. Wichtig war allein der Glaube an den einen Gott
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Manchmal liegt ein Thema so in der Luft, dass darüber zur gleichen Zeit an weit entfernten Orten fast identische Bücher geschrieben werden. Im vergangenen Jahr haben die deutsche Autorin Sibylle Lewitscharoff und der Exil-Iraker Najem Wali die Bibel mit dem Koran verglichen. Unter dem Titel „Abraham trifft Ibrahim“ untersuchten sie, wie hier und dort gemeinsame „Heldinnen“ und „Helden“ wie Eva, Abraham, Moses oder Maria dargestellt werden. So richtig überzeugen konnte ihr Duett nicht, gleichwohl bescherte die Betrachtung der beiden heiligen Schriften aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln einige Anregungen über Verbindendes und Trennendes (SZ vom 27. 6. 2018). Vor einem Jahr veröffentlichte der Theologe und Sprachwissenschaftler Jack Miles in den USA ein sehr ähnliches Buch. Jetzt ist „Gott im Koran“ auf Deutsch erschienen. Miles nähert sich dem Koran ebenfalls literarisch-vergleichend. Auch er will den Islam und sein Gottesbild dadurch besser verstehen, dass er die menschlichen Figuren betrachtet, die im Koran – und vorher in der Bibel – vorkommen. Es ist fast dasselbe Erzählpersonal wie bei Lewitscharoff und Wali. Doch gelingt es Miles besser, die entscheidenden Punkte zu treffen.
Seine beiden vorherigen Bücher waren dafür eine gute Vorbereitung. 1996 hatte Miles mit „Gott. Eine Biographie“ für eine gewisse Aufregung gesorgt. Kann – ja, darf man eine Biografie Gottes schreiben? Natürlich kann man die Geschichte des Gottesbildes im Alten Testament nicht in das Entwicklungsmodell eines modernen Menschen pressen. Aber die Pointe dieses Titels lag eher darin, die biblischen Gottesvorstellungen aus dem starren Begriffsraster dogmatischer Systeme zu lösen: Gott hat eine Geschichte, und diese ist voller Überraschungen, Widersprüche und Brüche. Inzwischen ist Miles charmante Idee leider allzu oft kopiert worden. Jüngst hat ein Physiker sogar eine „Biographie“ des Mondes veröffentlicht. 2001 erschien dann „Jesus. Der Selbstmord des Gottessohnes“. Wieder gab es Kontroversen: Die Passion Jesu soll als Suizid Gottes zu verstehen sein? Wie immer man diese beiden Bücher von Miles auch beurteilt, in ihnen zeigte sich ein literarischer Sinn für die Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Abgründe der Bibel.
Der Koran nun erscheint bei Miles wie eine Bibelrevision. Er übernimmt den Erzählstoff der Juden und Christen, um ihn einer „radikalen Vereinfachung“ zu unterziehen. Darin liegt eine prophetische Tat. Die Kreativität von Propheten besteht ja nicht darin, dass sie etwas bisher Unbekanntes verkünden würden, sondern sie wählen aus dem reichen, bunten Traditionsfundus, der ihnen vorliegt, das eine aus, was sie unbedingt angeht. Aus der konsequenten Konzentration auf dieses eine Traditionsstück entsteht dann etwas Neues. So haben der Prophet Mohammed und seine Schüler aus dem Judentum und Christentum das einzige genommen, was ihnen allein heilig war: den Glauben an den einen und einzigen, allmächtigen und barmherzigen Gott. Was ihnen problematisch erschien, ließen sie fort: den jüdischen Erwählungs- und den christlichen Erlösungsglauben. So entstand ein neues heiliges Buch von ungeheurer Geschlossenheit.
Folgt man Miles auf seinen Streifzügen durch den Koran, fragt man sich jedoch, ob dem Koran die Vereinfachung der Bibel nicht allzu gut gelungen ist. Denn er ist kein Erzählwerk mehr. Allah, der sich hier ausspricht, weiß nichts von dramatischen Konflikten, unvermuteten Wendungen, jähen Aufstiegen oder Abstürzen zu berichten. Ihm ist suspense ebenso fremd wie eine Entwicklung seiner Figuren. Alles, was an Adams Sündenfall, Abels Ermordung, Noah und der Sintflut, Abrahams Versuch, seinen Sohn zu opfern, oder Marias Mutterschaft abgründig oder geheimnisvoll sein könnte, ist im Koran bereinigt. Wo die Bibel widersprüchliche, erstaunliche, erschütternde Geschichten erzählt, verkündet der Koran immer nur dieselbe religiös-moralische Botschaft: Es gibt nur einen Gott, Mohammed ist sein Prophet, der Mensch soll sich ihm unterwerfen. So macht der Koran aus den deutungsoffenen Erzählungen der Bibel, die sich eben nicht auf einen theo-logischen Gottesbegriff bringen lassen, Lehr-Exempel der ewig gleichen „Moral von der Geschicht’“.
Die Bibel ist hier in Ordnung gebracht, ihre Spannung aufgehoben. Zwar wird von Kennern häufig vorgetragen, dass der eigentliche literarische Reiz des Korans in seiner unvergleichlichen poetischen Sprache läge. Wer aber des Altarabischen nicht mächtig ist (wie der Verfasser dieser Zeilen), dem bleibt dieser Genuss versperrt. Stattdessen nimmt er eher am Eindruck einer erzählerischen Einebnung Anstoß.
Über den Gott des Korans kann man offensichtlich keine Biografie schreiben, selbst Jack Miles nicht. Denn Allah ist stets derjenige, der er immer schon war und sein wird: der absolut Absolute. Auch birgt er keine Paradoxien, die es auszuloten gälte. Das hat nicht nur literarische Folgen, sondern – ein Gedanke, der über das Buch von Miles hinausführt – wirkt sich auf das religiöse Selbstverständnis aus. Ein geschlossener Gottesbegriff wie der des Korans gewährt dem Gläubigen und seiner Gemeinschaft sicherlich eine feste Orientierung. Religion ist hier folgerichtig „Islam“, also „Hingabe“ oder „Unterwerfung“. Einer Religion jedoch, die sich aus den Geschichten der Bibel speist, ist immer schon die Auflehnung gegen Gott eingeschrieben. Sie kann nicht glauben, ohne zu zweifeln, Gott nicht verehren, ohne ihn anzuklagen. In dieser inneren Gebrochenheit kann man eine Voraussetzung dafür sehen, dass der Gläubige seinem Gott mit einer gewissen Freiheit gegenübersteht.
Hat man das neue Buch von Miles zu Ende gelesen, kann man auf den Gedanken kommen, Koran und Bibel würden sich zueinander verhalten wie Glocke und Orgel: hier ein monumentaler Klangkörper mit nur einem, aber grandiosen Ton – dort eine kaum überschaubare Vielzahl von Registern an Stimmen und Stimmungen, hier erhabene, Ehrfurcht gebietende Monotonie – dort verwirrende, erregende Polyphonie.
Jack Miles: Gott im Koran. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag, München 2019. 320 Seiten, 26 Euro.
Die Bibel ist in
Ordnung gebracht,
ihre Spannung aufgehoben
Im Christentum steht der
Gläubige Gott mit einer
gewissen Freiheit gegenüber
Koranfragment (Sure 68, 39-41), in Kufi-Schrift, mit roten Punkten als Vokalzeichen und goldenen Rosetten als Verszeichen.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jack Miles liest den Koran als Revision der Bibel. Deren reicher, bunter Erzählstoff
wurde radikal vereinfacht. Wichtig war allein der Glaube an den einen Gott
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Manchmal liegt ein Thema so in der Luft, dass darüber zur gleichen Zeit an weit entfernten Orten fast identische Bücher geschrieben werden. Im vergangenen Jahr haben die deutsche Autorin Sibylle Lewitscharoff und der Exil-Iraker Najem Wali die Bibel mit dem Koran verglichen. Unter dem Titel „Abraham trifft Ibrahim“ untersuchten sie, wie hier und dort gemeinsame „Heldinnen“ und „Helden“ wie Eva, Abraham, Moses oder Maria dargestellt werden. So richtig überzeugen konnte ihr Duett nicht, gleichwohl bescherte die Betrachtung der beiden heiligen Schriften aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln einige Anregungen über Verbindendes und Trennendes (SZ vom 27. 6. 2018). Vor einem Jahr veröffentlichte der Theologe und Sprachwissenschaftler Jack Miles in den USA ein sehr ähnliches Buch. Jetzt ist „Gott im Koran“ auf Deutsch erschienen. Miles nähert sich dem Koran ebenfalls literarisch-vergleichend. Auch er will den Islam und sein Gottesbild dadurch besser verstehen, dass er die menschlichen Figuren betrachtet, die im Koran – und vorher in der Bibel – vorkommen. Es ist fast dasselbe Erzählpersonal wie bei Lewitscharoff und Wali. Doch gelingt es Miles besser, die entscheidenden Punkte zu treffen.
Seine beiden vorherigen Bücher waren dafür eine gute Vorbereitung. 1996 hatte Miles mit „Gott. Eine Biographie“ für eine gewisse Aufregung gesorgt. Kann – ja, darf man eine Biografie Gottes schreiben? Natürlich kann man die Geschichte des Gottesbildes im Alten Testament nicht in das Entwicklungsmodell eines modernen Menschen pressen. Aber die Pointe dieses Titels lag eher darin, die biblischen Gottesvorstellungen aus dem starren Begriffsraster dogmatischer Systeme zu lösen: Gott hat eine Geschichte, und diese ist voller Überraschungen, Widersprüche und Brüche. Inzwischen ist Miles charmante Idee leider allzu oft kopiert worden. Jüngst hat ein Physiker sogar eine „Biographie“ des Mondes veröffentlicht. 2001 erschien dann „Jesus. Der Selbstmord des Gottessohnes“. Wieder gab es Kontroversen: Die Passion Jesu soll als Suizid Gottes zu verstehen sein? Wie immer man diese beiden Bücher von Miles auch beurteilt, in ihnen zeigte sich ein literarischer Sinn für die Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Abgründe der Bibel.
Der Koran nun erscheint bei Miles wie eine Bibelrevision. Er übernimmt den Erzählstoff der Juden und Christen, um ihn einer „radikalen Vereinfachung“ zu unterziehen. Darin liegt eine prophetische Tat. Die Kreativität von Propheten besteht ja nicht darin, dass sie etwas bisher Unbekanntes verkünden würden, sondern sie wählen aus dem reichen, bunten Traditionsfundus, der ihnen vorliegt, das eine aus, was sie unbedingt angeht. Aus der konsequenten Konzentration auf dieses eine Traditionsstück entsteht dann etwas Neues. So haben der Prophet Mohammed und seine Schüler aus dem Judentum und Christentum das einzige genommen, was ihnen allein heilig war: den Glauben an den einen und einzigen, allmächtigen und barmherzigen Gott. Was ihnen problematisch erschien, ließen sie fort: den jüdischen Erwählungs- und den christlichen Erlösungsglauben. So entstand ein neues heiliges Buch von ungeheurer Geschlossenheit.
Folgt man Miles auf seinen Streifzügen durch den Koran, fragt man sich jedoch, ob dem Koran die Vereinfachung der Bibel nicht allzu gut gelungen ist. Denn er ist kein Erzählwerk mehr. Allah, der sich hier ausspricht, weiß nichts von dramatischen Konflikten, unvermuteten Wendungen, jähen Aufstiegen oder Abstürzen zu berichten. Ihm ist suspense ebenso fremd wie eine Entwicklung seiner Figuren. Alles, was an Adams Sündenfall, Abels Ermordung, Noah und der Sintflut, Abrahams Versuch, seinen Sohn zu opfern, oder Marias Mutterschaft abgründig oder geheimnisvoll sein könnte, ist im Koran bereinigt. Wo die Bibel widersprüchliche, erstaunliche, erschütternde Geschichten erzählt, verkündet der Koran immer nur dieselbe religiös-moralische Botschaft: Es gibt nur einen Gott, Mohammed ist sein Prophet, der Mensch soll sich ihm unterwerfen. So macht der Koran aus den deutungsoffenen Erzählungen der Bibel, die sich eben nicht auf einen theo-logischen Gottesbegriff bringen lassen, Lehr-Exempel der ewig gleichen „Moral von der Geschicht’“.
Die Bibel ist hier in Ordnung gebracht, ihre Spannung aufgehoben. Zwar wird von Kennern häufig vorgetragen, dass der eigentliche literarische Reiz des Korans in seiner unvergleichlichen poetischen Sprache läge. Wer aber des Altarabischen nicht mächtig ist (wie der Verfasser dieser Zeilen), dem bleibt dieser Genuss versperrt. Stattdessen nimmt er eher am Eindruck einer erzählerischen Einebnung Anstoß.
Über den Gott des Korans kann man offensichtlich keine Biografie schreiben, selbst Jack Miles nicht. Denn Allah ist stets derjenige, der er immer schon war und sein wird: der absolut Absolute. Auch birgt er keine Paradoxien, die es auszuloten gälte. Das hat nicht nur literarische Folgen, sondern – ein Gedanke, der über das Buch von Miles hinausführt – wirkt sich auf das religiöse Selbstverständnis aus. Ein geschlossener Gottesbegriff wie der des Korans gewährt dem Gläubigen und seiner Gemeinschaft sicherlich eine feste Orientierung. Religion ist hier folgerichtig „Islam“, also „Hingabe“ oder „Unterwerfung“. Einer Religion jedoch, die sich aus den Geschichten der Bibel speist, ist immer schon die Auflehnung gegen Gott eingeschrieben. Sie kann nicht glauben, ohne zu zweifeln, Gott nicht verehren, ohne ihn anzuklagen. In dieser inneren Gebrochenheit kann man eine Voraussetzung dafür sehen, dass der Gläubige seinem Gott mit einer gewissen Freiheit gegenübersteht.
Hat man das neue Buch von Miles zu Ende gelesen, kann man auf den Gedanken kommen, Koran und Bibel würden sich zueinander verhalten wie Glocke und Orgel: hier ein monumentaler Klangkörper mit nur einem, aber grandiosen Ton – dort eine kaum überschaubare Vielzahl von Registern an Stimmen und Stimmungen, hier erhabene, Ehrfurcht gebietende Monotonie – dort verwirrende, erregende Polyphonie.
Jack Miles: Gott im Koran. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag, München 2019. 320 Seiten, 26 Euro.
Die Bibel ist in
Ordnung gebracht,
ihre Spannung aufgehoben
Im Christentum steht der
Gläubige Gott mit einer
gewissen Freiheit gegenüber
Koranfragment (Sure 68, 39-41), in Kufi-Schrift, mit roten Punkten als Vokalzeichen und goldenen Rosetten als Verszeichen.
Foto: Österreichische Nationalbibliothek
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2019Allah muss die Menschen nicht mit Spannung fesseln
Ein Gott, der mit sich und den Menschen im Reinen ist: Jack Miles widmet sich der Rolle des Allerhöchsten im Koran und erklärt, warum sich der Islam den Vorgängerreligionen überlegen fühlt.
Jack Miles steht mit seinem Buch auf dem festen Fundament seines Lebenswerkes. Dem jetzt ins Deutsche übertragenen "Gott im Koran" (2019) gingen die beiden Bücher "Gott. Eine Biographie" (1996) über Gott im Alten Testament und "Jesus: Der Selbstmord des Gottessohns" (2001) voraus. Es lag also für Miles nahe und fiel ihm trotzdem, wie er selbst in der Danksagung schreibt, nicht leicht, den Schritt zu wagen und sich der Frage nach Gott im Koran zuzuwenden.
Miles' Zögern ist verständlich. Bei jedweder Debatte mit Bezug zur islamischen Religion erweist sich der Koran immer als die letzte Instanz - empörter Ablehnung oder unbedingter Überhöhung. Die heutigen Polemiken haben eine lange Vorgeschichte: So wurde von jüdischer und christlicher Seite der Koran als eine plumpe Nachahmung des Tanach beziehungsweise des Alten und Neuen Testaments abgetan. Juden und Christen waren sich einig in der Kritik (die von jüdischer Seite übrigens auch gegenüber dem Neuen Testament erhoben wurde), dass im Koran das, was wahr ist, nicht neu sei, und das, was neu ist, nicht wahr sei.
Die muslimische Sichtweise wiederum war und ist, dass die Heiligen Schriften der Juden und Christen unbestritten von Gott herabgesandt wurden, aber von den Menschen aus Eitelkeit, Eigennutz und Unachtsamkeit verfälscht wurden. Erst die dem Propheten Mohammed verkündete Schrift sei die reine unverfälschte Schrift. Sie stehe nun der gesamten Menschheit zur Verfügung; einem gänzlich rechtgeleiteten Leben im Sinne eines wahren Glaubens stehe damit nichts mehr im Wege.
Miles will nicht nur, dass man sich des zwanghaften Griffs in die jeweiligen Bauchläden der wohlfeilen Vorwürfe enthält, sondern schlägt zugleich vor, über die berechtigten, aber allzu oft sterilen Standpunkte einer rein wissenschaftlichen Annäherung hinauszudenken. Wissenschaft könne vieles zu Autorschaft, Entstehungszeitpunkt oder Überlieferungsgeschichte sagen, aber vergesse darüber oft, Werke wie den Koran als ästhetische Schöpfung zu betrachten. Miles weiß natürlich, dass es unmöglich ist, den Koran allein als komplexes und hochwertiges literarisches Produkt zu betrachten.
Der Gravität der theologischen, ideologiegeschichtlichen und politischen Bedeutung des Korans kann keine Darstellung entrinnen. Man solle sich aber zumindest einer solchen intellektuellen Übung gegenüber offen verhalten - das ist der nicht allzu hoch veranschlagte Eintrittspreis, den Miles für die Lektüre seines Buchs verlangt.
Um dem Ziel eines emotional möglichst wenig belasteten Zugangs zum Koran nahe zu kommen, regt Miles die "Aussetzung der Ungläubigkeit" (suspension of disbelief) an, eine im neunzehnten Jahrhundert von Samuel Taylor Coleridge in die englische Literaturkritik eingeführte Zugangsweise: Man könne am Sonntag Jesu Bergpredigt als Teil der eigenen Gottesverehrung hören und dennoch am folgenden Tag denselben Text als literarische Figur verstehen. Ergänzend begreift Miles sein Buch nicht als theologische Abhandlung, sondern als "Theografie": Dem Gott des Korans sei wie einer Figur in einem literarischen Werk zu begegnen. Dieses Unternehmen gelingt Miles, auch dank der sensiblen Übertragung ins Deutsche, sehr gut. Die vergleichende Lektüre von entsprechenden Passagen im Koran und im Alten sowie - sehr viel seltener - Neuen Testament lässt die Aussagen Allahs plastisch und verständlich hervortreten.
Dass der Koran vielen Nichtmuslimen als schwer zugänglich gilt und enttäuschend verwirrend erscheint, kann Miles damit erklären, dass der Text heutige Lesererwartungen sabotiert. Während beispielsweise die Exodus-Erzählung zu Mose gleichsam filmisch voranschreitet, wird im Koran jedes Spannungsmoment durch die Ankündigung des folgenden Geschehens vorab aufgehoben. Der Koran entbehrt meistens des Moments einer fesselnden Erzählung; zugleich gewinnt er damit größere Klarheit und Sicherheit.
Allah steht über dem Zwang, die Menschen durch eine spannende Handlung fesseln und an sich binden zu wollen. Er weiß, dass Mohammed weiß, was die früheren Schriften über Adam und Eva, Adams Söhne, Noah, Abraham und seinen Vater, Abraham und seine Söhne, Joseph, Mose, Jesus und seine Mutter (dargestellt in den acht zentralen Kapiteln des Buches) zu sagen haben. Der Koran gibt nur eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse beziehungsweise spielt nur auf sie an und kommt dann gleich zur Lehre aus der Geschichte, nämlich dass die Menschen Allahs Göttlichkeit anerkennen und sich ihm als dem einzigen Gott unterwerfen sollen.
Jahwe zum Beispiel macht absichtlich den Pharao verstockt, um auf diese Weise Ägypten umso mehr zu strafen und den Abstand zwischen dem von ihm auserwählten Volk und den Ägyptern umso größer werden zu lassen. Allah dagegen ist gegenüber jedem Menschen verzeihend, wenn der nur rechtzeitig seine Göttlichkeit erkennt und anerkennt. Der Pharao, Allahs Größe in den letzten Momenten seines Lebens erfassend, stirbt als Muslim. Während Jahwe also mit sich selbst und mit den Menschen ringt, ist Allah mit sich im Reinen. Miles macht verständlich, warum Muslime ihre eigene Schrift als denen der Juden und Christen überlegen ansehen können. Der Islam übernimmt demnach aus den beiden Vorgängerreligionen, was am wertvollsten ist, und beseitigt zugleich deren problematische Aspekte. So übernimmt der Koran die jüdische Kritik am göttlichen Christus und an der damit prekären Position des Monotheismus im Christentum; zugleich universalisiert er, in Analogie zum Christentum, den ursprünglich nur mit dem Judentum geschlossenen Pakt Gottes.
Miles spricht es nicht aus, aber es ist offensichtlich: Wenn man an Jahwe in seiner Rachsucht und Unberechenbarkeit zweifeln kann, so kann Allahs Berechenbarkeit und Milde unerbittlich werden, indem die Zugehörigkeit zum Islam als letztlich unvermeidlich und einzig rationale Handlung anzusehen ist. In dieser Hinsicht fällt der abschließende Ausblick von Miles etwas zu optimistisch aus. Man kann sich eine "hybride Zivilisation", die wir - so Miles - dringend bräuchten, wohl vorstellen, aber derzeit noch kaum eine, in der alle Religionen bereitwillig ihre Argumentationspositionen aufgeben würden. Den anderen abschließenden Vorschlag von Miles kann man aber mittragen, nämlich dass, wie in Lessings Ringparabel, das abschließende Urteil über die drei Religionen aufzuschieben ist, bis sie und wir auf ihr Werk abschließend zurückblicken können.
MAURUS REINKOWSKI
Jack Miles:
"Gott im Koran".
Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag,
München 2019.
320 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Gott, der mit sich und den Menschen im Reinen ist: Jack Miles widmet sich der Rolle des Allerhöchsten im Koran und erklärt, warum sich der Islam den Vorgängerreligionen überlegen fühlt.
Jack Miles steht mit seinem Buch auf dem festen Fundament seines Lebenswerkes. Dem jetzt ins Deutsche übertragenen "Gott im Koran" (2019) gingen die beiden Bücher "Gott. Eine Biographie" (1996) über Gott im Alten Testament und "Jesus: Der Selbstmord des Gottessohns" (2001) voraus. Es lag also für Miles nahe und fiel ihm trotzdem, wie er selbst in der Danksagung schreibt, nicht leicht, den Schritt zu wagen und sich der Frage nach Gott im Koran zuzuwenden.
Miles' Zögern ist verständlich. Bei jedweder Debatte mit Bezug zur islamischen Religion erweist sich der Koran immer als die letzte Instanz - empörter Ablehnung oder unbedingter Überhöhung. Die heutigen Polemiken haben eine lange Vorgeschichte: So wurde von jüdischer und christlicher Seite der Koran als eine plumpe Nachahmung des Tanach beziehungsweise des Alten und Neuen Testaments abgetan. Juden und Christen waren sich einig in der Kritik (die von jüdischer Seite übrigens auch gegenüber dem Neuen Testament erhoben wurde), dass im Koran das, was wahr ist, nicht neu sei, und das, was neu ist, nicht wahr sei.
Die muslimische Sichtweise wiederum war und ist, dass die Heiligen Schriften der Juden und Christen unbestritten von Gott herabgesandt wurden, aber von den Menschen aus Eitelkeit, Eigennutz und Unachtsamkeit verfälscht wurden. Erst die dem Propheten Mohammed verkündete Schrift sei die reine unverfälschte Schrift. Sie stehe nun der gesamten Menschheit zur Verfügung; einem gänzlich rechtgeleiteten Leben im Sinne eines wahren Glaubens stehe damit nichts mehr im Wege.
Miles will nicht nur, dass man sich des zwanghaften Griffs in die jeweiligen Bauchläden der wohlfeilen Vorwürfe enthält, sondern schlägt zugleich vor, über die berechtigten, aber allzu oft sterilen Standpunkte einer rein wissenschaftlichen Annäherung hinauszudenken. Wissenschaft könne vieles zu Autorschaft, Entstehungszeitpunkt oder Überlieferungsgeschichte sagen, aber vergesse darüber oft, Werke wie den Koran als ästhetische Schöpfung zu betrachten. Miles weiß natürlich, dass es unmöglich ist, den Koran allein als komplexes und hochwertiges literarisches Produkt zu betrachten.
Der Gravität der theologischen, ideologiegeschichtlichen und politischen Bedeutung des Korans kann keine Darstellung entrinnen. Man solle sich aber zumindest einer solchen intellektuellen Übung gegenüber offen verhalten - das ist der nicht allzu hoch veranschlagte Eintrittspreis, den Miles für die Lektüre seines Buchs verlangt.
Um dem Ziel eines emotional möglichst wenig belasteten Zugangs zum Koran nahe zu kommen, regt Miles die "Aussetzung der Ungläubigkeit" (suspension of disbelief) an, eine im neunzehnten Jahrhundert von Samuel Taylor Coleridge in die englische Literaturkritik eingeführte Zugangsweise: Man könne am Sonntag Jesu Bergpredigt als Teil der eigenen Gottesverehrung hören und dennoch am folgenden Tag denselben Text als literarische Figur verstehen. Ergänzend begreift Miles sein Buch nicht als theologische Abhandlung, sondern als "Theografie": Dem Gott des Korans sei wie einer Figur in einem literarischen Werk zu begegnen. Dieses Unternehmen gelingt Miles, auch dank der sensiblen Übertragung ins Deutsche, sehr gut. Die vergleichende Lektüre von entsprechenden Passagen im Koran und im Alten sowie - sehr viel seltener - Neuen Testament lässt die Aussagen Allahs plastisch und verständlich hervortreten.
Dass der Koran vielen Nichtmuslimen als schwer zugänglich gilt und enttäuschend verwirrend erscheint, kann Miles damit erklären, dass der Text heutige Lesererwartungen sabotiert. Während beispielsweise die Exodus-Erzählung zu Mose gleichsam filmisch voranschreitet, wird im Koran jedes Spannungsmoment durch die Ankündigung des folgenden Geschehens vorab aufgehoben. Der Koran entbehrt meistens des Moments einer fesselnden Erzählung; zugleich gewinnt er damit größere Klarheit und Sicherheit.
Allah steht über dem Zwang, die Menschen durch eine spannende Handlung fesseln und an sich binden zu wollen. Er weiß, dass Mohammed weiß, was die früheren Schriften über Adam und Eva, Adams Söhne, Noah, Abraham und seinen Vater, Abraham und seine Söhne, Joseph, Mose, Jesus und seine Mutter (dargestellt in den acht zentralen Kapiteln des Buches) zu sagen haben. Der Koran gibt nur eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse beziehungsweise spielt nur auf sie an und kommt dann gleich zur Lehre aus der Geschichte, nämlich dass die Menschen Allahs Göttlichkeit anerkennen und sich ihm als dem einzigen Gott unterwerfen sollen.
Jahwe zum Beispiel macht absichtlich den Pharao verstockt, um auf diese Weise Ägypten umso mehr zu strafen und den Abstand zwischen dem von ihm auserwählten Volk und den Ägyptern umso größer werden zu lassen. Allah dagegen ist gegenüber jedem Menschen verzeihend, wenn der nur rechtzeitig seine Göttlichkeit erkennt und anerkennt. Der Pharao, Allahs Größe in den letzten Momenten seines Lebens erfassend, stirbt als Muslim. Während Jahwe also mit sich selbst und mit den Menschen ringt, ist Allah mit sich im Reinen. Miles macht verständlich, warum Muslime ihre eigene Schrift als denen der Juden und Christen überlegen ansehen können. Der Islam übernimmt demnach aus den beiden Vorgängerreligionen, was am wertvollsten ist, und beseitigt zugleich deren problematische Aspekte. So übernimmt der Koran die jüdische Kritik am göttlichen Christus und an der damit prekären Position des Monotheismus im Christentum; zugleich universalisiert er, in Analogie zum Christentum, den ursprünglich nur mit dem Judentum geschlossenen Pakt Gottes.
Miles spricht es nicht aus, aber es ist offensichtlich: Wenn man an Jahwe in seiner Rachsucht und Unberechenbarkeit zweifeln kann, so kann Allahs Berechenbarkeit und Milde unerbittlich werden, indem die Zugehörigkeit zum Islam als letztlich unvermeidlich und einzig rationale Handlung anzusehen ist. In dieser Hinsicht fällt der abschließende Ausblick von Miles etwas zu optimistisch aus. Man kann sich eine "hybride Zivilisation", die wir - so Miles - dringend bräuchten, wohl vorstellen, aber derzeit noch kaum eine, in der alle Religionen bereitwillig ihre Argumentationspositionen aufgeben würden. Den anderen abschließenden Vorschlag von Miles kann man aber mittragen, nämlich dass, wie in Lessings Ringparabel, das abschließende Urteil über die drei Religionen aufzuschieben ist, bis sie und wir auf ihr Werk abschließend zurückblicken können.
MAURUS REINKOWSKI
Jack Miles:
"Gott im Koran".
Aus dem Englischen
von Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag,
München 2019.
320 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Um dem Ziel eines emotional möglichst wenig belasteten Zugangs zum Koran nahe zu kommen, regt Miles die 'Aussetzung der Ungläubigkeit' an (...): Dem Gott des Korans sei wie einer Figur in einem literarischen Werk zu begegnen. Dieses Unternehmen gelingt Miles, auch dank der sensiblen Übertragung ins Deutsche, sehr gut." Maurus Reinkowski, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.07.19
"Miles argumentiert textimmanent - also nicht als Theologe und ohne Interesse an Kontroverse oder Missionierung. Es geht ihm um 'Theographie', um eine nutzerfreundliche, deskriptive Lektüre, mit literarischer Wertschätzung und ohne philosophische Ausweitungen; bereit, sich von den Texten überraschen zu lassen. Und das gelingt wirklich gut." Ursula Baatz, Die Presse, 25.10.19
"Für den früheren Jesuitenzögling [Miles] sind die heiligen Schriften nicht bloße Literatur, sondern Ausfluss metahistorischer Inspiration, die einer philosophischen Erörterung offenstehen. Und die hält so manche Überraschung bereit." Konstantin Sakkas, Islamische Zeitung, 02.10.19
"Miles argumentiert textimmanent - also nicht als Theologe und ohne Interesse an Kontroverse oder Missionierung. Es geht ihm um 'Theographie', um eine nutzerfreundliche, deskriptive Lektüre, mit literarischer Wertschätzung und ohne philosophische Ausweitungen; bereit, sich von den Texten überraschen zu lassen. Und das gelingt wirklich gut." Ursula Baatz, Die Presse, 25.10.19
"Für den früheren Jesuitenzögling [Miles] sind die heiligen Schriften nicht bloße Literatur, sondern Ausfluss metahistorischer Inspiration, die einer philosophischen Erörterung offenstehen. Und die hält so manche Überraschung bereit." Konstantin Sakkas, Islamische Zeitung, 02.10.19