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Für Gottfried Benn war das Ende seiner Ehen, Affären, militärischen und zivilen Karrieren kein Unglück, sondern eine Chance, neu zu beginnen. Das zeigt Holger Hof in einer vorbildlichen Biographie.
Der junge Mann ist "ein blonder schlanker, typisch preußisch aussehender Mensch, in der Art der jungen Bredows und Unruhs. Er macht Verbeugungen beim Herein- und Hinausgehn, Verbeugungen reicht man ihm eine Hand. (. . .) Geringe Beziehung zum Westen, Entwicklung auf naturwissenschaftlicher Basis". So beschreibt Thea Sternheim im Jahr 1917 den Dichter Gottfried Benn, der als Armeearzt in Brüssel stationiert und auf dem belgischen Landsitz der Sternheims zu Gast ist. Benn, aufgewachsen "unter Begriffen wie Gottes Zorn, Vaterland, Bereitschaft für den Staat zu sterben", stelle sich nicht gegen den Krieg - da er "einmal da" sei, müsse er "ausgekämpft" werden, "Milde" sei "in keiner Hinsicht am Platze". Dann fragt die Tagebuchschreiberin erstaunt: "Wie kommt sein Wortschatz so ins Blühen?"
Es ist die Frage aller Fragen, der Kern des Rätsels Gottfried Benn. Wie konnte ein Mann, dessen Talente als Liebhaber, Familienvater und Freund so mäßig, dessen politische und menschliche Einsichten so begrenzt waren, zu einem der großen Dichter deutscher Sprache werden? Woher nahm er seinen Ton, seinen Rhythmus, seine Worte? Benn selbst hat, wenn er über sein Schaffen Auskunft geben sollte, immer wieder vom "Geist" geraunt, den Reichen des "Gegenglücks", zu dem gewöhnliche Sterbliche keinen Zutritt hätten, "denn in meinem Haus kann man nicht landen, / in dem Haus muss man geboren sein". Zugleich aber war er Korpsstudent - sein linkes Augenlid hing als Folge einer Duellverletzung herab -, Facharzt für Geschlechtskrankheiten und bekennender Biertrinker, der mit Vorliebe Kriminal- und Abenteuerromane las, Zigaretten der Marke "Juno" rauchte und abends beim Pils in seiner Stammkneipe gern im "Spiegel" blätterte.
Diese Banalitäten des Alltags mit dem elegischen Hochmut der Bennschen Lyrik zu versöhnen, ohne in Kaffeesatzleserei oder Klatschspaltenprosa zu verfallen, ist die Herausforderung jeder Benn-Biographie. Zahlreiche deutsche Geistesgrößen, von Hans Egon Holthusen bis Dieter Wellershoff, von Bruno Hillebrand bis Fritz J. Raddatz, haben sich ihr in den vergangenen Jahrzehnten gestellt, ohne dass der "Fall Benn" dadurch seiner Erledigung auch nur eine Handbreit näher gekommen wäre. Jetzt hat Holger Hof, Autor eines vor vier Jahren erschienenen prachtvollen Bildbands über Benn, eine neue Lebensbeschreibung des Dichters vorgelegt, die man schon heute ohne Übertreibung kanonisch nennen darf. Auch sie bildet nicht den Schlussstein der Benn-Biographistik - falls es diesen Schlussstein jemals geben kann. Aber sie kommt dem Ideal einer unverzerrten Darstellung dieses zwischen Bierdunst und Ätherluft schwebenden Poetenlebens ziemlich nah.
Hofs Leitgedanke ist ebenso einleuchtend wie seinem Gegenstand gemäß: Er will die Lebensgeschichte Benns aus den Quellen selbst, aus den Texten des Dichters und seiner Zeitgenossen, zum Sprechen bringen. Deshalb finden sich in seinem keineswegs ausufernden Buch - mit vierhundertfünfzig Textseiten bleibt es deutlich unter dem Schnitt neuerer Großbiographien - etliche mehrseitige Zitate. Etwa jener Brief vom April 1939, den der abermals im Waffenrock praktizierende Benn an seinen Vorgesetzten Waldmann schrieb, um sich gegen die Denunziationen eines völkischen Malers namens Willrich zu wehren. Unter anderem gibt er darin zu Protokoll, "dass von einer Gegensätzlichkeit zwischen meinen Büchern und dem Nationalsozialismus keine Rede sein kann" und "dass ich 1933, 1934 ein leidenschaftlicher Anhänger der Bewegung war". Das ist schmerzlich zu lesen; am schlimmsten aber, schlimmer noch als Benns Beteuerung, in seiner Familie gebe es "keinen Bolschewismus, weder politischen noch kulturellen", ist der Satz, mit dem der Autor am Ende sein Werk verleugnet: "Meine Bücher haben immer nur einen ganz kleinen Kreis von Lesern beschäftigt, sie gehören einer vergangenen Epoche an." Über Benns Affäre mit dem Nationalsozialismus ist viel spekuliert worden; dieser Brief, den er zeitlebens unterdrückte, gibt die entscheidende Auskunft. Der Dichter, dessen Fiebertraum von der intellektuellen Neugeburt im Hitlerstaat seit dem Röhm-Putsch zerstoben ist, katzbuckelt vor der Macht. "Leben - niederer Wahn"? Von wegen: Benn tat damals alles, um zu überleben.
Hofs Darstellung, und das ist ihr erzählerischer Kniff, setzt mit dem Ende dieser "aristokratischen Form der Emigration" in der Wehrmachtsetappe ein, mit dem Augenblick, in dem Benns Existenz in den Strudel der Kriegsereignisse gerissen wird. Im Januar 1945 lebt der Oberfeldarzt Benn mit seiner zweiten Frau Hertha in Landsberg an der Warthe, wo er die ersten seiner "Statischen Gedichte" verfasst. Die deutsche Ostfront zerbricht, russische Panzer nähern sich dem Städtchen, die Benns müssen fliehen. Benn, der für die Zugbillets die letzte Flasche Rotwein opfert, schickt seine Frau nach Berlin und reist im offenen Viehwaggon nach. Als im April das Ende des "Dritten Reiches" absehbar wird, will er Hertha in Neuhaus an der Elbe in Sicherheit bringen. Doch der Ort, scheinbar im amerikanischen Einflussbereich, fällt an die Rote Armee. Am 2. Juli nimmt sich Hertha Benn in Neuhaus das Leben.
Es ist der Nullpunkt in Benns Biographie. Drei Monate lang bleibt sein Notizkalender, den Hof zum ersten Mal systematisch auswertet, leer; selbst die Atombombe auf Hiroshima (die Hof irrtümlich auf Juli datiert) ist ihm keine Zeile wert. Erst im Herbst greift er wieder zum Kugelschreiber, dem "einzigen Vehikel, mit dem ich mich bewegen kann". Nun beginnt die "Phase II", die Zeit seiner größten Wirkungsmacht, die Phase des Ruhms.
Klaus Theweleit hat in seinem "Buch der Könige" das "Frauenopfer" zum Leitmotiv einer furiosen Benn-Deutung gemacht. Hof geht nicht so weit, obwohl er keine der Bennschen Liebschaften unerwähnt lässt, und er folgt auch Helmut Lethen nicht, der aus Benns Werk und Habitus die "Verhaltenslehren der Kälte" des deutschen Militarismus herauslas. Bei Hof steht stattdessen das Muster aus Krisen und Wiederaufschwüngen im Zentrum, mit dem Benn ein ums andere Mal seinen Wörtersee vor dem Austrocknen bewahrte. Schon der frühe Benn psychosomatisierte, um aus der Kaserne ins Romanische Café zu entkommen. Der Krebstod seiner Mutter gab den Anstoß für die expressionistischen Gedichte der "Morgue"; die besten der "Statischen Gedichte" entstanden im Chaos der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Krise war für diesen "Spezialisten für Häutungen aller Art" (Hof) kein Unglück, sondern ein Lebensprinzip, eine wiederkehrende Gelegenheit, neu zu beginnen. Seine abgelegten Identitäten ließ er im Lethe zurück, in dem der "Mann ohne Gedächtnis" regelmäßig badete; "unser schwaches Erinnerungsvermögen hält uns am Leben", notierte er acht Monate vor seinem Tod.
Von diesem Deutungsrahmen abgesehen, hält sich Hof mit Thesen zu Benns Leben erfreulich zurück. Sein Buch ist auch in dem Sinn auf der Höhe Benns, als es dessen Formbewusstsein in seiner eigenen Erzählökonomie spiegelt. In Hofs Benn-Haus hängen keine Foucaults, und es wird auch kein Lacan gespielt. Hier spricht der Dichter selbst, auch dort, wo er "plötzlich schlecht" (Klaus Mann) oder feierabendlich beschwipst schreibt, wie in der "Bierode" aus Benns Zeit als Garnisonsarzt in Hannover (F.A.Z. vom 25. September 2010), die sein Biograph in voller Länge wiedergibt. "Welch gewaltiger Schritt der Natur / Bis zum Gerstensaft! / Autochtone Durstregelung, / Flüssigkeitszufuhr / halb aus Trieb u halb aus Lust, / Erhabenes Erhobensein / über die Vorstufen / von Dahindämmern u. Arterhaltung!", heißt es dort, und einige Verse weiter: "im edlen Bräu, / vergleichbar den Hannoverschen Besonderheiten. / Härke, Gilde, Lindener Spezial, / von Bier zu Bier / die grosse Linie der Menschwerdung / Hallelujah, Pröstchen!"
In dieser Theorieabstinenz bei gleichzeitiger Ausschöpfung aller verfügbaren Quellen liegt die Noblesse eines Buches, das sich hinter keiner der klassischen Benn-Studien zu verstecken braucht. Deshalb seien dem Autor auch gelegentliche Abstürze in einen nachgekauten Benn-Ton verziehen: "Besessen von Unerinnerlichkeit, schuf er das Erträglich und aus dem Vergessen des Gestern die Neuheit der Stunde." Es ist wahr, die Coolness dieses Dichters, sein raffiniert verschattetes Pathos, der melancholische Sound seiner Zerebrallyrik wirken immer wieder unwiderstehlich. Aber dieser Heroiker des Nichts ("ich bin für Vacuum") hatte zugleich ein gänzlich unheroisches Betriebsgeheimnis: sein Leben. Dieses Geheimnis mit souveräner Genauigkeit ausgeleuchtet zu haben, ist das Verdienst von Holger Hofs Biographie.
ANDREAS KILB
Holger Hof: "Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis". Eine Biographie.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 537 S., geb., 26,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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