Sie überlebten zwei Weltkriege, erlebten den Rassismus, flohen vor dem Nationalsozialismus. Sie entgingen dem Holocaust und überlebten eine Odyssee. Adorno und Horkheimer hatten den Mut, nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückzukommen, um eine andere, humanere Gesellschaft aufzubauen. Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär - allen voran ihr Papst, Theodor W. Adorno, und ihr Finanz- und Außenminister, Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft eine vielschichtige Biographie der Frankfurter Schule, die sich mitten im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhundert ereignet. Mitreißend schildert er, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er Jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Kritisch beobachtet Jeffries, wie die 68er-Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Ironisch hält er fest, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass die "Schule" geschlossen wird. Und dennoch stellte die Frankfurter Schule fast alles vom Kopf auf die Füße: Entschieden wehrten sie sich gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus, Beherrschung von Natur und Mensch. Die deutsche Gesellschaft ist seither eine ganz andere: freier, offener, (selbst-)kritischer. "Eine fesselnde Geschichte des Lebens und der wichtigsten Ideen der führenden Denker der Frankfurter Schule." New York Review of Books "Eine leicht zugängliche, unterhaltsame Geschichte von einer der beeindruckenderen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts." Owen Hatherley, The Guardian
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Worüber reden die Mönche der Moderne im Café Marx?
Mit viel Phantasie: Stuart Jeffries hat ein unhistorisches Buch über die Geschichte der Frankfurter Schule geschrieben.
Von Jörg Später
Stuart Jeffries, Jornalist des "Guardian", hat neue und ungewohnte Perspektiven auf die Frankfurter Sozialphilosophie anzubieten. Damit ist nicht der Titel seines nun auf Deutsch vorliegenden Buchs gemeint, also das Bonmot vom Grand Hotel Abgrund, das von Georg Lukács stammt und dessen Missmut über die Praxisabstinenz bis -verweigerung von Horkheimer und Adorno ausdrückt, den der Autor teilt. Erfrischend ungewöhnlich ist, dass so manche Nebenfigur in der langen Geschichte des Instituts für Sozialforschung hier stärker als sonst üblich ausgeleuchtet wird: Erich Fromm etwa oder Henryk Grossmann, jener orthodoxe Marxist unter den Frankfurtern, der die gesellschaftlichen Miseren unverdrossen in der politischen Ökonomie suchte und nicht in der Kultur, womit Jeffries sympathisiert.
Voller Überraschungen sind auch die Einstiege in die Kapitel. Der Autor schaut gerne vom Rand aus auf die Granden der Frankfurter Sozialphilosophie. Walter Benjamins Erinnerungen an seine Berliner Kindheit von 1900 ist beispielsweise die Ouvertüre (und nicht etwa die Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923/24). Der Autor will eben das ganze Jahrhundert von den Pferdekutschen bis zur Online-Kulturindustrie erfassen, und warum auch nicht. Und er will zeigen, dass die Randfigur Benjamin der originelle Vordenker des Kreises um Horkheimer war (was nach Ansicht des Rezensenten allerdings nur auf Adorno zutrifft).
Nach Benjamin betritt dann Freud die Bühne des Stücks, um die Genealogie der Kritischen Theorie zu beleuchten. Dem Autor ist nämlich aufgefallen, dass das Frankfurter Milieu durchgängig von ödipalen Generationenkonflikten zwischen Vätern und Söhnen geprägt war. Erst nach Freud kommen dann die gesellschaftlichen Verhältnisse: Klassengesellschaft, Antisemitismus . . . - so entsteht hier die "Frankfurter Schule".
Das Buch ist aber auch merkwürdig: Der Autor verwechselt die "Frankfurter Schule" mit dem Institut für Sozialforschung. Doch es gab keine "Frankfurter Schule", bis die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren und später manche Schüler Adornos von einer Schule sprachen. Weder Carl Grünberg noch Axel Honneth waren je "Leiter der Frankfurter Schule". Jeffries Erzählung ist zutiefst unhistorisch. Sie konstruiert ein Subjekt, von dem keiner seiner "Mitglieder" wusste, dass es existiert. Ob und in welcher Hinsicht eine Gruppe von Sozialphilosophen, Soziologen, Sozialpsychologen, marxistischen Wirtschafts- und Kulturkritikern und so weiter existierte, die mehr oder weniger lose mit dem Institut verbunden waren, müsste gezeigt, statt bloß behauptet werden.
Jeffries aber hat andere Ziele: Er stellt die vermeintlichen Schlüsseltexte vor, manchmal referiert er präzise und treffend, manchmal ausschweifend und wirr. Daneben kommentiert er sie ohne Unterlass. Oft findet er etwas abstrus, bemerkt Widersprüche und beklagt sich über alte patriarchale weiße Männer, die Horkheimer, Adorno und Marcuse in den sechziger Jahren schließlich auch waren. Vor allem aber lässt Jeffries seine Leser wissen, was ihm alles so dazu einfällt, vorwiegend aus dem Bereich der Popkultur. Es ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn immer wieder mal gefragt wird, wie aktuell diese oder jene Zeitdiagnose noch ist, ob sie denn auch "stimmt", aber in dieser Häufigkeit ist das bei einem Phänomen mit historischem Wahrheitskern doch eher unangemessen.
Zudem ist das Buch voll von sprachlichen Übersprungshandlungen: Mönche der Moderne sitzen etwa im Café Marx, das irgendwann in Café Max umbenannt wird. Abenteurer wie der sowjetische Spion Richard Sorge bringen die biederen "Lehnstuhlphilosophen" in Verlegenheit, und Jeffries folgt den "Actionhelden" bereitwillig auf ihren Wegen. Der Autor walzt so manches Gerücht aus und sagt dann irgendwann, dass es so nicht war, versichert aber doch in einem dieser Fälle: "Beim Lesen dieser Passage fällt es schwer, nicht an die Szene in ,Annie Hall' zu denken, in der Alvy Singer, gespielt von Woody Allen, unklugerweise mit einer Reporterin vom Rolling Stone zu einem Konzert mit Bob Dylan geht." Man hat oft mit solchen Sätzen zu kämpfen.
Jeffries hat eine blühende Phantasie und produziert so manche Stilblüte. Seine Kapitelüberschriften sind so verwegen wie verrätselt: "Im Rachen des Krokodils" und "An die Wand Motherfuckers", so heißen doch noch nicht einmal B-Pictures. Auch die Übersetzung trägt zum gemischten Leseerlebnis bei. Dass es sich um eine Übertragung handelt, vergisst man leider zu keinem Zeitpunkt. Kurios etwa dies: Adornos Texte "bilden nicht, was man vielleicht eher erwartet hätte, die verzweifelt gutgelaunte Maske eines Mannes ab, der zusehen muss, wie sich hinter seinen Eltern der Abgrund öffnet." Gute Güte! Eine Übersetzung ist ein neu geschriebener Text, eine schwierige Angelegenheit, und es ist nicht einzusehen, warum man auf ein Lektorat verzichten sollte - das in diesem Fall zudem so manche der vielen krassen sachlichen Fehler des Originals hätte eliminieren können.
Hier nur ein paar wenige davon: Weder Benjamin noch Adorno waren 1925 mit dem Institut für Sozialforschung verbunden. Noch zum Zeitpunkt seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität 1931 war Adorno kein Mitarbeiter und Horkheimer folglich nicht sein "Vorgesetzter". Benjamins Kunstwerkaufsatz wurde zuerst nicht in Deutsch, sondern in Französisch veröffentlicht. Gershom Scholem war kein jüdischer Mystiker, sondern forschte über die jüdische Mystik. Ernst Bloch "lebte und wirkte im Exil" nicht "in Zürich", sondern war dort nur eine kurze Zeit. Habermas war kein Schüler Heideggers und schrieb auch keinen "Brief an seinen älteren Lehrer", sondern 1953 einen kritischen Artikel über ihn in dieser Zeitung. Er war zudem nie Leiter des Instituts für Sozialforschung und weder explizit noch implizit ein Revolutionär. Wie gesagt, ein seltsames Buch.
Stuart Jeffries: "Grand Hotel Abrund". Die Frankfurter Schule und ihre Zeit.
Aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 509 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit viel Phantasie: Stuart Jeffries hat ein unhistorisches Buch über die Geschichte der Frankfurter Schule geschrieben.
Von Jörg Später
Stuart Jeffries, Jornalist des "Guardian", hat neue und ungewohnte Perspektiven auf die Frankfurter Sozialphilosophie anzubieten. Damit ist nicht der Titel seines nun auf Deutsch vorliegenden Buchs gemeint, also das Bonmot vom Grand Hotel Abgrund, das von Georg Lukács stammt und dessen Missmut über die Praxisabstinenz bis -verweigerung von Horkheimer und Adorno ausdrückt, den der Autor teilt. Erfrischend ungewöhnlich ist, dass so manche Nebenfigur in der langen Geschichte des Instituts für Sozialforschung hier stärker als sonst üblich ausgeleuchtet wird: Erich Fromm etwa oder Henryk Grossmann, jener orthodoxe Marxist unter den Frankfurtern, der die gesellschaftlichen Miseren unverdrossen in der politischen Ökonomie suchte und nicht in der Kultur, womit Jeffries sympathisiert.
Voller Überraschungen sind auch die Einstiege in die Kapitel. Der Autor schaut gerne vom Rand aus auf die Granden der Frankfurter Sozialphilosophie. Walter Benjamins Erinnerungen an seine Berliner Kindheit von 1900 ist beispielsweise die Ouvertüre (und nicht etwa die Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923/24). Der Autor will eben das ganze Jahrhundert von den Pferdekutschen bis zur Online-Kulturindustrie erfassen, und warum auch nicht. Und er will zeigen, dass die Randfigur Benjamin der originelle Vordenker des Kreises um Horkheimer war (was nach Ansicht des Rezensenten allerdings nur auf Adorno zutrifft).
Nach Benjamin betritt dann Freud die Bühne des Stücks, um die Genealogie der Kritischen Theorie zu beleuchten. Dem Autor ist nämlich aufgefallen, dass das Frankfurter Milieu durchgängig von ödipalen Generationenkonflikten zwischen Vätern und Söhnen geprägt war. Erst nach Freud kommen dann die gesellschaftlichen Verhältnisse: Klassengesellschaft, Antisemitismus . . . - so entsteht hier die "Frankfurter Schule".
Das Buch ist aber auch merkwürdig: Der Autor verwechselt die "Frankfurter Schule" mit dem Institut für Sozialforschung. Doch es gab keine "Frankfurter Schule", bis die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren und später manche Schüler Adornos von einer Schule sprachen. Weder Carl Grünberg noch Axel Honneth waren je "Leiter der Frankfurter Schule". Jeffries Erzählung ist zutiefst unhistorisch. Sie konstruiert ein Subjekt, von dem keiner seiner "Mitglieder" wusste, dass es existiert. Ob und in welcher Hinsicht eine Gruppe von Sozialphilosophen, Soziologen, Sozialpsychologen, marxistischen Wirtschafts- und Kulturkritikern und so weiter existierte, die mehr oder weniger lose mit dem Institut verbunden waren, müsste gezeigt, statt bloß behauptet werden.
Jeffries aber hat andere Ziele: Er stellt die vermeintlichen Schlüsseltexte vor, manchmal referiert er präzise und treffend, manchmal ausschweifend und wirr. Daneben kommentiert er sie ohne Unterlass. Oft findet er etwas abstrus, bemerkt Widersprüche und beklagt sich über alte patriarchale weiße Männer, die Horkheimer, Adorno und Marcuse in den sechziger Jahren schließlich auch waren. Vor allem aber lässt Jeffries seine Leser wissen, was ihm alles so dazu einfällt, vorwiegend aus dem Bereich der Popkultur. Es ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn immer wieder mal gefragt wird, wie aktuell diese oder jene Zeitdiagnose noch ist, ob sie denn auch "stimmt", aber in dieser Häufigkeit ist das bei einem Phänomen mit historischem Wahrheitskern doch eher unangemessen.
Zudem ist das Buch voll von sprachlichen Übersprungshandlungen: Mönche der Moderne sitzen etwa im Café Marx, das irgendwann in Café Max umbenannt wird. Abenteurer wie der sowjetische Spion Richard Sorge bringen die biederen "Lehnstuhlphilosophen" in Verlegenheit, und Jeffries folgt den "Actionhelden" bereitwillig auf ihren Wegen. Der Autor walzt so manches Gerücht aus und sagt dann irgendwann, dass es so nicht war, versichert aber doch in einem dieser Fälle: "Beim Lesen dieser Passage fällt es schwer, nicht an die Szene in ,Annie Hall' zu denken, in der Alvy Singer, gespielt von Woody Allen, unklugerweise mit einer Reporterin vom Rolling Stone zu einem Konzert mit Bob Dylan geht." Man hat oft mit solchen Sätzen zu kämpfen.
Jeffries hat eine blühende Phantasie und produziert so manche Stilblüte. Seine Kapitelüberschriften sind so verwegen wie verrätselt: "Im Rachen des Krokodils" und "An die Wand Motherfuckers", so heißen doch noch nicht einmal B-Pictures. Auch die Übersetzung trägt zum gemischten Leseerlebnis bei. Dass es sich um eine Übertragung handelt, vergisst man leider zu keinem Zeitpunkt. Kurios etwa dies: Adornos Texte "bilden nicht, was man vielleicht eher erwartet hätte, die verzweifelt gutgelaunte Maske eines Mannes ab, der zusehen muss, wie sich hinter seinen Eltern der Abgrund öffnet." Gute Güte! Eine Übersetzung ist ein neu geschriebener Text, eine schwierige Angelegenheit, und es ist nicht einzusehen, warum man auf ein Lektorat verzichten sollte - das in diesem Fall zudem so manche der vielen krassen sachlichen Fehler des Originals hätte eliminieren können.
Hier nur ein paar wenige davon: Weder Benjamin noch Adorno waren 1925 mit dem Institut für Sozialforschung verbunden. Noch zum Zeitpunkt seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität 1931 war Adorno kein Mitarbeiter und Horkheimer folglich nicht sein "Vorgesetzter". Benjamins Kunstwerkaufsatz wurde zuerst nicht in Deutsch, sondern in Französisch veröffentlicht. Gershom Scholem war kein jüdischer Mystiker, sondern forschte über die jüdische Mystik. Ernst Bloch "lebte und wirkte im Exil" nicht "in Zürich", sondern war dort nur eine kurze Zeit. Habermas war kein Schüler Heideggers und schrieb auch keinen "Brief an seinen älteren Lehrer", sondern 1953 einen kritischen Artikel über ihn in dieser Zeitung. Er war zudem nie Leiter des Instituts für Sozialforschung und weder explizit noch implizit ein Revolutionär. Wie gesagt, ein seltsames Buch.
Stuart Jeffries: "Grand Hotel Abrund". Die Frankfurter Schule und ihre Zeit.
Aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 509 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Wie ein Conferencier führt Stuart Jeffries durch die Salons des Grand Hotel Abgrund [...] ihm gelingt das Panorama einer Gruppe von intellektuellen Außenseitern, deren Denken in einem abgründigen Jahrhundert eine staunenswerte Weltkarriere durchlief und bis heute Inspiration bietet, in Zeiten von globalem Kapitalismus und autoritärer Renaissance.« Alexander Cammann, Die Zeit, 21.11.2019 Alexander Cammann Die Zeit 20191121