Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Wie du schreibst, so es dich treibt: Ulrich Sonnemann entziffert das Geheimnis der Handschriften / Von Lorenz Jäger
Wer sich die Frage stellt, wie die unbestreitbare Höhe und Qualität der graphologischen und im weiteren Sinne physiognomischen Spekulationen zu erklären ist, die bis vor etwa vierzig Jahren weithin sichtbar waren, der wird zunächst an den großen Schub anthropologischer Erkenntnisse und Systeme der zwanziger Jahre denken, an die Entwürfe Helmuth Plessners und Max Schelers. Der menschliche Leib wurde in allen seinen expressiven Äußerungen zum Thema der Philosophie, und die Perspektiven dieser Wendung schienen unabsehbar weit zu führen. Sodann wird man an die damals florierende Konkurrenz psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Schulen denken, auch an die heute vergessene "Zeitschrift für Menschenkunde", die zum Treff- und Austauschpunkt der erwähnten Tendenzen bis an den Rand der Geheimlehren wurde. Schließlich öffnete die Gestaltpsychologie - auch sie eine Pionierleistung der zwanziger Jahre - die theoretische Berechtigung von Formwahrnehmungen als autonomen Akten, die sich nicht aus atomistisch gedachten Einzelheiten zusammensetzten. Soviel zu den allgemeinen Voraussetzungen des graphologischen Werks von Ulrich Sonnemann - denn daß der 1912 geborene Philosoph und Zeitkritiker von dort herkam, erweist noch seine in den sechziger Jahren erschienene "Negative Anthropologie"; eine späte, vom Säurebad der Kritischen Theorie geätzte Bestandsaufnahme des Goldenen Zeitalters der Anthropologie.
Dann aber gibt es spezifischere Voraussetzungen, die noch nicht wirklich erforscht sind. Der Anteil jüdischer Geister an der neu aufblühenden Traum-, Schrift-, Hand- und Sterndeutung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wäre wohl eine Monographie wert, aber sie ist, trotz aller Bemühungen um eine Geistesgeschichte der Juden in Deutschland, bislang ungeschrieben. Dabei ist die Rolle des Traumdeuters durch den Josef des Alten Testaments vorgeprägt, die des Schriftdeuters kann man in dem Propheten Daniel angelegt sehen, der, anders als die babylonischen Heiden-Magier, die "Schrift an der Wand" zu lesen verstand. Denkt man schließlich an das Buch von Stéphane Moses, das unter dem Titel "Spuren der Schrift" die großen jüdischen Intellektuellen von Benjamin bis Rosenzweig porträtierte, dann wird man kritisch nur einwenden können, daß Stéphane Moses seine eigene Überschrift nicht wörtlich genug genommen hat - und daß das Entziffern der Schrift in vielen Fällen in die Richtung einer Graphologie ging.
Eine Ehrentafel der jüdischen Schriftdeuter würde mit Walter Benjamin beginnen; bei ihm war das Interesse an der damals vielversprechenden Disziplin begründet in seinen ästhetischen Interessen, die ja stets auf dem schmalen Grat zwischen Bild und Schrift lagen. Zum zweiten Anja Mendelssohn (später Teillard), der man ein wunderschönes, knappes Graphologiebuch aus den zwanziger Jahren verdankt. Ihr Vater war ein bekannter Indologe, und sie verschrieb sich zunächst der Freudschen, dann der Jungschen Psychoanalyse, bevor sie im Ashram von Sri Aurobindo eine weitergehende Lehre fand, die sie in ihrem merkwürdigen Buch "Die unbekannte Dimension" darlegte. Weiter dann Rafael Schermann, ein Schriftdeuter ohne System, aber mit staunenswerten intuitiven Fähigkeiten - so konnte er, in einer Art von Revers-Graphologie, die Handschrift von solchen Menschen erraten und zu Papier bringen, die er nur einmal gesehen hatte -, jener Schermann, den Karl Kraus und Sergej Eisenstein konsultierten, wenn sie Näheres über sich selbst oder die Geliebten erfahren wollten; und der Münchner Max Aub, eher ein Physiognomiker, nach allen Zeugnissen ein Mann von großer Wärme und wirklichen, nicht nur frappanten Tiefblicken. Selbst der Kunsttheoretiker Rudolf Arnheim, der unlängst seinen hundertsten Geburtstag feierte, reüssierte zunächst mit einer wissenschaftlichen Arbeit über den Ausdrucksgehalt von Handschriften.
Geht man zur Deutung der Handlinien, stößt man auf Ursula von Mangoldt, die Nichte Walther Rathenaus, der man eines der maßgeblichen Bücher zur Chirognomik dankt, und auf Charlotte Wolff, die auf medizinischer Grundlage versuchte, das Handlesen zu verwissenschaftlichen. Auch hier kann man, wenn man Gershom Scholem folgt, eine jüdische Tradition annehmen; bedienten sich doch, wie seine Forschungen ergaben, die Meister der Kabbala dieser Kunst, wenn sie darüber zu entscheiden hatten, wen sie als Schüler aufnehmen wollten: Sie schauten auf Gesichts- und Handlinien.
Kurz: Wir brauchen eine Geschichte der jüdischen Seher und vor allem Seherinnen, die ihren Beziehungen zu den anderen geistigen Zentren der Zeit nachgehen würde, also zum George-Kreis, zu Ludwig Klages oder zur Psychoanalyse. Gerade diese letztere Disziplin hat sich zwar seit Jahren der Aufarbeitung ihrer Geschichte verschrieben, aber weil sie das in einem rationalistisch-fortschrittlichen Geist unternahm und ausschließlich nach politischen Verstrickungen fragte, blieb ein blinder Fleck - dabei reichte es für eine Korrektur dieser Selbstdeutung, sich einmal die frühen Jahrgänge der "Psyche" anzuschauen, um zu erkennen, welche Rolle Praktiken wie Graphologie und Astrologie noch im psychoanalytischen Diskurs der fünfziger Jahre spielten, als Anja Mendelssohn die Handschrift Freuds interpretierte - und "ein Dickicht" fand - oder Elsmarie Anrich dort die Grundlagen der Astrologie erläuterte.
Jedenfalls war das verpönte Deuten und Erraten der Menschen, ihrer Charaktere und Schicksale, aus Schriften und Händen und Sternen viel dichter in die akademischen Diskurse verwoben, als man sich heute einbildet. Eine heilsame Erschütterung der Gegenwarts-Gewißheiten kann deshalb auch das graphologische Werk von Ulrich Sonnemann geben, das zuerst unter dem Titel "Handwriting Analysis" in den Vereinigten Staaten erschien, wo der emigrierte Verfasser an der "New School of Social Research" in New York lehrte und mit Studenten der Psychologie die gängigen Diagnosesysteme durchging. Über diesen Hintergrund der Lehre und über Sonnemanns exzeptionelle graphologische Begabung informiert das Geleitwort von Miriam Ehrenberg, einer damaligen Studentin, die von Sonnemanns "nachgerade magischen Kräften als Graphologe" berichtet, die über die methodische Lehre offenbar nicht weiterzugeben waren.
Bei Sonnemann möchte man von einer graphologischen Ideal-Sozialisation sprechen. Sein Vater entstammte der Sonnemann-Dynastie der "Frankfurter Zeitung" und leitete deren Berliner Geschäftsstelle, seine Mutter war eine Schülerin des Malers Lovis Corinth. So bestimmte das Verhältnis von Bild und Schrift schon den geistigen Äther des Elternhauses - ähnlich wie bei Walter Benjamin, dessen Vater Kunstauktionator war und eine bedeutende Autographensammlung sein eigen nannte.
Weil es keine graphologische Methode gibt, die nicht von Ludwig Klages geprägt wäre, sei es in der Nachahmung, sei es im Widerspruch, wird man auch bei Sonnemann zunächst fragen: Wie hältst du's mit dem Meister? Hier ist es nun vor allem der Begriff des Formniveaus, das aller Deutung von Einzelzügen voranzugehen hat, mit dem auch Sonnemann an Klages anschließt. "Formniveau" ist der Inbegriff des ästhetischen Gesamteindrucks, der darüber entscheidet, ob eine bestimmte Eigenschaft der Schrift - etwa Bindungsart, Größe oder Regelmäßigkeit - eher als Vorteil oder als Nachteil zu bewerten ist. Diese Kategorie gehört zur bleibenden Erbschaft von Klages, mit der er sich vom mechanischen Befolgen dieser oder jener Deutungsregel absetzte.
Adorno übernahm den Begriff für das Lesen von Musikpartituren, bei dem sich gleichsam in Sekundenbruchteilen ein Eindruck vom Gesamtniveau einer Komposition herstelle. Nun enthält der vorliegende Band auch eine grundsätzliche Kritik Sonnemanns an Klages' Lehre vom "Geist" als Widersacher der "Seele". Unter dem Titel "Über den Widerspruch im Irrationalismus" wendet Sonnemann ein, daß man, "den heimlichen Reichtum der Seele bewundernd, das Mysterium ihres Wirkens nicht ungestraft verletzen, seine Anonymität nicht preisgeben darf, daß nur ihre - unbewußte! - Affizierung an Bewußtseinsinhalte, realen oder idealen Ursprungs, sie des Zaubers großer Form befähigt, nur der hemmende, herrschende, Aufgaben setzende Widerstand des Geistes ihre Dynamik zu entfesseln und in gültigen Ausdruck zu binden imstande ist".
Gemeint ist das, was später bei Sonnemann "politische Praxis" heißt, und nicht zufällig mündete, in der "Negativen Anthropologie", eine klinische Studie über einen Patienten seiner therapeutischen Praxis in den fünfziger Jahren dann in eine Heilungsperspektive, die darin bestand, daß der Patient sein Engagement in einer trotzkistischen Gruppe wiederaufnahm.
Dennoch: Sonnemann ist, bei aller grundsätzlichen Kritik an Klages, von diesem in hohem Maß abhängig. Man wird die Nachfolge dem Buch nicht ankreiden, ging es doch in den fünfziger Jahren darum, in den Vereinigten Staaten zunächst einmal den Stand des graphologischen Gedankens zu vermitteln, der in Europa schon lange erreicht worden war. So kommt es auch, daß manche Schriftproben - etwa die von Oscar Wilde - direkt aus dem grundlegenden Werk von Klages, "Handschrift und Charakter", in das Buch von Sonnemann kopiert wurden. Auch die Wertschätzung der Handschrift Beethovens - die, bei hohem Formniveau, abenteuerlich unregelmäßig ist und sich daher am besten eignet, Vorurteile eines künftigen Graphologen zu zerstreuen - findet sich bei Klages ebenso wie bei Sonnemann.
Überraschend ähnlich ist schließlich der Ausgangspunkt der Analyse, wenn auch in entscheidenden Nuancen anders begriffen. Denn wie Klages, nur im Naturwissenschaftlichen deutlicher formuliert, beginnt Sonnemann mit den Muskelspannungen der schreibenden Hand, die als Symbol der Raumergreifung und -besetzung des handelnden Subjekts genommen werden. Die erste Unterscheidung ist die des Schwankungsgrades, es gibt "regelmäßige" und "entspannte" Schriften. Klages hatte an dieser Stelle den Begriff des "Rhythmus" eingeführt und ihn vom mechanisch-metronomischen "Takt" unterschieden. Bei Sonnemann meint man an dieser Stelle schon die spätere, für die Studentenbewegung bedeutsame Lehre seiner "Negativen Anthropologie" von "Institutionalismus" und "Spontaneität" angelegt zu sehen. Gegen Klages wendet er - wieder im Sinne seiner Grundsatzkritik - ein, daß auch regelmäßige Handschriften "zufriedenstellend rhythmisiert" sein können, daß also die absolute lebensphilosophische Entgegensetzung von Takt und Rhythmus an ihre Grenzen stoße. Ansonsten zeigt der Vergleich mit Klages an vielen Stellen Parallelen, etwa bei der Deutung von Ober- und Unterlängen, wo Klages zwischen "Leichtigkeit" und "Schwere" des Geistes unterscheidet, Sonnemann zwischen "platonischem" und "chthonischem" Charakter. Für den praktischen Studenten der Graphologie ist ein Nachteil dieser Abhandlung zu erwähnen: Sie enthält, da sie zunächst in den Vereinigten Staaten wirken sollte, als Muster fast ausschließlich amerikanische Handschriften, die ganz anderen ästhetischen Normen folgen als etwa französische oder deutsche.
Ulrich Sonnemann: "Graphologie". Schriften, Band 1. Hrsg. von Paul Fiebig. Mit einem Geleitwort von Miriam Ehrenberg. Handschrift als Spiegel. Irrationalismus im Widerstreit. Aus dem Englischen übersetzt von Claus-Volker Klenke. Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 447 S., zahlr. Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH"