'Graphologie hatte mich bereits als Kind interessiert, und Joseph Roth, der in meinem Elternhaus verkehrte und ebenfalls graphologisch interessiert und tätig war, hat mich darin bestärkt, sodaß es sehr früh zu einer Vertiefung in die Physiognomik expressiver Bewegung kam. In Amerika, bei der Armee, bestand meine Tätigkeit als klinischer Psychologe im wesentlichen darin, ›projektive Techniken‹ anzuwenden; und die Graphologie, von der gar nicht bekannt war, daß sie etwas Seriöses haben könne, wo sie sich auf eine Theorie der Ausdrucksbewegung gründet, die führte ich da ein. Von daher kam es, nach dem Krieg, zu meinem Graphologie-Buch, das zwanzig Jahre lang mit immer erneuten Auflagen auf dem Markt blieb, und zu den Vorlesungen, die ich auf Veranlassung befreundeter Psychoanalytiker über den gleichen Gegenstand am New Yorker City College hielt. Später nur ergab sich ein steigender Widerwille gegen die Vermarktung der Sache, vor allem nach den Regeln der ›industrial psychology‹ in Amerika und der marktwirtschaftlichen hier. Mein Interesse aber – ob an Graphologie oder Astrologie, an UFOs oder Atlantis – gilt dem, was an ungelösten Problemen, an erkenntnistheoretisch potentiell sehr produktiven Beziehungen dahintersteckt.'
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Seelendeutung im Takt des Krakelns
Wie du schreibst, so es dich treibt: Ulrich Sonnemann entziffert das Geheimnis der Handschriften / Von Lorenz Jäger
Wer sich die Frage stellt, wie die unbestreitbare Höhe und Qualität der graphologischen und im weiteren Sinne physiognomischen Spekulationen zu erklären ist, die bis vor etwa vierzig Jahren weithin sichtbar waren, der wird zunächst an den großen Schub anthropologischer Erkenntnisse und Systeme der zwanziger Jahre denken, an die Entwürfe Helmuth Plessners und Max Schelers. Der menschliche Leib wurde in allen seinen expressiven Äußerungen zum Thema der Philosophie, und die Perspektiven dieser Wendung schienen unabsehbar weit zu führen. Sodann wird man an die damals florierende Konkurrenz psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Schulen denken, auch an die heute vergessene "Zeitschrift für Menschenkunde", die zum Treff- und Austauschpunkt der erwähnten Tendenzen bis an den Rand der Geheimlehren wurde. Schließlich öffnete die Gestaltpsychologie - auch sie eine Pionierleistung der zwanziger Jahre - die theoretische Berechtigung von Formwahrnehmungen als autonomen Akten, die sich nicht aus atomistisch gedachten Einzelheiten zusammensetzten. Soviel zu den allgemeinen Voraussetzungen des graphologischen Werks von Ulrich Sonnemann - denn daß der 1912 geborene Philosoph und Zeitkritiker von dort herkam, erweist noch seine in den sechziger Jahren erschienene "Negative Anthropologie"; eine späte, vom Säurebad der Kritischen Theorie geätzte Bestandsaufnahme des Goldenen Zeitalters der Anthropologie.
Dann aber gibt es spezifischere Voraussetzungen, die noch nicht wirklich erforscht sind. Der Anteil jüdischer Geister an der neu aufblühenden Traum-, Schrift-, Hand- und Sterndeutung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wäre wohl eine Monographie wert, aber sie ist, trotz aller Bemühungen um eine Geistesgeschichte der Juden in Deutschland, bislang ungeschrieben. Dabei ist die Rolle des Traumdeuters durch den Josef des Alten Testaments vorgeprägt, die des Schriftdeuters kann man in dem Propheten Daniel angelegt sehen, der, anders als die babylonischen Heiden-Magier, die "Schrift an der Wand" zu lesen verstand. Denkt man schließlich an das Buch von Stéphane Moses, das unter dem Titel "Spuren der Schrift" die großen jüdischen Intellektuellen von Benjamin bis Rosenzweig porträtierte, dann wird man kritisch nur einwenden können, daß Stéphane Moses seine eigene Überschrift nicht wörtlich genug genommen hat - und daß das Entziffern der Schrift in vielen Fällen in die Richtung einer Graphologie ging.
Eine Ehrentafel der jüdischen Schriftdeuter würde mit Walter Benjamin beginnen; bei ihm war das Interesse an der damals vielversprechenden Disziplin begründet in seinen ästhetischen Interessen, die ja stets auf dem schmalen Grat zwischen Bild und Schrift lagen. Zum zweiten Anja Mendelssohn (später Teillard), der man ein wunderschönes, knappes Graphologiebuch aus den zwanziger Jahren verdankt. Ihr Vater war ein bekannter Indologe, und sie verschrieb sich zunächst der Freudschen, dann der Jungschen Psychoanalyse, bevor sie im Ashram von Sri Aurobindo eine weitergehende Lehre fand, die sie in ihrem merkwürdigen Buch "Die unbekannte Dimension" darlegte. Weiter dann Rafael Schermann, ein Schriftdeuter ohne System, aber mit staunenswerten intuitiven Fähigkeiten - so konnte er, in einer Art von Revers-Graphologie, die Handschrift von solchen Menschen erraten und zu Papier bringen, die er nur einmal gesehen hatte -, jener Schermann, den Karl Kraus und Sergej Eisenstein konsultierten, wenn sie Näheres über sich selbst oder die Geliebten erfahren wollten; und der Münchner Max Aub, eher ein Physiognomiker, nach allen Zeugnissen ein Mann von großer Wärme und wirklichen, nicht nur frappanten Tiefblicken. Selbst der Kunsttheoretiker Rudolf Arnheim, der unlängst seinen hundertsten Geburtstag feierte, reüssierte zunächst mit einer wissenschaftlichen Arbeit über den Ausdrucksgehalt von Handschriften.
Geht man zur Deutung der Handlinien, stößt man auf Ursula von Mangoldt, die Nichte Walther Rathenaus, der man eines der maßgeblichen Bücher zur Chirognomik dankt, und auf Charlotte Wolff, die auf medizinischer Grundlage versuchte, das Handlesen zu verwissenschaftlichen. Auch hier kann man, wenn man Gershom Scholem folgt, eine jüdische Tradition annehmen; bedienten sich doch, wie seine Forschungen ergaben, die Meister der Kabbala dieser Kunst, wenn sie darüber zu entscheiden hatten, wen sie als Schüler aufnehmen wollten: Sie schauten auf Gesichts- und Handlinien.
Kurz: Wir brauchen eine Geschichte der jüdischen Seher und vor allem Seherinnen, die ihren Beziehungen zu den anderen geistigen Zentren der Zeit nachgehen würde, also zum George-Kreis, zu Ludwig Klages oder zur Psychoanalyse. Gerade diese letztere Disziplin hat sich zwar seit Jahren der Aufarbeitung ihrer Geschichte verschrieben, aber weil sie das in einem rationalistisch-fortschrittlichen Geist unternahm und ausschließlich nach politischen Verstrickungen fragte, blieb ein blinder Fleck - dabei reichte es für eine Korrektur dieser Selbstdeutung, sich einmal die frühen Jahrgänge der "Psyche" anzuschauen, um zu erkennen, welche Rolle Praktiken wie Graphologie und Astrologie noch im psychoanalytischen Diskurs der fünfziger Jahre spielten, als Anja Mendelssohn die Handschrift Freuds interpretierte - und "ein Dickicht" fand - oder Elsmarie Anrich dort die Grundlagen der Astrologie erläuterte.
Jedenfalls war das verpönte Deuten und Erraten der Menschen, ihrer Charaktere und Schicksale, aus Schriften und Händen und Sternen viel dichter in die akademischen Diskurse verwoben, als man sich heute einbildet. Eine heilsame Erschütterung der Gegenwarts-Gewißheiten kann deshalb auch das graphologische Werk von Ulrich Sonnemann geben, das zuerst unter dem Titel "Handwriting Analysis" in den Vereinigten Staaten erschien, wo der emigrierte Verfasser an der "New School of Social Research" in New York lehrte und mit Studenten der Psychologie die gängigen Diagnosesysteme durchging. Über diesen Hintergrund der Lehre und über Sonnemanns exzeptionelle graphologische Begabung informiert das Geleitwort von Miriam Ehrenberg, einer damaligen Studentin, die von Sonnemanns "nachgerade magischen Kräften als Graphologe" berichtet, die über die methodische Lehre offenbar nicht weiterzugeben waren.
Bei Sonnemann möchte man von einer graphologischen Ideal-Sozialisation sprechen. Sein Vater entstammte der Sonnemann-Dynastie der "Frankfurter Zeitung" und leitete deren Berliner Geschäftsstelle, seine Mutter war eine Schülerin des Malers Lovis Corinth. So bestimmte das Verhältnis von Bild und Schrift schon den geistigen Äther des Elternhauses - ähnlich wie bei Walter Benjamin, dessen Vater Kunstauktionator war und eine bedeutende Autographensammlung sein eigen nannte.
Weil es keine graphologische Methode gibt, die nicht von Ludwig Klages geprägt wäre, sei es in der Nachahmung, sei es im Widerspruch, wird man auch bei Sonnemann zunächst fragen: Wie hältst du's mit dem Meister? Hier ist es nun vor allem der Begriff des Formniveaus, das aller Deutung von Einzelzügen voranzugehen hat, mit dem auch Sonnemann an Klages anschließt. "Formniveau" ist der Inbegriff des ästhetischen Gesamteindrucks, der darüber entscheidet, ob eine bestimmte Eigenschaft der Schrift - etwa Bindungsart, Größe oder Regelmäßigkeit - eher als Vorteil oder als Nachteil zu bewerten ist. Diese Kategorie gehört zur bleibenden Erbschaft von Klages, mit der er sich vom mechanischen Befolgen dieser oder jener Deutungsregel absetzte.
Adorno übernahm den Begriff für das Lesen von Musikpartituren, bei dem sich gleichsam in Sekundenbruchteilen ein Eindruck vom Gesamtniveau einer Komposition herstelle. Nun enthält der vorliegende Band auch eine grundsätzliche Kritik Sonnemanns an Klages' Lehre vom "Geist" als Widersacher der "Seele". Unter dem Titel "Über den Widerspruch im Irrationalismus" wendet Sonnemann ein, daß man, "den heimlichen Reichtum der Seele bewundernd, das Mysterium ihres Wirkens nicht ungestraft verletzen, seine Anonymität nicht preisgeben darf, daß nur ihre - unbewußte! - Affizierung an Bewußtseinsinhalte, realen oder idealen Ursprungs, sie des Zaubers großer Form befähigt, nur der hemmende, herrschende, Aufgaben setzende Widerstand des Geistes ihre Dynamik zu entfesseln und in gültigen Ausdruck zu binden imstande ist".
Gemeint ist das, was später bei Sonnemann "politische Praxis" heißt, und nicht zufällig mündete, in der "Negativen Anthropologie", eine klinische Studie über einen Patienten seiner therapeutischen Praxis in den fünfziger Jahren dann in eine Heilungsperspektive, die darin bestand, daß der Patient sein Engagement in einer trotzkistischen Gruppe wiederaufnahm.
Dennoch: Sonnemann ist, bei aller grundsätzlichen Kritik an Klages, von diesem in hohem Maß abhängig. Man wird die Nachfolge dem Buch nicht ankreiden, ging es doch in den fünfziger Jahren darum, in den Vereinigten Staaten zunächst einmal den Stand des graphologischen Gedankens zu vermitteln, der in Europa schon lange erreicht worden war. So kommt es auch, daß manche Schriftproben - etwa die von Oscar Wilde - direkt aus dem grundlegenden Werk von Klages, "Handschrift und Charakter", in das Buch von Sonnemann kopiert wurden. Auch die Wertschätzung der Handschrift Beethovens - die, bei hohem Formniveau, abenteuerlich unregelmäßig ist und sich daher am besten eignet, Vorurteile eines künftigen Graphologen zu zerstreuen - findet sich bei Klages ebenso wie bei Sonnemann.
Überraschend ähnlich ist schließlich der Ausgangspunkt der Analyse, wenn auch in entscheidenden Nuancen anders begriffen. Denn wie Klages, nur im Naturwissenschaftlichen deutlicher formuliert, beginnt Sonnemann mit den Muskelspannungen der schreibenden Hand, die als Symbol der Raumergreifung und -besetzung des handelnden Subjekts genommen werden. Die erste Unterscheidung ist die des Schwankungsgrades, es gibt "regelmäßige" und "entspannte" Schriften. Klages hatte an dieser Stelle den Begriff des "Rhythmus" eingeführt und ihn vom mechanisch-metronomischen "Takt" unterschieden. Bei Sonnemann meint man an dieser Stelle schon die spätere, für die Studentenbewegung bedeutsame Lehre seiner "Negativen Anthropologie" von "Institutionalismus" und "Spontaneität" angelegt zu sehen. Gegen Klages wendet er - wieder im Sinne seiner Grundsatzkritik - ein, daß auch regelmäßige Handschriften "zufriedenstellend rhythmisiert" sein können, daß also die absolute lebensphilosophische Entgegensetzung von Takt und Rhythmus an ihre Grenzen stoße. Ansonsten zeigt der Vergleich mit Klages an vielen Stellen Parallelen, etwa bei der Deutung von Ober- und Unterlängen, wo Klages zwischen "Leichtigkeit" und "Schwere" des Geistes unterscheidet, Sonnemann zwischen "platonischem" und "chthonischem" Charakter. Für den praktischen Studenten der Graphologie ist ein Nachteil dieser Abhandlung zu erwähnen: Sie enthält, da sie zunächst in den Vereinigten Staaten wirken sollte, als Muster fast ausschließlich amerikanische Handschriften, die ganz anderen ästhetischen Normen folgen als etwa französische oder deutsche.
Ulrich Sonnemann: "Graphologie". Schriften, Band 1. Hrsg. von Paul Fiebig. Mit einem Geleitwort von Miriam Ehrenberg. Handschrift als Spiegel. Irrationalismus im Widerstreit. Aus dem Englischen übersetzt von Claus-Volker Klenke. Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 447 S., zahlr. Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie du schreibst, so es dich treibt: Ulrich Sonnemann entziffert das Geheimnis der Handschriften / Von Lorenz Jäger
Wer sich die Frage stellt, wie die unbestreitbare Höhe und Qualität der graphologischen und im weiteren Sinne physiognomischen Spekulationen zu erklären ist, die bis vor etwa vierzig Jahren weithin sichtbar waren, der wird zunächst an den großen Schub anthropologischer Erkenntnisse und Systeme der zwanziger Jahre denken, an die Entwürfe Helmuth Plessners und Max Schelers. Der menschliche Leib wurde in allen seinen expressiven Äußerungen zum Thema der Philosophie, und die Perspektiven dieser Wendung schienen unabsehbar weit zu führen. Sodann wird man an die damals florierende Konkurrenz psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Schulen denken, auch an die heute vergessene "Zeitschrift für Menschenkunde", die zum Treff- und Austauschpunkt der erwähnten Tendenzen bis an den Rand der Geheimlehren wurde. Schließlich öffnete die Gestaltpsychologie - auch sie eine Pionierleistung der zwanziger Jahre - die theoretische Berechtigung von Formwahrnehmungen als autonomen Akten, die sich nicht aus atomistisch gedachten Einzelheiten zusammensetzten. Soviel zu den allgemeinen Voraussetzungen des graphologischen Werks von Ulrich Sonnemann - denn daß der 1912 geborene Philosoph und Zeitkritiker von dort herkam, erweist noch seine in den sechziger Jahren erschienene "Negative Anthropologie"; eine späte, vom Säurebad der Kritischen Theorie geätzte Bestandsaufnahme des Goldenen Zeitalters der Anthropologie.
Dann aber gibt es spezifischere Voraussetzungen, die noch nicht wirklich erforscht sind. Der Anteil jüdischer Geister an der neu aufblühenden Traum-, Schrift-, Hand- und Sterndeutung der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wäre wohl eine Monographie wert, aber sie ist, trotz aller Bemühungen um eine Geistesgeschichte der Juden in Deutschland, bislang ungeschrieben. Dabei ist die Rolle des Traumdeuters durch den Josef des Alten Testaments vorgeprägt, die des Schriftdeuters kann man in dem Propheten Daniel angelegt sehen, der, anders als die babylonischen Heiden-Magier, die "Schrift an der Wand" zu lesen verstand. Denkt man schließlich an das Buch von Stéphane Moses, das unter dem Titel "Spuren der Schrift" die großen jüdischen Intellektuellen von Benjamin bis Rosenzweig porträtierte, dann wird man kritisch nur einwenden können, daß Stéphane Moses seine eigene Überschrift nicht wörtlich genug genommen hat - und daß das Entziffern der Schrift in vielen Fällen in die Richtung einer Graphologie ging.
Eine Ehrentafel der jüdischen Schriftdeuter würde mit Walter Benjamin beginnen; bei ihm war das Interesse an der damals vielversprechenden Disziplin begründet in seinen ästhetischen Interessen, die ja stets auf dem schmalen Grat zwischen Bild und Schrift lagen. Zum zweiten Anja Mendelssohn (später Teillard), der man ein wunderschönes, knappes Graphologiebuch aus den zwanziger Jahren verdankt. Ihr Vater war ein bekannter Indologe, und sie verschrieb sich zunächst der Freudschen, dann der Jungschen Psychoanalyse, bevor sie im Ashram von Sri Aurobindo eine weitergehende Lehre fand, die sie in ihrem merkwürdigen Buch "Die unbekannte Dimension" darlegte. Weiter dann Rafael Schermann, ein Schriftdeuter ohne System, aber mit staunenswerten intuitiven Fähigkeiten - so konnte er, in einer Art von Revers-Graphologie, die Handschrift von solchen Menschen erraten und zu Papier bringen, die er nur einmal gesehen hatte -, jener Schermann, den Karl Kraus und Sergej Eisenstein konsultierten, wenn sie Näheres über sich selbst oder die Geliebten erfahren wollten; und der Münchner Max Aub, eher ein Physiognomiker, nach allen Zeugnissen ein Mann von großer Wärme und wirklichen, nicht nur frappanten Tiefblicken. Selbst der Kunsttheoretiker Rudolf Arnheim, der unlängst seinen hundertsten Geburtstag feierte, reüssierte zunächst mit einer wissenschaftlichen Arbeit über den Ausdrucksgehalt von Handschriften.
Geht man zur Deutung der Handlinien, stößt man auf Ursula von Mangoldt, die Nichte Walther Rathenaus, der man eines der maßgeblichen Bücher zur Chirognomik dankt, und auf Charlotte Wolff, die auf medizinischer Grundlage versuchte, das Handlesen zu verwissenschaftlichen. Auch hier kann man, wenn man Gershom Scholem folgt, eine jüdische Tradition annehmen; bedienten sich doch, wie seine Forschungen ergaben, die Meister der Kabbala dieser Kunst, wenn sie darüber zu entscheiden hatten, wen sie als Schüler aufnehmen wollten: Sie schauten auf Gesichts- und Handlinien.
Kurz: Wir brauchen eine Geschichte der jüdischen Seher und vor allem Seherinnen, die ihren Beziehungen zu den anderen geistigen Zentren der Zeit nachgehen würde, also zum George-Kreis, zu Ludwig Klages oder zur Psychoanalyse. Gerade diese letztere Disziplin hat sich zwar seit Jahren der Aufarbeitung ihrer Geschichte verschrieben, aber weil sie das in einem rationalistisch-fortschrittlichen Geist unternahm und ausschließlich nach politischen Verstrickungen fragte, blieb ein blinder Fleck - dabei reichte es für eine Korrektur dieser Selbstdeutung, sich einmal die frühen Jahrgänge der "Psyche" anzuschauen, um zu erkennen, welche Rolle Praktiken wie Graphologie und Astrologie noch im psychoanalytischen Diskurs der fünfziger Jahre spielten, als Anja Mendelssohn die Handschrift Freuds interpretierte - und "ein Dickicht" fand - oder Elsmarie Anrich dort die Grundlagen der Astrologie erläuterte.
Jedenfalls war das verpönte Deuten und Erraten der Menschen, ihrer Charaktere und Schicksale, aus Schriften und Händen und Sternen viel dichter in die akademischen Diskurse verwoben, als man sich heute einbildet. Eine heilsame Erschütterung der Gegenwarts-Gewißheiten kann deshalb auch das graphologische Werk von Ulrich Sonnemann geben, das zuerst unter dem Titel "Handwriting Analysis" in den Vereinigten Staaten erschien, wo der emigrierte Verfasser an der "New School of Social Research" in New York lehrte und mit Studenten der Psychologie die gängigen Diagnosesysteme durchging. Über diesen Hintergrund der Lehre und über Sonnemanns exzeptionelle graphologische Begabung informiert das Geleitwort von Miriam Ehrenberg, einer damaligen Studentin, die von Sonnemanns "nachgerade magischen Kräften als Graphologe" berichtet, die über die methodische Lehre offenbar nicht weiterzugeben waren.
Bei Sonnemann möchte man von einer graphologischen Ideal-Sozialisation sprechen. Sein Vater entstammte der Sonnemann-Dynastie der "Frankfurter Zeitung" und leitete deren Berliner Geschäftsstelle, seine Mutter war eine Schülerin des Malers Lovis Corinth. So bestimmte das Verhältnis von Bild und Schrift schon den geistigen Äther des Elternhauses - ähnlich wie bei Walter Benjamin, dessen Vater Kunstauktionator war und eine bedeutende Autographensammlung sein eigen nannte.
Weil es keine graphologische Methode gibt, die nicht von Ludwig Klages geprägt wäre, sei es in der Nachahmung, sei es im Widerspruch, wird man auch bei Sonnemann zunächst fragen: Wie hältst du's mit dem Meister? Hier ist es nun vor allem der Begriff des Formniveaus, das aller Deutung von Einzelzügen voranzugehen hat, mit dem auch Sonnemann an Klages anschließt. "Formniveau" ist der Inbegriff des ästhetischen Gesamteindrucks, der darüber entscheidet, ob eine bestimmte Eigenschaft der Schrift - etwa Bindungsart, Größe oder Regelmäßigkeit - eher als Vorteil oder als Nachteil zu bewerten ist. Diese Kategorie gehört zur bleibenden Erbschaft von Klages, mit der er sich vom mechanischen Befolgen dieser oder jener Deutungsregel absetzte.
Adorno übernahm den Begriff für das Lesen von Musikpartituren, bei dem sich gleichsam in Sekundenbruchteilen ein Eindruck vom Gesamtniveau einer Komposition herstelle. Nun enthält der vorliegende Band auch eine grundsätzliche Kritik Sonnemanns an Klages' Lehre vom "Geist" als Widersacher der "Seele". Unter dem Titel "Über den Widerspruch im Irrationalismus" wendet Sonnemann ein, daß man, "den heimlichen Reichtum der Seele bewundernd, das Mysterium ihres Wirkens nicht ungestraft verletzen, seine Anonymität nicht preisgeben darf, daß nur ihre - unbewußte! - Affizierung an Bewußtseinsinhalte, realen oder idealen Ursprungs, sie des Zaubers großer Form befähigt, nur der hemmende, herrschende, Aufgaben setzende Widerstand des Geistes ihre Dynamik zu entfesseln und in gültigen Ausdruck zu binden imstande ist".
Gemeint ist das, was später bei Sonnemann "politische Praxis" heißt, und nicht zufällig mündete, in der "Negativen Anthropologie", eine klinische Studie über einen Patienten seiner therapeutischen Praxis in den fünfziger Jahren dann in eine Heilungsperspektive, die darin bestand, daß der Patient sein Engagement in einer trotzkistischen Gruppe wiederaufnahm.
Dennoch: Sonnemann ist, bei aller grundsätzlichen Kritik an Klages, von diesem in hohem Maß abhängig. Man wird die Nachfolge dem Buch nicht ankreiden, ging es doch in den fünfziger Jahren darum, in den Vereinigten Staaten zunächst einmal den Stand des graphologischen Gedankens zu vermitteln, der in Europa schon lange erreicht worden war. So kommt es auch, daß manche Schriftproben - etwa die von Oscar Wilde - direkt aus dem grundlegenden Werk von Klages, "Handschrift und Charakter", in das Buch von Sonnemann kopiert wurden. Auch die Wertschätzung der Handschrift Beethovens - die, bei hohem Formniveau, abenteuerlich unregelmäßig ist und sich daher am besten eignet, Vorurteile eines künftigen Graphologen zu zerstreuen - findet sich bei Klages ebenso wie bei Sonnemann.
Überraschend ähnlich ist schließlich der Ausgangspunkt der Analyse, wenn auch in entscheidenden Nuancen anders begriffen. Denn wie Klages, nur im Naturwissenschaftlichen deutlicher formuliert, beginnt Sonnemann mit den Muskelspannungen der schreibenden Hand, die als Symbol der Raumergreifung und -besetzung des handelnden Subjekts genommen werden. Die erste Unterscheidung ist die des Schwankungsgrades, es gibt "regelmäßige" und "entspannte" Schriften. Klages hatte an dieser Stelle den Begriff des "Rhythmus" eingeführt und ihn vom mechanisch-metronomischen "Takt" unterschieden. Bei Sonnemann meint man an dieser Stelle schon die spätere, für die Studentenbewegung bedeutsame Lehre seiner "Negativen Anthropologie" von "Institutionalismus" und "Spontaneität" angelegt zu sehen. Gegen Klages wendet er - wieder im Sinne seiner Grundsatzkritik - ein, daß auch regelmäßige Handschriften "zufriedenstellend rhythmisiert" sein können, daß also die absolute lebensphilosophische Entgegensetzung von Takt und Rhythmus an ihre Grenzen stoße. Ansonsten zeigt der Vergleich mit Klages an vielen Stellen Parallelen, etwa bei der Deutung von Ober- und Unterlängen, wo Klages zwischen "Leichtigkeit" und "Schwere" des Geistes unterscheidet, Sonnemann zwischen "platonischem" und "chthonischem" Charakter. Für den praktischen Studenten der Graphologie ist ein Nachteil dieser Abhandlung zu erwähnen: Sie enthält, da sie zunächst in den Vereinigten Staaten wirken sollte, als Muster fast ausschließlich amerikanische Handschriften, die ganz anderen ästhetischen Normen folgen als etwa französische oder deutsche.
Ulrich Sonnemann: "Graphologie". Schriften, Band 1. Hrsg. von Paul Fiebig. Mit einem Geleitwort von Miriam Ehrenberg. Handschrift als Spiegel. Irrationalismus im Widerstreit. Aus dem Englischen übersetzt von Claus-Volker Klenke. Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 447 S., zahlr. Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2005Milchglas ist keine Lösung
Ulrich Sonnemann, fortan in neuer Werkausgabe zu lesen, deutete die Handschrift des Gemeinwesens. Für den Durchblick in einem dumpfen Land hielt er es für nötig, auch die Außerirdischen einzuladen
Versunkener, scheint es, könnte die Welt gar nicht sein, die hier wieder aufgetan werden soll. Sie hat dies gemein mit dem sagenhaften Atlantis, dessen vorurteilsfreie Erforschung der immer Einzeldenker gebliebene Ulrich Sonnemann anmahnte; liege doch wohl dort auf dem Meeresgrund, schrieb er 1988, mit 76 Jahren, „ein verdrängtes Trauma der Menschheit, die die vermutete Katastrophe wirklich erfahren hat, aber nicht verarbeiten konnte”. Mindestens so weit zurück wie jener prähistorische Untergang liegt uns Heutigen die Aufrüttelungsbotschaft, die seit 1963 an ein „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten” ausging von diesem Philosophen, Psychologen, Essayisten, für den es damals in Deutschland „gerade das Innerste ist, das zur Revolution jetzt aufgerufen wird”.
Wie sehr uraltbundesrepublikanisch klingt diese Klage, vorerst noch nur im vergilbten Rowohlt-Bändchen zu lesen, über das „Schlucken und Sich-Ducken” in einem Land „mit starrem Geplapper von der Freiheit, die in ihm instituiert ist, die seine Menschen aber nicht haben” - einem Land, das Sonnemann, ein Jahr später zur „Einübung des Ungehorsams” sich warmschreibend, durch „seelische Mobilisierung der Menschen” von seinem „geistigen und politischen Spontaneitätsmangel ohnegleichen” zu befreien anging.
Auch die vermischten Schriften, die Herausgeber Paul Fiebig unter der Überschrift „Das Irrationale” im hinteren Teil des ersten Bandes einer neuen, auf zehn Bände angelegten Werkausgabe zusammengeführt hat - auch diese Schriften sind, hört man ihre Stichworte, nicht dazu angetan, von zeitloser Zeitgenossenschaft und damit neuerlicher Editionswürdigkeit Ulrich Sonnemanns zu künden. Kämpft er doch in diesen Texten gegen eine „statusängstliche, scheuklappenbewehrte Wissenschaftsgläubigkeit” und bringt dafür einschlägig berüchtigte Beispiele wie: Hackethal, Ufos, Astrologie und eben Atlantis.
Da geht es mit beträchtlicher theoretischer Energie gegen einen immer noch durchdringenden kartesischen Rationalismus, der sich im Falle des fragwürdigen Krebs-Therapeuten Julius Hackethal an der „lynchartigen Abschlachtung einer abweichenden Lehrmeinung” zeige. Gegen die Belächelung der Berichte über Ufos, „obwohl die Zahl der gemeldeten Auftritte ständig steigt”, weswegen ein Ufo-Kongress an der Gesamthochschule Kassel zu empfehlen sei „unter ausdrücklicher Einladung nicht nur der Behörden, auch der Extraterrestrischen selber”. Gegen die „Berührungsscheu” vor dem Thema Astrologie. Gegen die Abwehr der Historizität von Atlantis, dessen Zerstörung „einen kollektiven Wiederholungszwang” zur Folge gehabt haben könnte, eine Erklärung der „gegenwärtigen Anfälligkeit für die Apokalypse”. Und insgesamt dagegen, „dass man ganze Themata tabuiert”. Kurzum: Ein Spinner, oder? Muss man mehr sagen?
Man muss. Zehn Bände Spinnerei, das wäre auch für einen originellen Verlag wie zu Klampen, der sich dem Erbe der Kritischen Theorie verpflichtet fühlt, etwas zu viel des Guten. Versunken ist Ulrich Sonnemann, der vor zwölf Jahren starb, gewiss. Das „Dazwischensein als Aktivität”, wie er es nannte, brachte ihn auch zwischen die ideologischen Fronten, was einem festen Ort in der Erinnerungskultur nicht nützlich ist. Sein „Zumutbarkeiten”-Buch stand ein Jahr lang auf der Spiegel-Bestsellerliste, was ein bezeichnendes Licht auf die eigentümliche Bereitschaft der Epoche wirft, aus schwieriger Sprache einfache Forderungen zu gewinnen. Und doch taugte Sonnemann, trotz Werken wie „Institutionalismus und studentische Opposition” (1968), nicht zur Galionsfigur. Wenn die bei Suhrkamp im vergangenen Jahr erschienene Anthologie „1968. Eine Enzyklopädie” als Indikator der Kanonisierung solcher Figuren gelten kann, dann gehört er nicht dazu.
Als Denker, der alles Realsozialistische verachtete, „Gedächtnis- und Gewissensstärkung” statt Umsturz des Apparats forderte und schwer zugänglich in seiner „Negativen Anthropologie” von 1969 die „Einheit von Wahrheit und Wille” zum Ziel erklärte, war Sonnemann nichts für die Barrikaden. Zugleich blieb er seit seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil im Jahr 1955 (Sonnemann, jüdischer Herkunft, sprach von „Ablehnung, die endgültige Bestimmung meines Verhältnisses zu meinem Geburtsland den Nazis anheimzustellen”) in immer wacher Opposition zu den Zuständen der Republik. Politik, Philosophie und Psychologie verbindend, griff er die Justiz an, in der „Mörder die Pensionen von Richtern beziehen”, die Hochschulpolitik, die „Konsumwut” oder auch früh schon die Zerstörung des Waldes zugunsten von Fabriken „und immer dumpferen Vorstädten aus immer spießigeren Eigenheimchen”.
Die geistige Grundlegung dieser Analysen zeigt sich in diesem Band an einer Disziplin, die nicht gerade als Hauptinstrument der Aufklärung gilt: der Graphologie. Im Interesse dafür war Sonnemann schon als Heranwachsender im Berlin der zwanziger Jahre von Joseph Roth bestärkt worden, der mit seinem Vater, einem Journalisten, verkehrte. Das Lehrbuch der Handschriftenanalyse, das in Amerika einige Jahre erfolgreich war und hier erstmals auf deutsch erscheint, legte Sonnemann 1948 vor. In diesen Jahren, nach Tätigkeit als Psychologe für die US-Armee, lehrte er zeitweise am New Yorker City College, dann an der New School for Social Research ebendort und baute sich für einige Jahre eine psychotherapeutische Privatpraxis auf.. Sonnemanns Fähigkeiten, aus der Schrift auf die Person zu schließen, galten als außerordentlich. Er fertigte Schriftgutachen für Firmen und Versicherungen an. Es wird berichtet, er habe einen Architekten, der sein Leben lang lieber Musiker sein wollte, als eben solchen identifiziert. Auch sein Lehrbuch liest sich in der Mischung aus rationaler Klassifizierung und Divinatorik geradezu überraschend überzeugend.
Das Faszinierende ist dabei der ähnliche Gestus, mit dem Sonnemann Persönlichkeiten beschreibt und dann später als Graphologe der Gesamttextur des Gemeinwesens auftritt. In seinen Reflexionen legt Sonnemanns irrwitziger Stil auf syntaktisch oft fast unwegbarem Gelände immer wieder Preziosen von spukhafter Präzision frei, etwa in der Rede von „jenem milchglasartig trüben und blinden Ersatz, der seiner selbst spottend Weltanschauung heißt”.
Seinen Protest dagegen, „dass der Begriff der Vernunft sich maßlos erweitert”, kann wohl nur ein Seelenkenner so ernst und zugleich so heiter vorbringen, wie es Ulrich Sonnemann getan hat. Zur Ufo-Frage schrieb er: „Den fliegenden Untertassen fehlt es nicht an Erklärungen, sondern an Tassen. Da es den fliegenden Untertassen an Tassen fehlt, ist es an uns, diese beizustellen, sind es doch die, die wir unhöflicherweise im Schrank haben. Solange wir darauf beharren, werden umgetriebene kosmische Neugierige nach ihrem langen und riskanten Anflug es sich zweimal überlegen, ehe sie mit uns Tee trinken.” Der letzte Band der Sonnemann-Ausgabe soll im Herbst 2013 erscheinen. Mal sehen, wie viele Tassen wir dann noch im Schrank haben.
Ulrich Sonnemann
Graphologie. Handschrift als Spiegel. Irrationalismus im Wettstreit
Schriften in 10 Bänden, hrsg. von Paul Fiebig. Band 1. zu Klampen Verlag, Springe 2005. 447 Seiten, 32 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ulrich Sonnemann, fortan in neuer Werkausgabe zu lesen, deutete die Handschrift des Gemeinwesens. Für den Durchblick in einem dumpfen Land hielt er es für nötig, auch die Außerirdischen einzuladen
Versunkener, scheint es, könnte die Welt gar nicht sein, die hier wieder aufgetan werden soll. Sie hat dies gemein mit dem sagenhaften Atlantis, dessen vorurteilsfreie Erforschung der immer Einzeldenker gebliebene Ulrich Sonnemann anmahnte; liege doch wohl dort auf dem Meeresgrund, schrieb er 1988, mit 76 Jahren, „ein verdrängtes Trauma der Menschheit, die die vermutete Katastrophe wirklich erfahren hat, aber nicht verarbeiten konnte”. Mindestens so weit zurück wie jener prähistorische Untergang liegt uns Heutigen die Aufrüttelungsbotschaft, die seit 1963 an ein „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten” ausging von diesem Philosophen, Psychologen, Essayisten, für den es damals in Deutschland „gerade das Innerste ist, das zur Revolution jetzt aufgerufen wird”.
Wie sehr uraltbundesrepublikanisch klingt diese Klage, vorerst noch nur im vergilbten Rowohlt-Bändchen zu lesen, über das „Schlucken und Sich-Ducken” in einem Land „mit starrem Geplapper von der Freiheit, die in ihm instituiert ist, die seine Menschen aber nicht haben” - einem Land, das Sonnemann, ein Jahr später zur „Einübung des Ungehorsams” sich warmschreibend, durch „seelische Mobilisierung der Menschen” von seinem „geistigen und politischen Spontaneitätsmangel ohnegleichen” zu befreien anging.
Auch die vermischten Schriften, die Herausgeber Paul Fiebig unter der Überschrift „Das Irrationale” im hinteren Teil des ersten Bandes einer neuen, auf zehn Bände angelegten Werkausgabe zusammengeführt hat - auch diese Schriften sind, hört man ihre Stichworte, nicht dazu angetan, von zeitloser Zeitgenossenschaft und damit neuerlicher Editionswürdigkeit Ulrich Sonnemanns zu künden. Kämpft er doch in diesen Texten gegen eine „statusängstliche, scheuklappenbewehrte Wissenschaftsgläubigkeit” und bringt dafür einschlägig berüchtigte Beispiele wie: Hackethal, Ufos, Astrologie und eben Atlantis.
Da geht es mit beträchtlicher theoretischer Energie gegen einen immer noch durchdringenden kartesischen Rationalismus, der sich im Falle des fragwürdigen Krebs-Therapeuten Julius Hackethal an der „lynchartigen Abschlachtung einer abweichenden Lehrmeinung” zeige. Gegen die Belächelung der Berichte über Ufos, „obwohl die Zahl der gemeldeten Auftritte ständig steigt”, weswegen ein Ufo-Kongress an der Gesamthochschule Kassel zu empfehlen sei „unter ausdrücklicher Einladung nicht nur der Behörden, auch der Extraterrestrischen selber”. Gegen die „Berührungsscheu” vor dem Thema Astrologie. Gegen die Abwehr der Historizität von Atlantis, dessen Zerstörung „einen kollektiven Wiederholungszwang” zur Folge gehabt haben könnte, eine Erklärung der „gegenwärtigen Anfälligkeit für die Apokalypse”. Und insgesamt dagegen, „dass man ganze Themata tabuiert”. Kurzum: Ein Spinner, oder? Muss man mehr sagen?
Man muss. Zehn Bände Spinnerei, das wäre auch für einen originellen Verlag wie zu Klampen, der sich dem Erbe der Kritischen Theorie verpflichtet fühlt, etwas zu viel des Guten. Versunken ist Ulrich Sonnemann, der vor zwölf Jahren starb, gewiss. Das „Dazwischensein als Aktivität”, wie er es nannte, brachte ihn auch zwischen die ideologischen Fronten, was einem festen Ort in der Erinnerungskultur nicht nützlich ist. Sein „Zumutbarkeiten”-Buch stand ein Jahr lang auf der Spiegel-Bestsellerliste, was ein bezeichnendes Licht auf die eigentümliche Bereitschaft der Epoche wirft, aus schwieriger Sprache einfache Forderungen zu gewinnen. Und doch taugte Sonnemann, trotz Werken wie „Institutionalismus und studentische Opposition” (1968), nicht zur Galionsfigur. Wenn die bei Suhrkamp im vergangenen Jahr erschienene Anthologie „1968. Eine Enzyklopädie” als Indikator der Kanonisierung solcher Figuren gelten kann, dann gehört er nicht dazu.
Als Denker, der alles Realsozialistische verachtete, „Gedächtnis- und Gewissensstärkung” statt Umsturz des Apparats forderte und schwer zugänglich in seiner „Negativen Anthropologie” von 1969 die „Einheit von Wahrheit und Wille” zum Ziel erklärte, war Sonnemann nichts für die Barrikaden. Zugleich blieb er seit seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil im Jahr 1955 (Sonnemann, jüdischer Herkunft, sprach von „Ablehnung, die endgültige Bestimmung meines Verhältnisses zu meinem Geburtsland den Nazis anheimzustellen”) in immer wacher Opposition zu den Zuständen der Republik. Politik, Philosophie und Psychologie verbindend, griff er die Justiz an, in der „Mörder die Pensionen von Richtern beziehen”, die Hochschulpolitik, die „Konsumwut” oder auch früh schon die Zerstörung des Waldes zugunsten von Fabriken „und immer dumpferen Vorstädten aus immer spießigeren Eigenheimchen”.
Die geistige Grundlegung dieser Analysen zeigt sich in diesem Band an einer Disziplin, die nicht gerade als Hauptinstrument der Aufklärung gilt: der Graphologie. Im Interesse dafür war Sonnemann schon als Heranwachsender im Berlin der zwanziger Jahre von Joseph Roth bestärkt worden, der mit seinem Vater, einem Journalisten, verkehrte. Das Lehrbuch der Handschriftenanalyse, das in Amerika einige Jahre erfolgreich war und hier erstmals auf deutsch erscheint, legte Sonnemann 1948 vor. In diesen Jahren, nach Tätigkeit als Psychologe für die US-Armee, lehrte er zeitweise am New Yorker City College, dann an der New School for Social Research ebendort und baute sich für einige Jahre eine psychotherapeutische Privatpraxis auf.. Sonnemanns Fähigkeiten, aus der Schrift auf die Person zu schließen, galten als außerordentlich. Er fertigte Schriftgutachen für Firmen und Versicherungen an. Es wird berichtet, er habe einen Architekten, der sein Leben lang lieber Musiker sein wollte, als eben solchen identifiziert. Auch sein Lehrbuch liest sich in der Mischung aus rationaler Klassifizierung und Divinatorik geradezu überraschend überzeugend.
Das Faszinierende ist dabei der ähnliche Gestus, mit dem Sonnemann Persönlichkeiten beschreibt und dann später als Graphologe der Gesamttextur des Gemeinwesens auftritt. In seinen Reflexionen legt Sonnemanns irrwitziger Stil auf syntaktisch oft fast unwegbarem Gelände immer wieder Preziosen von spukhafter Präzision frei, etwa in der Rede von „jenem milchglasartig trüben und blinden Ersatz, der seiner selbst spottend Weltanschauung heißt”.
Seinen Protest dagegen, „dass der Begriff der Vernunft sich maßlos erweitert”, kann wohl nur ein Seelenkenner so ernst und zugleich so heiter vorbringen, wie es Ulrich Sonnemann getan hat. Zur Ufo-Frage schrieb er: „Den fliegenden Untertassen fehlt es nicht an Erklärungen, sondern an Tassen. Da es den fliegenden Untertassen an Tassen fehlt, ist es an uns, diese beizustellen, sind es doch die, die wir unhöflicherweise im Schrank haben. Solange wir darauf beharren, werden umgetriebene kosmische Neugierige nach ihrem langen und riskanten Anflug es sich zweimal überlegen, ehe sie mit uns Tee trinken.” Der letzte Band der Sonnemann-Ausgabe soll im Herbst 2013 erscheinen. Mal sehen, wie viele Tassen wir dann noch im Schrank haben.
Ulrich Sonnemann
Graphologie. Handschrift als Spiegel. Irrationalismus im Wettstreit
Schriften in 10 Bänden, hrsg. von Paul Fiebig. Band 1. zu Klampen Verlag, Springe 2005. 447 Seiten, 32 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
" Mehr als die Hälfte seiner Rezension verbringt Lorenz Jäger mit der gewiss nicht uninteressanten Rekapitulation der Geschichte der Graphologie. Von den neuen anthropologischen Entwürfen Max Schelers und Helmuth Plessners gerät er auf Walter Benjamin und völlig unvermeidlicherweise natürlich auf Ludwig Klages, der die Graphologie mit weitreichenden Folgen systematisiert hat. Auch für den Marxisten Ulrich Sonnemann ist der kulturpessimistische Konservative Klages ein Bezugspunkt, an dem er sich abarbeitet. Teils in "grundsätzlicher Kritik" (etwa an der "Lehre vom 'Geist' als Widersacher der 'Seele'"), teils aber auch in Übernahmen wichtiger Prinzipien, insbesondere der Idee des "Formniveaus". Damit wird jener entscheidende "Gesamteindruck" bezeichnet, den eine Schrift erweckt, bevor man sich der von diesem entweder positiven oder negativen Eindruck ausgehenden genaueren Analyse der Einzelmerkmale widmet. Jäger ist vom Gegenstand wie vom Buch offenkundig fasziniert, erwähnt aber einen Nachteil für den "praktischen Studenten der Graphologie": Leider finden sich in dem Band fast nur "amerikanische Handschriften, die ganz anderen ästhetischen Normen folgen als etwa französische oder deutsche."
© Perlentaucher Medien GmbH"
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