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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Hinter seinen Möglichkeiten: Min Jin Lees Roman "Gratisessen für Millionäre"
Als Assistentin bei einer Investmentfirma an der Wall Street erlebt Casey Han, wie sich die Banker mit siebenstelligen Jahresverdiensten auf ein kostenloses Buffet stürzen - je höher ihr Kontostand, desto voller laden sie sich die Teller. "Gratisessen für Millionäre" nennt ihr Kollege Hugh das und gibt damit dem bereits 2007 auf Englisch erschienenen Debütroman von Min Jin Lee den Titel. Casey schließt sich zunächst der Meinung ihres Vaters an, im Leben gebe es nichts umsonst.
Für den Vater, einen koreanischen Immigranten, der mit seiner Frau eine Wäscherei "in einem trostlosen Arbeiterviertel von Queens" betreibt, trifft das zu. Seine Tochter aber macht im Verlauf der Geschichte andere Erfahrungen, auch wenn sie ihr Glück nur in Ansätzen zu begreifen scheint. Dank wohlhabender Kontakte aus ihrem stipendienfinanzierten Studium und der Kirchengemeinde ihrer Eltern findet sie trotz eines Lebensstils, der weit über ihren Verhältnissen liegt, immer Bekannte, Freunde oder Partner, in deren Wohnungen sie kostenlos leben und deren Kleidung sie im Büro tragen kann. Hier und da springen noch eine geschenkte Rolex und das Angebot, in absehbarer Zeit ein florierendes Bekleidungsgeschäft zu übernehmen, heraus. So nachvollziehbar Caseys Gefühle ungerechter Benachteiligung angesichts ihrer eher bescheidenen Herkunft auch sind - sie schafft nie, ihren Blick für ihr eigenes Glück oder die Schwierigkeiten anderer zu weiten.
Das Angebot ihrer jahrelangen Chefin und Mentorin schlägt Casey aus, denn im Kern geht es um die Frage, was sie aus ihrem Leben machen will. Warum die Leitung einer Boutique der modeaffinen und luxussuchenden Casey nicht passt, bleibt vage - es scheint ihren Stolz zu verletzen. Mit ihrem Ivy-League-Abschluss und als Tochter koreanischer Einwanderer fühlt sie sich verpflichtet, Erfolg in der "unheiligen Dreifaltigkeit aus Jura, BWL und Medizin" zu haben. Dieses Ziel verfolgt sie mehr als achthundert Seiten lang, ohne dabei nennenswert voranzukommen oder sich ernsthafte Gedanken über Alternativen zu machen. Auf Seite 840 hat sie dann überraschend die Erkenntnis, ihr Hobby des Hutmachens zum Beruf machen zu wollen. Ob sie damit glücklich wird, obwohl Hüte schon in den Neunzigern, in denen das Buch spielt, kein Verkaufsschlager mehr waren und andere Figuren Caseys Kreationen sehr unterschiedlich bewerten, bleibt offen. Dabei zeigen Caseys enorme Schulden, dass das ein naiver Lebensentwurf ist.
Gegenüber dem Pragmatismus ihrer eingewanderten Arbeitereltern ist es außerdem eine sehr amerikanische Einstellung. Das große Figurenensemble verkörpert in verschiedenen Ausprägungen Konfliktlinien, zwischen denen Casey sich zu positionieren versucht. Wie wichtig ist ihr der Glaube, der das Leben ihrer Eltern prägt, bei ihren Kommilitonen und Arbeitskollegen aber keine Rolle spielt? Wo braucht sie Gemeinschaft (und welche), und wo sucht sie Individualismus? Wie prägt die Herkunft sie und andere Figuren mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten? Welche Rolle spielen eine wohlhabende Familie und selbst erarbeitetes Vermögen? Der Leser erhält immer wieder Einblick in die Gedanken so verschiedener Figuren wie etwa Caseys Freund Unu, geschiedener Koreaner aus wohlhabender Familie, der durch Spielsucht sein Vermögen verliert, ihrer Arbeitskollegin Delia, die reihenweise Affären mit Arbeitskollegen hat und schließlich den Ex-Mann von Caseys Freundin Ella heiratet, oder Caseys Mutter Leah, eine gottesfürchtige Einwanderin aus einfachen Verhältnissen. Das Ernüchternde daran ist, dass fast alle ihre Gedanken um eine Mischung aus Geld, Gott und Sex kreisen. Die vordergründig interessanten Figuren bleiben damit flach und bereichern die Geschichte weniger, als es möglich gewesen wäre. Ein kleineres Ensemble, dem mehr Tiefe zugestanden worden wäre, hätte mehr Raum zum Nachfühlen und Nachdenken eröffnet.
Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass emotionale Schlüsselszenen ganz fehlen und wichtige Eigenschaften nur dann erwähnt werden, wenn sie gerade nützlich erscheinen. So hat sich Casey von ihrem ersten Freund Jay getrennt, nachdem er sie mit zwei anderen Frauen betrogen hat. Als man das nächste Mal von ihnen liest, sind sie verlobt und wohnen zusammen. Casey löst die Verlobung jedoch auch, weil sie vor ihrem inneren Auge kein Bild einer Hochzeit oder gemeinsamen Zukunft sehen kann. Wichtige Lebensentscheidungen fällt sie angeblich anhand von Bildern, die ihr erscheinen. "Angeblich", denn trotz dieses markanten Entscheidungsmechanismus werden die Bilder nur noch ein weiteres Mal erwähnt. Eine stringente Charakterisierung der Hauptperson fehlt damit, und ihr emotionaler Zustand ist stellenweise schlecht nachvollziehbar.
Daneben schafft es außer Ella kaum eine Figur, im Verlauf der Geschichte zu wachsen. Sie immerhin trennt sich von ihrem manipulativen Ehemann, lernt, für die eigenen Wünsche einzustehen, und verliert dabei ihr gutmütiges Herz nicht. Andere Entwicklungen stehen nach knapp 850 Seiten gerade erst am Anfang - Leah etwa mit Schuldgefühlen bis hin zum Todeswunsch, weil sie durch ihren Chorleiter vergewaltigt wurde und sich deshalb als Ehebrecherin sieht. Man wüsste gerne, ob sie ihre Unschuld erkennen und ihren Frieden finden kann. So wirkt das Buch an einigen Stellen wie der Anfang einer längeren Reihe - obwohl der Inhalt schon jetzt den Umfang leider nicht rechtfertigt. SARA WAGENER
Min Jin Lee "Gratisessen für Millionäre". Roman.
Dtv, München 2023. 848 S., geb. 28,- Euro.
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