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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Bart Moeyaerts Novelle "Graz" führt uns ins Dunkle
Am Anfang steht ein absurdes Schuldgefühl. Ein junges Mädchen kommt vom Einkauf und stürzt mit dem Rad, reglos und mit verdrehten Gliedmaßen liegt es am Boden. "Zu meinem Entsetzen hatte schon jemand einen Strauß Rosen vor ihr niedergelegt. Dann musste ich mich über mich selbst ärgern, denn daneben lagen auch ein Netz Orangen, eine Packung Milch, ein in Plastik verpackter Kuchen, eine Schachtel Krapfen und ein Plastiksack, der nur nicht davonflog, weil noch etwas Schweres darin lag."
Der so denkt und irrt, heißt Hermann Eichler und ist der Erzähler und Protagonist von Bart Moeyaerts Novelle "Graz". Sein Irrtum ist insofern ungewöhnlich, als dass der Apotheker ansonsten als ein wacher und präziser Beobachter seiner Umgebung erscheint. Und aufmerksam ist er auch gegenüber seinen Kunden, die er nicht nur mit Pillen, Tabletten und Salben, sondern auch mit guten Ratschlägen und einem warmen Lächeln versorgt. Geht es aber darum, seine Empfindungen in Worte zu fassen, ja sie überhaupt erst zu fassen zu bekommen, scheitert er. Es muss erst ein Fremder kommen, der ihm sagt, dass er eine "arme suchende Seele" sei.
"Ich habe den Ruf, gut mit Menschen zu können. Ehrlich gesagt: Dieser Ruf ist mehr Schein." Der Mensch, mit dem er am wenigsten kann, ist Eichler selbst. Hinter dem harmlos-unauffälligen Äußeren des saturierten Apothekers verbirgt sich eine geschundene Persönlichkeit, geplagt von Einsamkeit und Unsicherheit. Als hätte er einen Fremden vor sich, betrachtet sich der Unberührte im Spiegel der Arzneischränke, mit seinen Blicken den Körper sezierend und das, was dahinter liegt. Die "Schwielen auf der Seele" sind über Jahre hinweg gewachsen, genährt von den eigenen elenden Erfahrungen und vom Elend der anderen. "Wenn man fortwährend von Elend hört, wogegen man nichts machen kann, muss all das Elend, das man gespeichert hat, in einem gewissen Moment irgendwo hin." Der Moment ist erreicht, als er sich für den Unfall des Mädchens verantwortlich macht, ob der vermeintlichen Schuld keinen Schlaf mehr findet und es ihn aus der Apotheke an der Ecke Leonhardstraße und Maiffredygasse hinaus in die Grazer Nacht drängt, hinaus ins Dunkle und Ungewisse.
Der Gang durch die winterlichen Straßen und Gassen ist auch ein Gang in die eigene Vergangenheit. Ins Hier und Jetzt der Erzählung mischen sich schmerzliche Erinnerungen an die verstorbenen Eltern, die ihrem Sohn neben der Apotheke auch allerlei seelische Lasten vermacht haben, an zurückliegende Enttäuschungen und Demütigungen, die Folgen bis in die Gegenwart zeitigen. Als infiziere die innere Unruhe des Protagonisten die Erzählung selbst, gerät auch die Sprache zunehmend ruhelos, verliert darüber aber nicht ihre Präzision, sondern wird nur intensiver, dringlicher. Nach und nach schwappt das Gefühl der uferlosen Verlorenheit so aus den Buchstaben und Sätzen über in die Gedanken des Lesers.
Dass Bart Moeyaert auch ausgezeichnete Lyrik geschrieben hat, lässt sich an manch gelungener Stelle dieser Novelle trefflich erahnen. Darauf, dass sich der Niederländer vor allem als Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern einen Namen machte, verweist hingegen auf den ersten Blick wenig - wäre da nicht das übergeordnete Motiv der Suche nach dem eigenen Selbst, das diese Novelle zu einer Art verspäteten Coming-of-Age-Geschichte macht.
Überhaupt ist einiges nicht so, wie es zunächst scheint, denn "mein Problem ist, dass ich vieles nacherzählen kann, aber nicht alles, wenn es um mich selbst geht". Das verlorene Treiben im Unabgeschlossenen und Ungefähren führt aber dazu, dass sich mit dem Erzähler auch der Leser immer wieder von vermeintlichen Gewissheiten verabschieden muss. So sieht das verunglückte Mädchen zwar aus wie eines, ist aber gar kein Mädchen, sondern hört auf den Namen Jochen. Und zu Carla, offenbar Eichlers einziger Freundin, entwickelt sich eben keine Liebesbeziehung. Die erotische Episode im Park, unter dem strengen Blick des Turnvaters Jahn, die im vorletzten Kapitel gleichsam den erzählerischen Höhepunkt der Novelle darstellt, muss ganz ohne die geheimnisvolle Fremde auskommen.
Carla taucht stattdessen am Ende der Novelle wieder auf, tröstet den Einsamen und spricht ihm Mut zu. Beim nächsten Mal, so der verhalten hoffnungsvolle Ausklang, wird alles besser: "Und das nächste Mal werden wir gefunden." Noch die letzten Sätze sind von jener leisen Melancholie durchzogen, die Bart Moeyaerts Prosadebüt für Erwachsene zum bemerkenswerten, gänzlich unprätentiösen Stück Literatur machen.
MARKUS HUBER.
Bart Moeyaert: "Graz". Novelle.
Luftschachtverlag, Wien 2013. 111 S., geb., 16,90 [Euro].
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