'His novels will endure as long as the language itself' Peter Ackroyd
Dickens's haunting late novel depicts the education and development of a young man, Pip, as his life is changed by a series of events - a terrifying encounter with an escaped convict in a graveyard on the wild Kent marshes; a summons to meet the bitter, decaying Miss Havisham and her beautiful, cold-hearted ward Estella; the sudden generosity of a mysterious benefactor - and he discovers the true nature of his 'great expectations'. This definitive edition includes appendices on Dickens's original ending, giving an illuminating glimpse into a great novelist at work.
With an Introduction by DAVID TROTTER
Edited and with notes by CHARLOTTE MITCHELL
Dickens's haunting late novel depicts the education and development of a young man, Pip, as his life is changed by a series of events - a terrifying encounter with an escaped convict in a graveyard on the wild Kent marshes; a summons to meet the bitter, decaying Miss Havisham and her beautiful, cold-hearted ward Estella; the sudden generosity of a mysterious benefactor - and he discovers the true nature of his 'great expectations'. This definitive edition includes appendices on Dickens's original ending, giving an illuminating glimpse into a great novelist at work.
With an Introduction by DAVID TROTTER
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2011Im Paradies der Untoten
Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen.
Von Markus Gasser
Es war, als hätte sein Vater im gewundenen Innern einer Muschel das Meer erblicken können. Das Dachzimmerfenster ging auf einen Friedhof hinaus, über die nebligen Marschen hinweg sah er die schwarzen Sträflingsschiffe in der dunstigen Themse vor Anker liegen, und während ihrer Spaziergänge von Gravesend nach Rochester zeigte ihm sein Vater jedes Mal den Herrensitz auf dem Hügel fernab und stellte ihm einen großen Traum in Aussicht, dem Charles Dickens zeitlebens unterworfen blieb: Wenn er sehr hart arbeite, werde er eines Tages vielleicht einmal dort wohnen können. Nach oft erniedrigenden Widrigkeiten - sein Vater eingesperrt im Schuldnergefängnis Marshalsea, Dickens zwölfjährig dazu gezwungen, zunächst als Lohnsklave in einer Schuhpoliturfabrik und dann als Kanzleischreiber sich beinah zu Tode zu arbeiten - und zehn Romane später verbrachte er sein letztes Jahrzehnt dann auch wirklich in jenem Gad's Hill Place, Kent, wo er auch "Große Erwartungen" schrieb und sein Anwesen zu Miss Havishams Spukschloss Satis House eindüstern ließ.
Wenn Autoren Menschen sind, an die nichts verlorengeht und die nur leben, um davon zu erzählen, war Dickens der Schriftsteller schlechthin. Seinem Vater im Schuldnergefängnis begegnen wir in "Little Dorrit" wieder, der Schuhcremefabrik in "David Copperfield" und in den "Großen Erwartungen" dem Luftschloss vom Erfolg, das Dickens für sich in Wirklichkeit verwandeln konnte wie kein anderer Romancier der Weltliteratur sonst.
Sein Triumph ging fast schon zu weit. Nachdem er in den letzten Kapiteln seines "Kuriositätenladens" - sie erschienen in Fortsetzungen und endeten je zum Verzweifeln packend - die engelhafte Waise Nelly in immer kehlenzuschnürendere Bedrängnis verstrickt hatte, flehten ihn selbst Adelige auf offener Straße an, doch bitte das Leben Klein Nells zu schonen, als wäre es das ihre, und Menschenmassen ballten sich am Hafen New Yorks, um die Reisenden aus England zu fragen, ob Nell denn nun gestorben sei. Erst durch die selten düstere "Geschichte von zwei Städten" hätte Dickens 1859 seine Beliebtheit beinahe verspielt, und so ging er mit Philip "Pip" Pirrips Lebensbericht "Große Erwartungen" wie zum letzten Mal aufs Ganze.
Auf dem Friedhof nahe Gad's Hill Place servierte er zu jener Zeit seinen Freunden - ganz Kellner, amüsiert servil, eine Serviette überm Arm - ein Picknick neben dreizehn Gräbern: von Geschwistern, die alle im Kindesalter gestorben waren. Gleich dreizehn tote Kinder nebeneinander auf einem Friedhof mochte dem Publikum etwas unwahrscheinlich vorkommen - doch was hieß das schon im Märchenland der Literatur? Es war, zugegeben, paradox: Die Lüge der Erfindung musste immer überzeugender erscheinen als die Wirklichkeit, und so waren es bloß fünf Geschwister, die der Erzähler Pip zu Beginn des Romans zu beklagen hat. Ein Waisenkind, buchstabiert er sich vom Grabstein seiner Eltern Name und Identität zusammen, als hätten Wesen aus dem Gespensterreich ihn getauft, deren Emissäre hinter jeder Ecke der "Großen Erwartungen" lauern: Untote, als wäre dieser Roman ihr Paradies, und Märchengestalten wie der Riese Abel Magwitch, "witch" und "magician", Hexer und Zauberer also schon dem Namen nach, ein entsprungener Sträfling, der Pip auf dem Friedhof im Marschland von Dickens' Kindheit am Weihnachtsabend androht, seine Eingeweide zu verspeisen, wenn er für sein Fußeisen keine Feile bei seinem Onkel, dem gutmütig biederen Dorfschmied Joe Gargery, besorgt.
Einst sah der kleine Dickens "die Verrückte von Oxford Street" ganz in Weiß und leichenbleich durch den winterlichen Schnee stapfen und in diesem Anblick das Ende seiner Kindheit: Hexisch böser noch als Magwitch erscheint Pip denn auch die stets brautweiß gewandete Miss Havisham, die ihn in den gruftartigen Bann des prachtvoll verfallenden Satis House lockt, das Gelobte Land der Spinnen, Schatten, des Staubs, wo Havisham die Hochzeitstafel samt Kuchen gedeckt und alle Uhren anhalten ließ, da ihr Bräutigam auf einmal verschwunden war.
Pip steht das Herz fast still, als er Miss Havisham erstmals zu Gesicht bekommt: "Damals hatte ich noch nicht davon gehört, dass bisweilen Leichname gefunden werden, die in uralten Zeiten begraben wurden und die in dem Augenblick, in dem man sie zu sehen bekommt, zu Staub zerfallen; doch seitdem dachte ich oft, dass Miss Havisham ausgesehen haben muss, als hätte das Eindringen des natürlichen Tageslichts sie unweigerlich in Staub verwandelt." So liest sich die berühmte Vampirpassage der "Großen Erwartungen" in der virtuosen Neuübertragung von Melanie Walz, die dieses Kap Hoorn von einem Roman derart natürlich gemeistert hat, als stünde sie mit Dickens in spiritistischem Kontakt: Eleganter, akkurater und bildkräftiger, in der Satzführung fließender und dem umgangssprachlichen Ton Pips gemäßer als die Übertragung von Margit Meyer 1977 oder die oft einfach sachlich ungenaue Ulrike Jung-Grells von 1993, die mit allzu vielen Substantiven Pips Stil manchmal ungelenk im Beamtenen verkümmern lässt: "Ich wusste damals noch nichts von den Beobachtungen, die man gelegentlich an den im Altertum bestatteten Leichnamen macht - die in dem Moment, da sie den Blicken zugänglich werden, zu Staub zerfallen. Doch seither habe ich oft darüber nachgedacht, dass sie ausgesehen haben muss, als würde sie beim ersten Schimmer natürlichen Lichts zu Asche werden."
Miss Havisham verzieht ihre Adoptivtochter Estella - Wiedergängerin jener Ellen Ternan, für die Dickens eben seine Gattin verlassen hatte - zu einer Eisprinzessin, die an ihrer statt Rache an allen Männern nehmen soll, indem sie ihnen mit der verlässlichen Mechanik einer Guillotine ihr Leben zerstört. Pip ist dafür die Testperson, verliebt sich unvermeidlich in Estella und bleibt ihr treuestes Opfer: Er glaubt sich schicksalhaft für sie bestimmt.
Was für ein Vergnügen es doch ist, Schulden machen zu können, die wie von Zauberhand sogleich beglichen werden; doch auch wenn Pip, plötzlich kraft eines anonymen Gönners in Besitz eines riesigen Vermögens, in London die Wonnen der Faulheit reuelos auszuleben lernt, so sind diese nunmehr erfüllten "großen Erwartungen" ein Fluch, weil sie nicht auf harter Arbeit gründen wie in Dickens' eigener Biographie und weil Pip sie zuletzt jemand ganz anderem zu danken hat als Miss Havisham. Nur wem? Um dies zu erraten, braucht es keinen Edgar Allan Poe, der jeden Romanverlauf seines "Old King Charles" bis ins Detail vorherzusehen wusste. Da sich Dickens jedoch für keinen Schluss entscheiden konnte, gibt es hier gleich deren zwei, zwielichtig beide, und es ist im Grunde einerlei, welchen davon man höher schätzt: In einer glücklichen Ehe mit Estella kann man sich Pip ebenso wenig denken wie Hamlet auf dem dänischen Thron mit Königin Ophelia an seiner Seite. Doch dass der Schatten Miss Havishams aus dem Jenseits auch weiterhin über ihrer beider Dasein herrschen wird, dürfte für Dickens ausgemacht gewesen sein.
Damit hatte er so ungefähr erreicht, was die Leute von ihm lesen wollten, und gerade die akademische Welt hat gegen diesen Roman die wenigsten Einwendungen erhoben - zumal er sich vorderhand so bereitwillig in den Begriffskerker "Bildungsroman" sperren ließ, der dieses Werk so wenig ist wie Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein Kriminalroman. Denn wer glaubt allen Ernstes Pips haltlosen Selbstanwürfen? Er ist kein Wilhelm Meister, ist wie Oliver Twist von Anfang an fast verloren und wie die meisten von uns mehr wert, als er von sich selbst denkt - was jede seiner Verirrungen vorab entschuldbar macht. Geld korrumpiert, simple, selbstgenügsame Menschen wie Joe Gargery kommen fraglos in den Himmel, und die dümmsten Fehler sind immer die, die man am leichtesten begehen kann: Sollte es den "Großen Erwartungen" lediglich um diese schlichte Moral zu tun sein, hätten statt der siebenhundert Seiten auch sieben Essayzeilen genügt.
So ist dieser Roman vielleicht der spannendste, aber beileibe nicht der ganze Dickens. Und er selbst wusste es. Wo war darin der Großintrigant, der Drahtzieher im Verborgenen, wo der Killer, der im Rußregen Londons seine Bösewichte - oft Tiere in Menschengestalt - mit genugtuerischer Sorgfalt um die Ecke brachte, wo der Anarchist, der in wütendem Weltgroll so viele staatliche Institutionen zu beleidigen suchte, wie er nur irgend konnte, der die Güte übertreiben musste, weil er das Böse im Menschen unerträglich fand, wo war der Tränenrührer, um keine Plausibilität bekümmert, der Menschen mit einer Gelassenheit bestaunen konnte, als verstünde er die ganze Welt? Erst drei Jahre nach den "Großen Erwartungen" holte er sich in "Unserem gemeinsamen Freund" wieder selber ein und erlaubte es uns zum letzten Mal, den Roman nicht nur als Kunst zu erleben, sondern als Leidenschaft, und mit ihm Arm in Arm durch ein Universum zu vagabundieren, das ein lachender und gütiger Gott ersonnen hat: Traum eines jeden wahren Lesers, ein alter, bald vergessener, unauslöschlicher Traum.
Charles Dickens: "Große Erwartungen". Roman.
Herausgegeben und aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2011. 832 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch heute ist Charles Dickens der populärste Romancier Großbritanniens. Jetzt lässt die Neuübersetzung seiner "Großen Erwartungen" von Melanie Walz sein Geheimnis erahnen.
Von Markus Gasser
Es war, als hätte sein Vater im gewundenen Innern einer Muschel das Meer erblicken können. Das Dachzimmerfenster ging auf einen Friedhof hinaus, über die nebligen Marschen hinweg sah er die schwarzen Sträflingsschiffe in der dunstigen Themse vor Anker liegen, und während ihrer Spaziergänge von Gravesend nach Rochester zeigte ihm sein Vater jedes Mal den Herrensitz auf dem Hügel fernab und stellte ihm einen großen Traum in Aussicht, dem Charles Dickens zeitlebens unterworfen blieb: Wenn er sehr hart arbeite, werde er eines Tages vielleicht einmal dort wohnen können. Nach oft erniedrigenden Widrigkeiten - sein Vater eingesperrt im Schuldnergefängnis Marshalsea, Dickens zwölfjährig dazu gezwungen, zunächst als Lohnsklave in einer Schuhpoliturfabrik und dann als Kanzleischreiber sich beinah zu Tode zu arbeiten - und zehn Romane später verbrachte er sein letztes Jahrzehnt dann auch wirklich in jenem Gad's Hill Place, Kent, wo er auch "Große Erwartungen" schrieb und sein Anwesen zu Miss Havishams Spukschloss Satis House eindüstern ließ.
Wenn Autoren Menschen sind, an die nichts verlorengeht und die nur leben, um davon zu erzählen, war Dickens der Schriftsteller schlechthin. Seinem Vater im Schuldnergefängnis begegnen wir in "Little Dorrit" wieder, der Schuhcremefabrik in "David Copperfield" und in den "Großen Erwartungen" dem Luftschloss vom Erfolg, das Dickens für sich in Wirklichkeit verwandeln konnte wie kein anderer Romancier der Weltliteratur sonst.
Sein Triumph ging fast schon zu weit. Nachdem er in den letzten Kapiteln seines "Kuriositätenladens" - sie erschienen in Fortsetzungen und endeten je zum Verzweifeln packend - die engelhafte Waise Nelly in immer kehlenzuschnürendere Bedrängnis verstrickt hatte, flehten ihn selbst Adelige auf offener Straße an, doch bitte das Leben Klein Nells zu schonen, als wäre es das ihre, und Menschenmassen ballten sich am Hafen New Yorks, um die Reisenden aus England zu fragen, ob Nell denn nun gestorben sei. Erst durch die selten düstere "Geschichte von zwei Städten" hätte Dickens 1859 seine Beliebtheit beinahe verspielt, und so ging er mit Philip "Pip" Pirrips Lebensbericht "Große Erwartungen" wie zum letzten Mal aufs Ganze.
Auf dem Friedhof nahe Gad's Hill Place servierte er zu jener Zeit seinen Freunden - ganz Kellner, amüsiert servil, eine Serviette überm Arm - ein Picknick neben dreizehn Gräbern: von Geschwistern, die alle im Kindesalter gestorben waren. Gleich dreizehn tote Kinder nebeneinander auf einem Friedhof mochte dem Publikum etwas unwahrscheinlich vorkommen - doch was hieß das schon im Märchenland der Literatur? Es war, zugegeben, paradox: Die Lüge der Erfindung musste immer überzeugender erscheinen als die Wirklichkeit, und so waren es bloß fünf Geschwister, die der Erzähler Pip zu Beginn des Romans zu beklagen hat. Ein Waisenkind, buchstabiert er sich vom Grabstein seiner Eltern Name und Identität zusammen, als hätten Wesen aus dem Gespensterreich ihn getauft, deren Emissäre hinter jeder Ecke der "Großen Erwartungen" lauern: Untote, als wäre dieser Roman ihr Paradies, und Märchengestalten wie der Riese Abel Magwitch, "witch" und "magician", Hexer und Zauberer also schon dem Namen nach, ein entsprungener Sträfling, der Pip auf dem Friedhof im Marschland von Dickens' Kindheit am Weihnachtsabend androht, seine Eingeweide zu verspeisen, wenn er für sein Fußeisen keine Feile bei seinem Onkel, dem gutmütig biederen Dorfschmied Joe Gargery, besorgt.
Einst sah der kleine Dickens "die Verrückte von Oxford Street" ganz in Weiß und leichenbleich durch den winterlichen Schnee stapfen und in diesem Anblick das Ende seiner Kindheit: Hexisch böser noch als Magwitch erscheint Pip denn auch die stets brautweiß gewandete Miss Havisham, die ihn in den gruftartigen Bann des prachtvoll verfallenden Satis House lockt, das Gelobte Land der Spinnen, Schatten, des Staubs, wo Havisham die Hochzeitstafel samt Kuchen gedeckt und alle Uhren anhalten ließ, da ihr Bräutigam auf einmal verschwunden war.
Pip steht das Herz fast still, als er Miss Havisham erstmals zu Gesicht bekommt: "Damals hatte ich noch nicht davon gehört, dass bisweilen Leichname gefunden werden, die in uralten Zeiten begraben wurden und die in dem Augenblick, in dem man sie zu sehen bekommt, zu Staub zerfallen; doch seitdem dachte ich oft, dass Miss Havisham ausgesehen haben muss, als hätte das Eindringen des natürlichen Tageslichts sie unweigerlich in Staub verwandelt." So liest sich die berühmte Vampirpassage der "Großen Erwartungen" in der virtuosen Neuübertragung von Melanie Walz, die dieses Kap Hoorn von einem Roman derart natürlich gemeistert hat, als stünde sie mit Dickens in spiritistischem Kontakt: Eleganter, akkurater und bildkräftiger, in der Satzführung fließender und dem umgangssprachlichen Ton Pips gemäßer als die Übertragung von Margit Meyer 1977 oder die oft einfach sachlich ungenaue Ulrike Jung-Grells von 1993, die mit allzu vielen Substantiven Pips Stil manchmal ungelenk im Beamtenen verkümmern lässt: "Ich wusste damals noch nichts von den Beobachtungen, die man gelegentlich an den im Altertum bestatteten Leichnamen macht - die in dem Moment, da sie den Blicken zugänglich werden, zu Staub zerfallen. Doch seither habe ich oft darüber nachgedacht, dass sie ausgesehen haben muss, als würde sie beim ersten Schimmer natürlichen Lichts zu Asche werden."
Miss Havisham verzieht ihre Adoptivtochter Estella - Wiedergängerin jener Ellen Ternan, für die Dickens eben seine Gattin verlassen hatte - zu einer Eisprinzessin, die an ihrer statt Rache an allen Männern nehmen soll, indem sie ihnen mit der verlässlichen Mechanik einer Guillotine ihr Leben zerstört. Pip ist dafür die Testperson, verliebt sich unvermeidlich in Estella und bleibt ihr treuestes Opfer: Er glaubt sich schicksalhaft für sie bestimmt.
Was für ein Vergnügen es doch ist, Schulden machen zu können, die wie von Zauberhand sogleich beglichen werden; doch auch wenn Pip, plötzlich kraft eines anonymen Gönners in Besitz eines riesigen Vermögens, in London die Wonnen der Faulheit reuelos auszuleben lernt, so sind diese nunmehr erfüllten "großen Erwartungen" ein Fluch, weil sie nicht auf harter Arbeit gründen wie in Dickens' eigener Biographie und weil Pip sie zuletzt jemand ganz anderem zu danken hat als Miss Havisham. Nur wem? Um dies zu erraten, braucht es keinen Edgar Allan Poe, der jeden Romanverlauf seines "Old King Charles" bis ins Detail vorherzusehen wusste. Da sich Dickens jedoch für keinen Schluss entscheiden konnte, gibt es hier gleich deren zwei, zwielichtig beide, und es ist im Grunde einerlei, welchen davon man höher schätzt: In einer glücklichen Ehe mit Estella kann man sich Pip ebenso wenig denken wie Hamlet auf dem dänischen Thron mit Königin Ophelia an seiner Seite. Doch dass der Schatten Miss Havishams aus dem Jenseits auch weiterhin über ihrer beider Dasein herrschen wird, dürfte für Dickens ausgemacht gewesen sein.
Damit hatte er so ungefähr erreicht, was die Leute von ihm lesen wollten, und gerade die akademische Welt hat gegen diesen Roman die wenigsten Einwendungen erhoben - zumal er sich vorderhand so bereitwillig in den Begriffskerker "Bildungsroman" sperren ließ, der dieses Werk so wenig ist wie Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein Kriminalroman. Denn wer glaubt allen Ernstes Pips haltlosen Selbstanwürfen? Er ist kein Wilhelm Meister, ist wie Oliver Twist von Anfang an fast verloren und wie die meisten von uns mehr wert, als er von sich selbst denkt - was jede seiner Verirrungen vorab entschuldbar macht. Geld korrumpiert, simple, selbstgenügsame Menschen wie Joe Gargery kommen fraglos in den Himmel, und die dümmsten Fehler sind immer die, die man am leichtesten begehen kann: Sollte es den "Großen Erwartungen" lediglich um diese schlichte Moral zu tun sein, hätten statt der siebenhundert Seiten auch sieben Essayzeilen genügt.
So ist dieser Roman vielleicht der spannendste, aber beileibe nicht der ganze Dickens. Und er selbst wusste es. Wo war darin der Großintrigant, der Drahtzieher im Verborgenen, wo der Killer, der im Rußregen Londons seine Bösewichte - oft Tiere in Menschengestalt - mit genugtuerischer Sorgfalt um die Ecke brachte, wo der Anarchist, der in wütendem Weltgroll so viele staatliche Institutionen zu beleidigen suchte, wie er nur irgend konnte, der die Güte übertreiben musste, weil er das Böse im Menschen unerträglich fand, wo war der Tränenrührer, um keine Plausibilität bekümmert, der Menschen mit einer Gelassenheit bestaunen konnte, als verstünde er die ganze Welt? Erst drei Jahre nach den "Großen Erwartungen" holte er sich in "Unserem gemeinsamen Freund" wieder selber ein und erlaubte es uns zum letzten Mal, den Roman nicht nur als Kunst zu erleben, sondern als Leidenschaft, und mit ihm Arm in Arm durch ein Universum zu vagabundieren, das ein lachender und gütiger Gott ersonnen hat: Traum eines jeden wahren Lesers, ein alter, bald vergessener, unauslöschlicher Traum.
Charles Dickens: "Große Erwartungen". Roman.
Herausgegeben und aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München 2011. 832 S., geb., 34,90 [Euro].
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